9783869135038.jpg

 

 

Krimi-Logo_sr.jpg 

 

 

Tatort Franken

No. 6

 

 

 

 

 

 

 

ars vivendi

 

Dank

 

Der ars vivendi verlag bedankt sich sehr herzlich: bei den Teil­nehmern am Fränkischen Krimipreis 2015 für die vielen spannenden Beiträge, bei der Jury für ihren großen Einsatz und bei den ­Nürn­berger Nachrichten für die gute Zusammenarbeit.

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage Mai 2015)

 

© 2015 by ars vivendi verlag

GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Textnachweise

»Am Kanal« von Tommie Goerz

erschien erstmals in: Tommie Goerz,

Der Tod kommt schnell, Cadolzburg 2015

»Die Jagd nach dem Kunigunden-Rubin«

von Thomas Kastura erschien erstmals in:

Thomas Kastura, Fünf Leichen zu viel,

Cadolzburg 2015

 

Umschlaggestaltung: Silke Klemt

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-569-4

 

Inhalt

 

Helwig Arenz

Spiel und Spaß

 

Sigrun Arenz

Bäume

 

Veit Bronnenmeyer

Der Elvis von Bad Suppengrün

 

Theobald Fuchs

Die Sau, der Wirt und das Marderloch

 

Tommie Goerz

Am Kanal

 

Thomas Kastura

Die Jagd nach dem Kunigunden-Rubin

 

Dirk Kruse

Die schöne Unbekannte

 

Hans Kurz

Ein fast perfekter Plan

 

Killen McNeill

Gabi wartet im Park

 

Petra Nacke

Bernsteinauge

 

Horst Prosch

Abendlied mit E.Mu.

 

Jeff Röckelein

Standgericht

 

Roland Spranger

C

 

 

Fränkischer Krimipreis 2015: Gewinnerbeiträge

 

Georg Körner

Das Grab, so kühl und nass

 

Christiane Schuster

Steinschlag

 

 

Die Autoren

 

Helwig Arenz

Spiel und Spaß

»Seit wann bist du wieder draußen?«, fragte Isa.

Wie oft sollte ich diese Frage in den kommenden Wochen noch hören! »Seit Dezember«, antwortete ich.

»Und seit wann bist du wieder hier?«

»Seit Montag.«

Isa war an der Stadtgrenze zugestiegen, und nun hatten wir Zeit bis zur Maximilianstraße, um unser Wiedersehen gebührend zu feiern. Sie sah gut aus. War wohl noch nicht lange her, dass sie beim Friseur gewesen war. Ich wollte ihr durch die Haare fahren, weil sie so frisch und sauber aussahen, aber sie ließ mich nicht, lehnte sich heftig zurück.

»Ey, ne!«, rief sie. Ich lachte. Es machte mir nichts, ich war einfach nur gut gelaunt. Die U-Bahn sauste mitten hinein ins gleißende Sonnenlicht. Mit so einer kosmischen Vergoldung sah sogar Muggenhof toll aus. Ich sog jeden Anblick gierig in mein Hirn. Die letzten Monate war es immer andersherum gewesen: Ich saß da in meiner Zelle, meinem »Zimmer«, wie ich es lieber nannte, und schaute nach draußen. Draußen bewegte sich alles, der Regnitzarm floss frei und glitzernd dahin, nur ich saß fest. Eine kleine Lebenspause, eine angeordnete Portion Nichts. Leider kriegt man die Zeit, die man untätig rumsitzt und überlegt, wie man sich am schlauesten aufhängt, nicht zurück. Also wollte ich jetzt umso mehr!

»Und was hast du jetzt vor?«, unterbrach Isa meine Gedanken.

»Viel!«, rief ich und lachte, »viel!«

Ich verabredete mich mit Isa auf einen Kaffee »demnächst mal«, und schon fegte sie aus der U-Bahn und war auf und davon.

Geil, dachte ich, Isa! Es war ziemlich fremd zwischen uns, das spürte ich schon. Zweimal hatte sie mir nur geschrieben, aber sie hatte heute so was Frisches und Starkes im Gesicht, da wollte ich immer hinfassen. Wenn sie mich doch gelassen hätte!

Wann hatten wir uns zum letzten Mal gesehen? Ach ja, genau, erinnerte ich mich und musste lachen. Ich lachte einfach wie blöde laut auf, und es war mir scheißegal, wie die dummen Fürther Fressen glotzten. Es war ja auch zum Schießen!

»Isa, ich geh Brötchen holen!«, hatte ich zu ihr gesagt. Da hatten wir noch zusammengewohnt, und ich war noch warm von ihrem Körper am Morgen im Bett. »Ich geh Brötchen holen«, und dann war ich einfach nicht wiedergekommen. Wie in einem schlechten Film. Dumme Sache das. Ich hatte es gemacht wie all die Male zuvor. War in mein Auto gestiegen, war nach Bamberg gefahren zu einer der Bäckereien, die ich mir ausgesucht hatte. Dann warten, schön bis keine Leute mehr da waren und die Kasse richtig voll war. Und dann bin ich rein. Höflich war ich immer gewesen, da kann mir keiner was ans Bein flicken!

»Guten Tag, das ist ein Überfall«, hatte ich gesagt. Dann hatte ich die Plastiktüte auf den Tresen gelegt und die Dame gebeten, sie vollzumachen. Es waren immer Damen, darauf achtete ich. Manchmal, wenn ich übermütig war und es gut lief, habe ich mir noch ein Croissant dazupacken lassen. »Ach, ich meine natürlich ein Bamberger, Entschuldigung.«

Ich kam mit recht wenig Requisiten aus: Pfefferspray, das ich noch nie benutzt hatte, und eine Schreckschusspistole. Tüte und Maske nicht zu vergessen. Das lief eine Weile gut. Ich kam mit tausend bis tausendfünfhundert Euro davon, die Damen mit dem Schrecken. Bis auf dieses eine verfluchte Mal! Da hatte ich die Scheißtüte liegen gelassen, weil ein Kunde reingekommen war. Ich war abgehauen, aber die hatten ja meine ganzen Biodaten von früher! Und die Frau im Laden hat mich später wiedererkannt.

»Ich bin ausgebildete Friseurin«, hat sie ganz eingebildet zu Protokoll gegeben, »ich habe ein Auge für Gesichter!« Und dieses Scheißauge für Gesichter hat mich dermaßen zu Fall gebracht, das kann ich gar nicht sagen. Vier verdammte Jahre wegen bewaffneten Raubüberfalls. Und Isa? Die hat gewartet. Dann hat sie angerufen. Dann hat sie sich selber Brötchen geholt – auf die herkömmliche Weise –, und dann, ja dann hat sie einen Riesenärger mit der Polizei gehabt, meinetwegen. Wir haben uns nicht wiedergesehen. Bis zu dem Tag in der U-Bahn.

Aber das ist ja nur die Vorgeschichte. Es geht noch weiter, und zwar heftig. Ich bin nämlich dann auch aus der U-Bahn gestiegen und schön hoch zum Jobcenter. Da musste ich brav meine Anträge stellen und nicken und lächeln und hoffen, dass für A–F kein Wichser zuständig war. Aber man geht einfach nicht an einem Ersten des Monats zum Arbeitsamt, das wissen doch schon die Anfänger! Alles voller gescheiterter Existenzen, die bis auf die Straße hinaus Schlange stehen, und die Sachbearbeiter haben zerfetzte Nerven.

Nachdem mir also von behördlicher Seite klargemacht worden war, dass ich mir mein Leben von jetzt an ­gefälligst ins geputzte Arschloch stecken könne, stand ich da und sah meine ganze gute Laune im Abfluss versickern.

 

Es sind dann in der nächsten Zeit noch so ein paar dumme Sachen passiert, die mir meine Lebensaussichten doch ein wenig getrübt haben, aber schön der Reihe nach. Erst mal habe ich am Mittwoch meine Mutter getroffen. Wir saßen im Stadtparkcafé, das hatte sie immer so gemocht. Ich erzählte ihr ein bisschen von mir.

»Ach Junge, wohnst du jetzt wieder hier?«, fragte sie und lächelte mich fahrig an. Ihr Gesicht war fahl und recht alt geworden in der ganzen Zeit, die wir uns nicht mehr gesehen hatten. Aber das war nicht das Schlimmste!

»Ich hab jetzt eine schöne Wohnung in der Südstadt«, erzählte ich. »Wenn du die Waldstraße hinterfährst und dann zu Edeka. Da noch ein Stück weiter, wo die ganzen Spielhallen sind.« Sie sagte nichts. Sie reagierte nicht. Sie blickte auf die Uhr, eine wirre, weiße Strähne fiel ihr auf die Nase, dann fragte sie nervös: »Kriegen wir hier auch was zu trinken?«

»Du hast eben bestellt, Mama!«, rief ich. Das stimmte. Tee für sie, Kaffee für mich (koffeinfrei). Sie fragte mich nach meiner Freundin.

»Das hab ich dir doch eben erzählt«, schrie ich sie an, »Isa und ich sind schon lange nicht mehr zusammen!«

»Wohnst du jetzt hier?«

Und da begriff ich es langsam. Ich sah meine Mutter an. Wie sie dasaß, klein und zerbrechlich, zu klein für den unansehnlichen Mantel, den sie trug, zu dünn für den Stuhl, auf dem sie saß, als wollte sie weniger und weniger werden, als wollte ihr Körper die Erde, diese schwere, einsame, immer weniger und weniger berühren. Als wäre sie schon bald ganz woanders.

»Wie geht’s dir denn?«, fragte ich nach einer Weile leise und mit einem Kloß im Hals.

»Ach, es geht so dahin.«

Ich fragte sie aus, was sie denn mache den lieben langen Tag lang, und das, was sie aus ihrem Alltag erzählte, klang haargenau so wie das, was ich über den Alltag in der JVA erzählen würde. Nichts zu tun, rumsitzen, keiner besucht einen. Aber das Leben! Wo war das Leben in ihrer Stimme? Ich sah in ihre Augen und suchte den Glanz, der dort einst gewesen war. Aber diese Augen waren nicht mehr da, diese Augen gab es nicht mehr.

Ich war recht wortkarg den Rest unseres Treffens über. Ich fragte noch dies und das und wünschte, mein Stuhl stünde tausend Meter weiter weg von dieser Tischkante, von dieser verschmierten Tasse Tee, die sie immer wieder selbstvergessen mit mehr und mehr Zucker vollschüttete. Als wir gingen, hatte sie keinen Schluck getrunken. Ich legte den Arm um ihre knochigen Schultern und führte sie aus dem Café. Schweigend und langsam gingen wir zum Bahnhof, wo ich sie in den Bus steigen ließ, der sie nach Hause bringen würde, und ich hatte keine Ahnung, ob sie wusste, wo sie würde aussteigen müssen und wo es dann hinging. Ich hätte sie begleiten sollen, aber ich stand einfach da. Starr und schwer, unendlich schwer, und dachte nur: Ich halte das nicht aus. Als der Bus verschwunden war, war ich froh. Ich war froh, dass sie weg war.

 

Herr im Himmel, dachte ich abends. Ich wünschte, meine Mutter würde jetzt in einer U-Bahn sitzen, in einer U-Bahn, die keine Schienen braucht, keinen Strom, die einfach abhebt und durch die Luft saust, immer weiter nach oben, bis hinein in die Wolken, bis in den Himmel, bis in das große Unbekannte. Und da säße ihr irgendwer gegenüber. Jemand, der ihr auf die Schultern klopfen und sie mit fester Stimme fragen würde: »Und, seit wann bist du draußen?«

Und sie würde lachen und mit leuchtenden Augen sagen: »Seit ein paar Tagen. Das da unten hat mir nicht mehr so gefallen.«

Und dann würde dieser andere fragen: »Und was hast du jetzt vor?«, und meine Mutter würde lachen und antworten: »Viel, viel!«, und dann würde sie sich die Haarsträhne aus dem Gesicht wischen, die ihr auf die Nase gefallen war – mit einer energischen Geste, wie früher –, und zufrieden lächeln. Einfach dasitzen und lächeln.

 

Ich machte kurz darauf wieder einen Überfall und versuchte auch, Isa noch mal zu treffen. Dabei hätte ich mich fast aus ihrem Fenster gestürzt. Aber alles schön der Reihe nach.

 

Ich habe mich nicht sehr lange vorbereitet. Pfefferspray und Gaspistole waren nicht schwer zu besorgen. Aber nur keine Bäckereien mehr! Nur das nicht. Brotloses Handwerk. Nein, ich war sauer, richtig sauer. Auf das Leben, auf meine Mutter, die einfach irgendwohin verschwunden war, während ich weg gewesen war, und auf Isa, weil sie sich einfach nicht bei mir meldete. Spaß und Spiel!, dachte ich immer wieder. Das Leben ist Spaß und Spiel.

Ich machte das Licht in meiner Wohnung nicht an, ich hatte keine Lust auf Licht. Saß da und trank eine Dose Bier nach der anderen, bis ich so richtig in Stimmung war. Die Plastiktüte und das übrige Zeug lagen neben mir, ich griff mir meine Sachen – sie fühlten sich vertraut an in meinen feuchten Händen – und lief los, durch die großen, lauten Straßen. Ich ging langsam und genoss die Schatten, trat in sie hinein und ging in ihnen noch langsamer und nahm so viel von ihrer Finsternis in mich auf, wie ich konnte. Da vorne war es hell. Die Leuchtreklame einer Spielhalle hackte grelle Blitze in meine Schwärze. Penetrantes Licht, das sich in meine Augen drückte und dort fast wehtat. Das war mir Zeichen genug, da ging ich hinein. Es waren nicht viele Leute da, hinter einem Tresen stand ein Typ. Mist, ein Typ war es diesmal.

»Wann macht ihr zu?«, fragte ich ihn. Der Mann war recht groß und kräftig gebaut. Aber seine Augenbrauen waren dicht und lieb. Irgendwie lieb.

»Bis drei kannste noch!«, nuschelte er und beugte sich sofort wieder über sein Smartphone. Also ging ich raus und wartete zwanzig Minuten. Vier Gäste hatte ich gesehen, die zusammengesunken vor ihren Automaten gehangen hatten. Vier schlurfende Gestalten sah ich hi­naus in die Nacht treten und sich in der Dunkelheit verlieren. Dann ging ich rein.

»Mach keinen Scheiß, das ist ein Überfall!«, schrie ich und rannte auf den Tresen zu. Ließ ihn meine Pistole sehen und wedelte mit dem Pfefferspray.

»Runter auf den Boden, du Drecksau!«, schrie ich. Höflich, nein, höflich war ich nicht mehr. Der Typ stand gar nicht hinter dem Tresen, wo ich ihn erwartet hatte. Er stand rechts von mir an einem Automaten. Ich war eine Sekunde lang verwirrt, das nutzte er aus. Er sprang auf mich zu und fuchtelte mit den Armen in der Luft herum und brüllte. Ich wich zurück. Vergaß, die Pistole zu benutzen, mein Finger tastete nach dem Druckkopf des Sprays, aber für den Arsch, es klappte nicht. Ich bekam direkt noch einen Tritt ans Knie, einen zaghaften zwar, einen lächerlichen, aber das war’s. Das war mir zu viel; wer hätte so viel Engagement von so einem Scheißfuzzi erwartet? Nein, das war ein Umgang, den ich nicht gewöhnt war von meinen Überfällen. Ich machte ganz schnell kehrt und verschwand und hastete die Straßen entlang, die sich übereinanderlegten und mir ihre Leere anboten, ihre Bedeutungslosigkeit, die mich aufnahm. Ich versteckte mich in ihr, ich rannte und rannte und rannte, obwohl gar niemand hinter mir war. Rannte, bis ich nicht mehr konnte und irgendwo zusammenbrach, zwischen den Fabriken, auf einem wertlosen Baugrund, der sich wunderbar anbot, um auf ihm über alles nachzudenken. Das tat ich.

 

Und eine Stunde später ging der Fight in die zweite Runde. Mit einem kaputten Schuh – ich hatte mir tatsächlich einen Absatz abgefetzt – hechelte ich nach Hause. Zum Duschen hatte ich keine Zeit, aber ich setzte mich an den Küchentisch und trank Kaffee, einen halben Liter fast, echten Kaffee, bis ich mich richtig gesund fühlte. Aß einen Toast, der Aufschnitt war leider vergammelt. Und lachte in mich hinein.

Denn jetzt war mir alles klar. Ich wusste genau, was zu tun war. Es klingt ein bisschen wie eine Wiederholung, aber so war es eben. Ich griff mir meine Tüte, das Spray, die Pistole und machte mich zum zweiten Mal auf den Weg. Gutes Timing hatte ich, das muss man mir lassen. Die Spurensicherung war gerade abgezogen. Ich sah noch die roten Rücklichter des letzten Polizeiwagens, der eben von der Spielhalle wegfuhr und um die Ecke brauste. Nichts mehr zu tun, alles erledigt, Kollegen. Ob sie sich über meinen missglückten Überfall amüsierten? Na, wenn schon! Morgen würde ihnen das Lachen im Hals stecken bleiben.

»Guten Tag, ich bin’s wieder!«, rief ich laut und fröhlich, als ich in die Halle trat. Der Typ hatte seine Jacke angezogen, stand hinter der Kasse am Tresen und wollte nun endlich Feierabend machen. Aber heute nicht.

»Spiel und Spaß!«, rief ich, ging zu ihm hin, sprühte ihm eine Ladung Gewürze ins Gesicht und schlug mit der Faust vorsichtshalber noch mal nach.

»Hat ja vorhin nicht so recht geklappt, mach mal die Kasse auf, jetzt, wir wollen alle heim!« Der Typ war so perplex, dass er am Anfang sogar vergaß zu heulen und sich die Nase zu halten. Aber dann kam das schon. Er kniete sich hin und wimmerte und bettelte irgendwas.

»Hör auf zu nuscheln, du Scheiße!«, schrie ich, »Kasse auf!« Das machte er. Tastete sich mit den blutigen Händen an den Apparaten entlang, bis er die Kasse fand, das Geldfach rauslöste und in die Luft hielt.

»Hier bin ich, Trottel!«, rief ich und langte nach der Kassette. Sie war schwer und fett.

»Haben wir beide heute ein gutes Geschäft gemacht, was?«, sagte ich, klopfte ihm auf die Schulter und verließ den Tatort.

 

Einen Tag machte ich Pause, so um mir den Kopf wieder geradezurücken – ich mach das ja auch nicht alle Tage –, und dann fuhr ich zu Isas alter Wohnung.

Ich klingelte, aber sie war nicht da.

»Isa! Isa!« Ich stand unten im Hof und rief zu ihrem Fenster hinauf. Manchmal machte sie nicht auf, wenn sie nicht wusste, wer klingelte. Ist gar nicht so dumm eigentlich. Aber diesmal nichts. Nur Stille. Also ich die Treppen rauf und geklopft. Ich wartete dann eine Zeit lang im Treppenhaus, aber es passierte gar nichts, außer dass ich plötzlich trübe Laune bekam. Also schloss ich einfach auf und ging rein. Den Schlüssel hatte ich ihr nie zurückgegeben.

Die Wohnung war klein und sauber. Man kam direkt vom Treppenhaus ins Wohnzimmer, ohne Flur oder Diele. Da stand ihr ganzes Zeug rum – so wie früher! Und ich kam mir auf einmal vor wie in einem Museum, in einem Museum meines Lebens. Ich kannte das alles ja, kannte jeden Winkel, jeden Schrank, jede Schramme. Und überall war ich noch. Ich im Spiegel. Ich in den Laken. Ich in den feuchten Teebeuteln, die auf der Spüle lagen. Ich in der halb offenen Schublade, aus der ein Sockenzipfel hing. Ich, ich und wieder ich.

Meine Augen drückten in meinen Kopf. Ich legte ein Bündel Geldscheine in die Tasse ganz hinten in der Vi­trine, nicht so viel, dass sie misstrauisch werden würde, nur ein bisschen. Damit sie sich etwas kaufen konnte, was sie brauchte, oder mehr heizen im Winter oder essen gehen. Und dann wollte ich heimfahren. Aber ich konnte nicht weg, konnte nicht aus der Wohnung. Sie hielt mich fest, es war zu viel von mir noch darin. Also versuchte ich mich fortzuwischen von den Dingen. Versuchte mich abzuschaben von der Spüle, mich wegzustreicheln von den Laken, mich abzulösen von dem Spiegel. Danach stand ich auf dem Teppich und sah in meine Hände. Sie waren leer. Das war also alles, was hier von mir übrig war. Eine Handvoll Nichts.

Ich drehte mir eine Zigarette, öffnete das Fenster, wie ich es schon tausendmal zuvor getan hatte, und setzte mich aufs Fensterbrett. Sah hinunter. Ein ganzes Leben weit unter mir war der Hof. Kahl und weiß gekalkt machte er ein kleines Becken voller Nichts zwischen die Häuser. Wie um mir zu sagen, dass ich genau dahin gehörte, da hinunter zwischen die Mülltonnen. Ich schickte Rauchfähnchen in den grauen Himmel, sog mir ein ganz klein wenig Ruhe in die Lungen und spielte andauernd mit dem Gedanken, mich dabei so zu entspannen, dass ich einfach hinunterkippte. Aber wenn ich in mich hineinhorchte, wenn ich ganz still war, hatte ich doch den Eindruck, mein Leben fühlte sich irgendwie wertvoll an. Wenn man genau hinschaut, entdeckt man immer etwas Schönes. Auf einmal ging die Tür unten auf, und eine Gestalt humpelte über den Hof. In einem verknitterten Trenchcoat, den ich gut kannte, und obendrauf ein blonder Schopf, den ich auch kannte.

»Warum humpelst du?«, rief ich Isa an.

»Was machst du in meiner Wohnung?«, schrie sie zurück. Als sie oben war, schlug sie mir auf die Füße, bis ich von der Fensterbank sprang.

»Du gibst mir diesen Scheißschlüssel zurück!«, schrie sie mich an. »Du schuldest mir hunderttausend frische Brötchen! Was denkst du eigentlich, einfach so zu verschwinden?« Dann sah sie mich böse an und schüttelte mürrisch den Kopf. Ich musste lachen.

Wir einigten uns auf ein Bier. Dann ging ich heim. Zum Abschied fuhr ich ihr mit der Hand durch die Haare. Immerhin.