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Ben Lyttleton

Elf Meter

Die Kunst des perfekten Strafstoßes

VERLAG DIE WERKSTATT

ABC in Liebe gewidmet

Aus dem Englischen von Olaf Bentkämper.

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel Twelve Yards. The Art and Psychology of the Perfect Penalty bei Bantam Press, London.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright © Ben Lyttleton 2014
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe:
2015 Verlag Die Werkstatt GmbH
Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen
www.werkstatt-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Verlag Die Werkstatt

ISBN 978-3-7307-0185-0

Prolog

Shay Given war noch nie ein Mann vieler Worte, und als er 20 war, waren es sogar noch weniger. Der Torhüter war damals gerade zu Newcastle United gewechselt, und ich reiste nach Dublin, um ihn vor seinem Debüt für den Klub, einem Freundschaftsspiel gegen PSV Eindhoven, zu interviewen. Er war ein bisschen nervös vor seinem ersten Auftritt, denn in der Vorsaison war er von Blackburn an Newcastles Erzrivalen Sunderland ausgeliehen worden. Der mögliche Gegner zum Abschluss des Vorbereitungsturniers an der Lansdowne Road war sein erster Verein, Celtic Glasgow.

Ich gestand ihm, dass ich ebenfalls nervös war. Sein Handschuhhersteller hatte für mich die Teilnahme an einem Elfmeterschießen in der Halbzeitpause arrangiert. Im Tor würde niemand Geringerer stehen als Pat „Packie“ Bonner. Der Ire war eine Legende und spielte damals noch bei Celtic, weswegen Given sich ja auch anderweitig hatte umschauen müssen. Vor allem mit einer Parade hatte sich der 80-fache irische Nationaltorwart unsterblich gemacht: einem Hechtsprung nach rechts, mit dem er bei der WM 1990 im Elfmeterschießen gegen Rumänien den Schuss des Verteidigers Daniel Timofte parierte. Dieser Moment sollte Bonners Leben für immer verändern: Als David O’Leary anschließend verwandelte, erreichte Irland zum ersten (und bisher einzigen) Mal in seiner Geschichte das Viertelfinale einer WM.

Given horchte auf: „Ah, du schießt einen Elfmeter gegen Packie. Na dann, viel Glück – du wirst es brauchen.“

Anscheinend hatte ich ihn ein wenig von seiner Nervosität ablenken können. Umgekehrt war das aber keineswegs der Fall.

„Dann gib mir einen Rat“, bettelte ich. „Was soll ich machen?“

„Vor allem darfst du dich nicht umentscheiden. Leg dich auf eine Ecke fest, und bleib dabei. Und lass dich auf keine albernen Spielchen ein. Die Psychomasche zieht bei Packie nicht.“

Als es so weit war, versuchte ich mich an Givens Worte zu erinnern. Newcastle lag zur Halbzeit mit 2:1 vorn, aber ich hatte vom Spiel kaum etwas mitbekommen. Als die Mannschaften in die Kabine gingen, stand ich neben dem Spielertunnel und versuchte, Given auf mich aufmerksam zu machen. Das klappte nicht. Mein Kopf war vollkommen leer. Hatte er mir geraten, mich umzuentscheiden oder gerade nicht? Sollte ich es mit Psychotricks versuchen oder nicht? Mir wurde ganz flau, und ich war noch nicht mal auf dem Platz.

Ich tröstete mich damit, dass es ja nur ein Freundschaftsspiel war und höchstens 25.000 Fans an die Lansdowne Road gekommen waren. Außerdem war Halbzeit, und die meisten holten sich eine Tasse Tee, gingen aufs Klo oder blätterten in der Stadionzeitung. Aber das war ein Irrtum. Bonner war, wie gesagt, eine Legende, und viele Zuschauer waren ebenso sehr seinetwegen gekommen wie wegen des Spiels. Ich war ziemlich erstaunt, als einer meiner Kontrahenten (drei Spieler traten gegen Bonner an) gnadenlos ausgepfiffen wurde, als er den Ball auf den Elfmeterpunkt legte. Die Fans hinter dem Tor versuchten, ihn durch allerlei Sperenzchen aus dem Konzept zu bringen. Einer ließ sogar die Hosen runter und präsentierte uns seinen blanken Hintern. Aber es nützte nichts: Mein Gegner blieb cool, nahm einen langen Anlauf und schoss den Ball flach und hart in die rechte untere Ecke. Tor.

Ich war als Nächster dran. Ich versuchte, ebenfalls cool zu bleiben, und legte den Ball in aller Ruhe auf den Punkt. Ich ging drei Schritte zurück und schaute auf. Tief durchatmen. Das Tor sah ziemlich groß aus. Aber Bonner auch. Noch einmal tief durchatmen. Ich hatte mir vor kurzem noch einmal das Elfmeterschießen gegen Rumänien angesehen und bemerkt, dass Bonner immer dann nach rechts sprang, wenn ein Spieler einen kurzen Anlauf nahm. Das ergab Sinn: Um bei einem kurzen Anlauf Kraft hinter den Schuss zu bekommen, schießt ein Spieler eher auf seine natürliche Seite, sprich: Ein Rechtsfüßer würde die von ihm aus gesehen linke Ecke anvisieren.

Noch einmal durchatmen, ein kleiner Hopser, und los ging’s. Zunächst machte ich einen Schritt nach links, um den Anlaufwinkel zu vergrößern. Dann rannte ich drei Schritte und traf den Ball sauber mit dem Vollspann. Ich sehe noch die leichte Rotation des Balles, der Richtung Innenseite des Seitennetzes flog, das ideale Ziel für einen Schützen. Bonner hatte zuerst einen Schritt nach rechts gemacht und war auf dem falschen Fuß. Ich hatte Packie Bonner auf dem falschen Fuß erwischt! Noch dazu im eigenen Stadion! Ich wollte Given unbedingt davon erzählen und fragte mich, ob er in der Kabine auf einem Monitor zugesehen hatte.

Das Drama war noch nicht vorbei. Mein letzter Kontrahent hatte verschossen, und ich musste noch einmal antreten, um im Wettbewerb zu verbleiben. Meine Einstellung war jetzt eine ganz andere. Statt nervöser Anspannung verspürte ich nun Zuversicht. Die Zuversicht wich wiederum anmaßender Arroganz. Ich wusste, ich würde auch diesmal treffen. Bonner war einfach nicht mehr der Teufelskerl, der er mal gewesen war, er würde mich nicht durchschauen. Ich hatte ihn da, wo ich ihn haben wollte. Und jetzt würde ich ihm, vor den Augen seiner treuesten Fans, zeigen, wo der Hammer hängt.

Diesmal wählte ich einen geraden, etwas längeren Anlauf. Das suggerierte einen kraftvollen Schuss auf Bonners rechte Seite. Stattdessen wollte ich den Ball in die Mitte chippen, wie einst Antonín Panenka bei seinem legendären Tor gegen Sepp Maier im EM-Finale von 1976 – das erste und bisher einzige Mal, dass Deutschland ein Elfmeterschießen verlor. Ich erfuhr erst später, dass Panenka zwei Jahre lang an diesem einen Schuss gefeilt hatte: an der Täuschung, dem Anlauf, wie er den Ball traf und der Schussgeschwindigkeit. Ich hingegen hatte ihn kein einziges Mal geübt.

Das sah man dann auch. Schon beim Anlauf geriet alles durcheinander, mein linker Fuß war zu weit weg vom Ball, um ihn zu schießen, und als ich noch einen Schritt machte, kam ich ins Straucheln. Ich geriet über den Ball und brachte nicht mehr als ein jämmerliches Schüsschen mit rechts zustande. Der Ball rollte kläglich Richtung Tormitte direkt auf Bonner zu. Hätte der ihn nicht aufgenommen, hätte es der Ball wahrscheinlich nicht einmal über die Linie geschafft. Das war mein Ikarus-Moment. Nicht Bonner, sondern ich selbst war vorgeführt worden. Ich hörte nicht mal die Menge johlen, pfeifen oder lachen. Vermutlich tat ich den Leuten einfach nur leid. Das machte die Sache nicht gerade besser.

Innerhalb von nur fünf Minuten hatte ich durchlebt, welchen Ruhm und welches Leid ein Elfmeter mit sich bringen kann. Ich realisierte, dass mehr hinter dem Duell zwischen Torhüter und Schützen steckt, als ich geahnt hatte: Körpersprache, wie man den Ball zurechtlegt, Blickkontakt, Anlaufwinkel – und das sind nur die Dinge, die man sieht, bevor der Ball geschossen wird. Ich hatte den mentalen Kampf unterschätzt, den man weniger mit dem Keeper als mit sich selbst auszutragen hat. Und natürlich hatte ich es als waschechter Engländer nicht für nötig gehalten, vorher anständig zu trainieren. Ja nun, bei mir zu Hause im Garten hätte ich ja wohl kaum den Druck und die Atmosphäre nachstellen können, oder?

Nicht, dass ich es nicht versucht hätte. Die meisten meiner fußballbezogenen Kindheitserinnerungen drehen sich, zumindest was das aktive Spiel angeht, um Elfmeter. Ich verbrachte endlose Stunden damit, daheim Elfmeter zu schießen, und zwar mit einem Schaumstoffball auf die Heizung. Im Geiste wählte ich zwei Mannschaften aus, nominierte je fünf Schützen und spielte dann ein Elfmeterschießen durch. Bei den richtigen Spielen am Wochenende beurteilte ich die Akteure dann immer danach, wie sie sich bei meinen heimischen Turnieren geschlagen hatten. Als ich älter wurde, verlagerte ich das Spiel in den Park oder in die Wohnungen meiner Freunde. Es galten die gleichen Regeln, mit ausgedachten Spielern, aber jetzt mit einem Torwart, den man überwinden musste. Aufgrund meines Trainings mit dem Schaumstoffball wähnte ich mich klar im Vorteil – aber es reichte nicht ganz, um Bonner zweimal zu schlagen.

Nach dem Spiel traf ich mich kurz mit Given und gratulierte ihm zu seinem Debüt. (Von der zweiten Halbzeit hatte ich sogar noch weniger mitbekommen als von der ersten, weil ich zu sehr damit beschäftigt war, meinen Moment der Schande immer wieder im Kopf durchzuspielen. Ich hatte mir aber sagen lassen, dass er gut gespielt habe. Ich redete mir ein, dass Bonner den ersten absichtlich reingelassen und ich mich eigentlich schon beim Anlauf verraten hatte. Das glaube ich immer noch, gräme mich deswegen aber nicht mehr.) Er fragte, wie es gelaufen sei, und ich verzog keine Miene.

„Jau, ganz gut, danke“, antwortete ich. „Einen habe ich versenkt, den anderen hat Packie gehalten, bin also ganz zufrieden.“

„Gut gemacht“, sagte Given.

Ich hoffte inständig, dass er nicht doch am Monitor zugesehen hatte.

Fast auf den Tag genau 13 Jahre später schaute ich das Finale der WM 2010 zwischen Spanien und den Niederlanden. Spanien war die bessere Mannschaft und hatte den Sieg verdient, aber ich hoffte insgeheim, dass sich die Holländer irgendwie ins Elfmeterschießen retten würden. Warum? Ich hatte inzwischen eine Consultingfirma namens Soccernomics mitbegründet, und wir arbeiteten mit Ignacio Palacios-Huerta zusammen, einem Professor für Spieltheorie an der London School of Economics. Palacios-Huerta hatte 1999 eine Abhandlung mit dem Titel Professionals Play Minimax geschrieben, die auch heute noch als wegweisende Studie über Elfmeter gilt.

Mittels Regressionsanalyse ist Palacios-Huerta in der Lage, Muster und Tendenzen in den Elfmetergewohnheiten von Schützen und Torhütern zu ermitteln. Wenn die meisten Elfmeter, sagen wir 70 Prozent, auf die natürliche Seite des Schützen geschossen werden – die vom Schützen aus gesehen linke Ecke bei Rechtsfüßern, die rechte Ecke bei Linksfüßern –, so kann er den Spieler ausfindig machen, der nur 60 Prozent seiner Versuche auf die natürliche Seite schießt. Das ist an sich schon hilfreich, aber noch viel nützlicher ist seine Fähigkeit, bestimmte Muster aufzuspüren: Diego Forlán, Copa-América-Gewinner mit Uruguay, schießt links, dann rechts, dann wieder links. WM-Rekordtorschütze Miroslav Klose schießt immer auf die gleiche Seite, sofern der Spielstand torlos ist. Frank Lampards Strategie hängt davon ab, ob er es mit einem Torhüter zu tun hat, den er aus der englischen Nationalmannschaft kennt.

Mehrere Mannschaften hatten sich im Vorfeld der WM an Soccernomics gewandt. Eine ging mit einer vollständigen Analyse von Palacios-Huerta in ein K.-o.-Spiel, verlor aber in der regulären Spielzeit (Strafstöße hatte es im Match keine gegeben). Ein anderer Teilnehmer bat 24 Stunden vor dem Anpfiff um einen umfassenden Elfmeter-Bericht, Palacios-Huerta braucht aber drei Tage, um sämtliche Daten für neue Teams auszuwerten. Die Anfrage kam also zu kurzfristig. Die Mannschaft schied ebenfalls in der regulären Spielzeit aus.

Vor dem Finale traten wir an den niederländischen Verband heran, und er bekundete Interesse an einer Analyse. Palacios-Huerta, selbst Spanier, lieferte einen Bericht über seine Landsleute ab, und die Holländer waren begeistert. „Wir waren sehr beeindruckt“, sagte Torwart Ruud Hesp. „Der Bericht verschaffte uns wertvolle zusätzliche Informationen und Analysen über jeden einzelnen Spieler.“

Vor dem Ende der Verlängerung waren zwei der sichersten Elfmeterschützen der Spanier, Xabi Alonso und David Villa, ausgewechselt worden. Am Ende stand mit Fernando Torres nur ein Spanier auf dem Platz, der in seiner Karriere mehr als fünf Elfmeter geschossen hatte (allerdings alle für Atlético Madrid und keinen für Liverpool, wo Torres damals schon drei Jahre spielte). Der Bericht zeigte, dass Spieler, die nur selten Elfmeter schießen, vorwiegend ihre natürliche Seite wählen. Andererseits tendierte Torres dazu, auf seine nicht-natürliche Seite zu schießen. Spaniens Torhüter Iker Casillas sprang überdurchschnittlich oft auf die natürliche Seite, wodurch sich die Chancen der Spieler erhöhten, die die nicht-natürliche Seite anvisierten. Außerdem war er bei bisher 59 Elfmetern gegen sich kein einziges Mal in der Mitte stehen geblieben.

Kein Wunder also, dass es auf der holländischen Bank lange Gesichter gab, als Andrés Iniesta vier Minuten vor dem Ende der Verlängerung zum 1:0 traf. Nach dem Spiel meinten die Holländer, dass sie sicher gewesen seien, das Elfmeterschießen und damit ihren ersten WM-Titel zu gewinnen. Und das, obwohl sie seit langem als Elfmeter-Versager galten. Schließlich sind sie bis heute die einzige Nation, die es fertiggebracht hat, fünf Elfmeter in einem einzigen Turnierspiel zu vergeben: beim irrsinnigen EM-Halbfinale 2000 gegen Italien.

Für die Holländer blieb die Analyse somit wertlos. Für eine andere Mannschaft aber könnte sie in einem anderen wichtigen Match den Unterschied machen. Elfmeter gehören seit jeher zum Fußball, aber weil sie scheinbar so simpel sind, wird ihre Bedeutung häufig unterschätzt. Schließlich sollte es für Profifußballer, die jeden Tag trainieren und spielen, kein Problem sein, aus elf Metern ein 7,32 Meter breites und 2,44 Meter hohes Tor zu treffen. Aber allzu oft ist es eben doch ein Problem, und das macht das Duell vom Punkt so faszinierend.

Dieses Buch versucht, eine einfache Frage zu beantworten: Wie verwandelt – oder hält – man einen Elfmeter? Um sie zu beantworten, muss man zunächst einmal herausfinden, warum bestimmte Mannschaften oder Spieler überhaupt scheitern. Ich habe die Gründe für das Scheitern dieser Mannschaften und Spieler unter die Lupe genommen und bin auf innovative Lösungen gestoßen, zukünftige Fehlschläge zu vermeiden. Die meiste Freude bereitete mir die Tatsache, dass Elfmeter trotz der ihnen innewohnenden Grausamkeit von aller Welt geliebt werden. Jeder Spieler und jeder Fan hat eine Elfmetergeschichte zu erzählen, über den besten, den schlechtesten, den nicht gegebenen, den zu Unrecht gegebenen. Seien wir ehrlich: Wir haben alle schon mal eine Verlängerung gesehen und insgeheim gehofft, dass keine weiteren Tore mehr fallen, um einen dramatischen Showdown vom Punkt erleben zu können. Der Elfmeter ist Fußball in Reinkultur: Es gibt nur Schütze, Torwart und Ball. Sonst nichts. Eine Prüfung für Technik und Nerven. Es ist die Essenz des Spiels, Fußball in seiner elementarsten Form. Aber selbst dann ist er alles andere als simpel.

Die Elfmeter, über die ich in diesem Buch schreibe, wurden berücksichtigt, weil sie eine Geschichte erzählen über Historie, Kultur oder Taktik des Duells vom Punkt. Falls Ihr Lieblings-Elfmeter nicht dabei ist, keine Sorge: Besuchen Sie die Website www.facebook.com/twelveyards und stimmen Sie für denjenigen ab, der Ihnen am meisten bedeutet. Dort können Sie sich außerdem Videos der hier behandelten Elfmeter anschauen.

Ich möchte allen Spielern, Torhütern, Trainern, Wissenschaftlern und Athleten aus anderen Sportarten danken, die sich Zeit für mich nahmen und mir halfen, zu verstehen, worauf es beim Elfmeterschießen ankommt. Ich glaube, würde ich heute noch einmal gegen Packie Bonner antreten, er hätte nicht den Hauch einer Chance.

Kapitel 1

Die englische Krankheit

Ich habe England ein Elfmeterschießen gewinnen sehen. Ich war am 22. Juni 1996 im Wembley-Stadion dabei, als England im Viertelfinale der Europameisterschaft Spanien im Elfmeterschießen mit 4:2 besiegte. Hätte ich doch damals schon gewusst, was ich heute weiß: dass England seine nächsten fünf Elfmeterschießen verlieren würde; dass Spieler scheitern würden, die regelmäßig Elfmeter schießen, ebenso wie Spieler, die nie Elfmeter schießen; dass namhafte wie unbekannte Spieler scheitern würden; dass Verteidiger, Mittelfeldspieler und Stürmer scheitern würden. Damals war es ja „nur“ ein Viertelfinale gegen Spanien. Ach, hätte ich es bloß gewusst, hätte es irgendeiner von uns gewusst.

Stattdessen verlor England vier Tage später gegen Deutschland, mal wieder im Elfmeterschießen. Immerhin waren sie diesmal nah dran gewesen: Sie verwandelten die ersten vier Schüsse, das machte dann inklusive des Spiels gegen Spanien neun verwandelte Elfmeter in Folge. Zwei Jahre später, bei der WM 1998 in Frankreich, unterlag England im Elfmeterschießen gegen Argentinien, bei der EM 2004 und der WM 2006 jeweils gegen Portugal. Bei der EM 2012 scheiterten sie an Italien.

Inzwischen fürchten die Engländer bei einem großen Turnier nichts so sehr wie ein Elfmeterschießen. Es ist schon so weit gekommen, dass manche Gegner von vornherein nur auf das Elfmeterschießen aus sind, weil sie wissen, dass sie dann psychologisch im Vorteil sind. Obwohl die Protagonisten sich änderten – so standen bei den fünf genannten Niederlagen im Elfmeterschießen vier verschiedene Keeper im Kasten –, war das Ergebnis stets das gleiche. Und die Ausreden ... Na ja, die waren letztlich auch immer die gleichen:

1990: „Das Wichtigste ist, dass die Mannschaft gut gespielt hat. Letztendlich konnte uns aus dem Spiel heraus keiner schlagen.“ (Bobby Robson)

1996: „Ich war überrascht, dass der Trainer mich als Schützen nominiert hat. Ich habe nie Elfmeter trainiert und in meinem ganzen Leben erst einen geschossen, und der ging auch daneben.“ (Gareth Southgate)

1998: „Man kann die Bedingungen eines Elfmeterschießens nicht im Training simulieren.“ (Glenn Hoddle)

2004: „Letztlich wurde das Spiel vom Elfmeterpunkt entschieden. Wenn es so weit kommt, ist es eine reine Lotterie.“ (Gary Neville)

2006: „Wir haben ganz viel Elfmeterschießen trainiert, ich weiß nicht, was wir sonst noch hätten tun können. Wir haben so viel geübt, fast jeden Tag, aber letztlich waren wir dem Druck nicht gewachsen.“ (Sven-Göran Eriksson)

2006: „Du kannst Elfmeter trainieren bis zum Abwinken, was wir ja auch während des ganzen Turniers getan haben, aber es ist eben nicht dasselbe.“ (Wayne Rooney)

2012: „Das ganze Training hat uns letztlich nicht viel gebracht. Vielleicht ist es Schicksal, dass wir keine Elfmeterschießen gewinnen können, aber ... man kann die müden Beine nicht simulieren. Man kann den Druck nicht simulieren. Man kann die nervöse Anspannung nicht simulieren.“ (Roy Hodgson)

Ich für meinen Teil habe die Nase voll davon, England ständig im Elfmeterschießen verlieren zu sehen. Mir wäre es lieber, sie würden einfach in der regulären Spielzeit oder Verlängerung scheitern.1 Ich wollte herausfinden, warum England in schöner Regelmäßigkeit versagt und was man tun müsste, um das zu ändern. Aber als Allererstes musste ich wissen, was die Engländer bis dahin falsch gemacht hatten. Ich ging erst einmal davon aus, dass sie wohl zu viele Elfmeter verschossen und ihre Torhüter zu wenige gehalten hatten. Also schaute ich mir die Elfmeterstatistiken aller größeren Nationen an, die an mehr als zehn Elfmeterschießen teilgenommen hatten.2

Abbildung 1: Elfmeter verwandelt/verschossen

Land E-S-N verw./versch. Tore % Siege %
Deutschland 6-5-1 26/2 93 % 83 %
Brasilien 11-7-4 39/14 74 % 64 %
Paraguay 5-3-2 19/3 86 % 60 %
Argentinien 10-6-4 37/10 79 % 60 %
Spanien 7-4-3 25/8 76 % 57 %
Uruguay 9-5-4 38/7 84 % 56 %
Frankreich 6-3-3 25/6 81 % 50 %
Mexiko3 7-3-4 18/11 62 % 43 %
Italien 8-3-5 30/12 71 % 38 %
Niederlande 7-2-5 22/10 69 % 29 %
England 7-1-6 23/12 66 % 14 %

Die Tabelle in Abbildung 1 scheint darauf hinzudeuten, dass die englischen Trainer vielleicht nicht ganz Unrecht haben. Englands Trefferquote von 66 % liegt zwar unter dem Gesamtschnitt von 78 % (ein Wert, der in Elfmeterschießen bei Turnieren übrigens sinkt), das erklärt aber nicht die unterirdische Siegquote von nur 14 %. Mexiko beispielsweise hat eine schlechtere Trefferquote, aber eine Siegquote von 43 % – ein Wert, von dem England nur träumen kann. Auch Frankreich scheint das Glück nicht hold zu sein: Trotz einer Trefferquote von 81 % setzten sie sich nur in 50 % der Elfmeterschießen durch.

Abbildung 2 schaut auf die Rolle der Torhüter und wie sich die Schlussleute dieser elf Nationen bei großen Turnieren geschlagen haben. Bei Elfmeterschießen geht es ebenso sehr um verwandelte wie um gehaltene Elfmeter, und es ist klar zu sehen, dass England und die Niederlande dabei deutlich schlechter abschneiden als die anderen Nationen. Brasilien und Deutschland weisen eine Haltequote auf, die weit über dem Schnitt von 22 % liegt, was ihren Erfolg zum Teil erklärt.

Abbildung 2: Elfmeter kassiert/gehalten4

Land kassiert/gehalten verwandelt % gehalten %
Brasilien 35/17 67 % 33 %
Deutschland 20/9 69 % 31 %
Paraguay 16/6 73 % 27 %
Argentinien 37/12 76 % 24 %
Mexiko 23/7 77 % 23 %
Italien 30/8 79 % 21 %
Spanien 24/6 80 % 20 %
Uruguay 35/8 81 % 19 %
Frankreich 26/6 81 % 19 %
England 29/6 83 % 17 %
Niederlande 21/3 88 % 12 %

Nach jeder englischen Niederlage wird natürlich vor allem über die Spieler geredet, die verschossen haben, oder über den Trainer, der das Schicksal beklagt – die „Lotterie“ Elfmeterschießen oder, in Erikssons Fall, dass man zwar hart, aber nur fast jeden Tag trainiert habe. Nur selten hört man etwas von der gegnerischen Seite, den Siegern, der Mannschaft, die das Glück hatte, gegen England ins Elfmeterschießen zu kommen. Also nahm ich mir vor, mit je einem Spieler dieser gegnerischen Mannschaften zu sprechen und zu erfahren, was England ihrer Meinung nach falsch gemacht hatte. Das würde mich sicher nicht auf die endgültige Lösung aller englischen Probleme beim Elfmeterschießen bringen, aber wenn ich damit nur ein ganz klein wenig Licht ins Dunkel bringen würde, hätte sich die Sache schon gelohnt.

Der Mann, der den größten Anteil an Englands grottenschlechter Elfmeterbilanz bei großen Turnieren hat, ist Ricardo Alexandre Martins Soares Pereira oder einfach kurz Ricardo. Er ist der portugiesische Torwart, der sich im Viertelfinale der EM 2004 die Handschuhe auszog, bevor er gegen Darius Vassell parierte und anschließend den entscheidenden Elfmeter selbst versenkte. Zwei Jahre später, im Viertelfinale der WM 2006, wehrte er als erster Torwart überhaupt drei Schüsse in einem WM-Elfmeterschießen ab. Die FIFA kürte trotzdem den englischen Mittelfeldspieler Owen Hargreaves zum „Man of the Match“, wohl weil er, wie Ricardo vermutete, „der Einzige war, der gegen mich einen Elfmeter verwandelte“. Zum Trost erhielt Ricardo von Schiedsrichter Horacio Elizondo den von ihm unterschriebenen Spielball. Elfmeterschießen waren für die Engländer zu diesem Zeitpunkt längst ein Problem geworden. Gegen Ricardo verwandelten sie in den beiden Spielen nur sechs von elf Versuchen. Dank Ricardo verschärfte sich das Problem und wurde zu einem Komplex. Einer Obsession. Einem Trauma. Das Ende vom Lied? Bei ihrem nächsten Elfmeterschießen, sechs Jahre später im Viertelfinale der EM 2012 gegen Italien, waren die Engländer eigentlich von vornherein zum Scheitern verurteilt.

An einem Montagmorgen im Frühjahr sind auf dem Kurs von Oceanico Victoria in Vilamoura nur wenige einheimische Golfer anzutreffen. Es ist die Zeit des Jahres, in der ambitionierte Golfer aus ganz Europa nach der monatelangen Kälte daheim an die Algarve strömen, um zwei Runden am Tag zu spielen. Im Klubhaus hört man irische, schwedische und deutsche Besucher. Das von der Sonne gesprenkelte Übungsgrün ist ein Kaleidoskop modischer Entgleisungen. Direkt dahinter, auf der Driving Range, hebt sich ein Spieler von allen anderen ab, nicht unbedingt wegen seines Schwungs, der gar nicht mal übel ist, sondern durch sein Outfit: weiße Schuhe, lindgrüne Hosen und ein lindgrün abgesetztes Navy-Shirt. Man muss schon ein ganz passabler Golfer sein, um damit durchzukommen. Oder einer der erfolgreichsten Torhüter Portugals. Ricardo ist beides. Er spielt seit fünf Jahren Golf und hat sein Handicap inzwischen auf 4 verbessert. Das Spiel, sagt er, habe ihn zu einem besseren Torwart gemacht, seine Konzentrationsfähigkeit gesteigert und ihm geholfen, sich nach einem Fehler rasch wieder zu konzentrieren.

Zum Zeitpunkt unseres Treffens ließ Ricardo gerade seine Karriere bei Olhanense an der Algarve ausklingen. Meistens saß er nur auf der Bank, was ihm zufolge daran lag, dass der Trainer sich durch seine Anwesenheit als erfahrener Spieler „mit einem gewissen Status“ bedroht fühlte, aber allzu sehr schien ihn das nicht zu bekümmern. Stattdessen arbeitete er an seinem Golfspiel und wirkte, während er ein Radler schlürfte, ganz wie ein Mann, der weiß, dass seine Karriere so gut wie vorbei ist. Ricardo ist ein Englandliebhaber. Er unterhielt sich mit mir in perfektem Englisch und wünschte, mehr Zeit in England verbracht zu haben als nur das halbe Jahr, das er 2011 bei Leicester unter Vertrag stand. Er schien durchaus gewillt zu sein, den Engländern dabei zu helfen, die Elfmeterdämonen, die er selbst ein Stück weit heraufbeschworen hatte, zu vertreiben.

Die Niederlage von 2006 war anders als die Elfmeterfiaskos, die England bis dahin erlitten hatte. Zunächst einmal verwandelten die Engländer nur einen von vier Elfmetern, ihr schlechtester Wert überhaupt. Im Halbfinale der WM 1990 gegen Deutschland sowie im Achtelfinale 1998 gegen Argentinien hatten sie immerhin noch je drei verwandelt. Zwei der Spieler, die gegen Portugal scheiterten, waren auch in ihren Vereinen für die Elfmeter zuständig: Frank Lampard und Steven Gerrard. Die Portugiesen verschossen sogar selbst zweimal, setzten sich aber trotzdem durch. Es war der absolute Tiefpunkt in der langen, traurigen Geschichte englischer Elfmeterpleiten.

Obwohl sie nach dem Platzverweis für Wayne Rooney in Überzahl spielten, machten die Portugiesen kaum Anstalten, noch in der regulären Spielzeit eine Entscheidung herbeizuführen. „Ob wir auf Unentschieden gespielt haben?“, fragte Ricardo. „Sagen wir mal so: Wir sind keine unnötigen Risiken eingegangen, denn wir waren zuversichtlich, uns im Elfmeterschießen durchzusetzen. Auch deswegen, weil wir schon 2004 gewonnen hatten. Auf den Engländern lastete ein besonderer Druck. Ich sprach vor dem Spiel mit Sven, und er meinte: ‚Ich will nicht, dass es zum Elfmeterschießen kommt, denn ich weiß, dass meine Spieler nicht gegen dich antreten wollen.‘“ Schon vor dem Anpfiff hatte der Coach der Engländer Angst vor dem Unvermeidlichen.

An unserem Tisch mit Blick auf das Übungsgrün zeigte ich Ricardo auf meinem Smartphone ein Video des Elfmeterschießens von 2006. Das war in etwa so, als würde man sich einen Film anschauen, während der Hauptdarsteller neben einem sitzt. Er machte mich auf Einzelheiten aufmerksam, die mir bis dahin entgangen waren oder unbedeutend erschienen. Andere Details, die ich für wichtig hielt, hatte er hingegen bis dahin kaum registriert.

Portugal hatte den ersten Schuss. Simão Sabrosa nahm selbstbewusst Anlauf und verwandelte gegen den englischen Keeper Paul Robinson ohne Probleme. Mit geballten Fäusten lief er zurück zum Mittelkreis. Lampard trat als Erster für England an. Zwei Jahre vorher hatte er Ricardo im Elfmeterschießen bezwungen. Mit verkniffener Miene ging er in den Strafraum und legte sich den Ball zurecht. Dann kehrte er Ricardo den Rücken zu, richtete sich den Kragen und wartete auf den Pfiff des Schiedsrichters.

„Ich wusste, dass Lampard als Erster antreten würde“, sagte Ricardo. „Er hatte seit zwei Jahren oder so keinen Elfmeter mehr verschossen.5 Bevor es losging, sagte ich zu den Jungs: ‚Wenn ich den ersten halte, haben wir so gut wie gewonnen.‘ Ich wusste, dass sie sich nicht davon erholen würden, sollte Lampard verschießen.“

Lampard schoss auf seine nicht-natürliche Seite, nach rechts unten. Ricardo tauchte in die richtige Ecke und faustete den Ball weg. Die Kameras richteten sich auf die englischen Spieler, und man sah Gerrard, scheinbar den Tränen nah, gen Himmel schauen. Als Lampard zurück Richtung Mittelkreis trottete, entging auch Ricardo diese Reaktion nicht. „Nachdem ich gehalten hatte, sah ich Ferdinand und Gerrard, die buchstäblich in sich zusammenfielen ... Sie ließen die Köpfe hängen, und ich wusste, jetzt waren wir im Vorteil. Ihr bester Schütze hatte verschossen, und sie sahen aus, als wären sie schon geschlagen.“

Bei den portugiesischen Schützen schaute Ricardo nicht aufs Tor, sondern in die Menge. Das war nicht, wie ich vermutet hatte, ein Zeichen von Nervosität, sondern von Stärke. „Als ich in die Menge blickte, sah ich den einen oder anderen portugiesischen Fan, aber ansonsten waren überall Engländer, alle in weißen Trikots. Die ganze Menge war nervös. Ich konnte sehen, was sie dachten: ‚Nicht schon wieder.‘ Das war ein weiterer Vorteil für mich. Vielleicht nur eine Kleinigkeit, aber alles zählt. Solche Kleinigkeiten können einen großen Unterschied machen.“

Hugo Viana, der als Nächster für Portugal an der Reihe war, traf nur den Außenpfosten. Als er zurück zum Mittelkreis ging, lösten sich Hélder Postiga und Maniche aus der Gruppe und klatschten aufmunternden Beifall. Für mich eine bemerkenswerte und wichtige Reaktion – Ricardo nahm sie nicht einmal wahr.

Dann trat Owen Hargreaves für England an: Er legte sich sorgfältig den Ball zurecht, korrigierte mindestens dreimal, dann schoss er hart und flach auf seine natürliche Seite. Ricardo hatte die Finger am Ball, konnte ihn aber nicht abwehren. „Ich war nah dran, aber den hatte Hargreaves super geschossen.“

Nach je zwei Schüssen stand es 1:1. Als Petit das Tor verfehlte, war England dann sogar im Vorteil. Im Mittelkreis ballten die englischen Spieler die Fäuste, Ferdinand und Hargreaves riefen „Come on!“, während sie sich um den Hals fielen. Gerrard hatte nun die Chance, England in Führung zu bringen. Während er sich vom Schiedsrichter den Ball holte, legte Gary Neville im Mittelkreis Hargreaves den Arm um die Schulter und grinste ihn verschwörerisch an – ein Zeichen von Zuversicht, dass England den Fluch endlich brechen könnte.

Aber Ricardo hatte etwas dagegen. „Ich stehe hinter der Torlinie, ich habe es nicht eilig. Keine Zeitschinderei, kein Gerede. Ich habe es nicht nötig, zu Gerrard zu gehen und zu sagen: ‚Hey, den verschießt du.‘ Wenn ich das tue, konzentriere ich mich nicht auf das Wesentliche, auf das, was ich zu tun habe. Ich schaue ihn an, ich beobachte ihn, ich studiere sein Verhalten. Aber als er auf mich zukam ... Mann, ich sah seine Miene. Er wollte mich nicht ansehen! Er sah mich überhaupt nicht an! Ich sah sein Gesicht und das aller anderen, als sie auf mich zukamen, und sie guckten alle, als wollten sie sagen: ‚Oh, mein Gott, oh, mein Gott!‘ Ich bin ganz cool, konzentriert, und das überträgt sich auf die anderen. Ich glaube, wenn du Zuversicht ausstrahlst, herrscht ein ganz anderer Geist.“

Gerrard schoss hart, auf Ricardos linke Seite, aber nicht platziert genug. „Das war meine beste Parade, denn als der Ball auf mich zukam, stieg er im letzten Moment noch nach oben“, sagte Ricardo. „Ich musste meine rechte Hand schnell nach oben bringen, um den Ball zu erreichen. Ich ging an Robinson vorbei. Er sah mich aus den Augenwinkeln an und sagte: ‚Fuck, fucking hell! Nicht schon wieder!‘ Ich spürte, wie ihn die Zuversicht verließ. Er dachte: ‚Wenn ich den nicht halte, verlieren wir.‘“

Postiga erhöhte mit einem cleveren Schuss auf 2:1 für Portugal. 2004 hatte er den Ball in Panenka-Manier in die Mitte gechippt, und sein langer, gerader Anlauf deutete auf einen ähnlichen Versuch hin. Robinson blieb stehen, aber Postiga schoss in die linke Ecke.

Jamie Carragher war als Nächster an der Reihe. Er war zwei Minuten vor Ende der Verlängerung, offenbar im Hinblick auf das Elfmeterschießen, für Aaron Lennon eingewechselt worden. Fünf Jahre zuvor hatte er für Liverpool im Finale des Worthington Cups den entscheidenden Elfer gegen Birmingham verwandelt, seither aber keinen einzigen mehr geschossen.

Er legte sich den Ball zurecht, machte kehrt und startete dann übergangslos seinen Anlauf. Aber der Schiedsrichter hatte den Schuss noch nicht freigegeben, und als Carragher zwei Schritte vom Ball entfernt war, pfiff Elizondo zweimal, um zu signalisieren, dass der Versuch nicht zählen würde. Hätte Carragher noch abstoppen können? Wenn er gewollt hätte, wohl schon, aber er lief weiter und schoss einen exzellenten Elfmeter, dem Ricardo nur hinterherschauen konnte.

„Carragher wandte sich ab und rannte dann sofort los, aber der Schiedsrichter hatte nicht gepfiffen, also hob ich nur die Hände und meinte: ‚Warte, warte.‘ Der Referee lächelte ihn an und sagte: ‚Warte auf meinen Pfiff.‘ Ich sah Carragher an und dachte: ‚Das war’s für dich, den halte ich.‘ Der Kerl war fertig, vollkommen durcheinander, er war viel zu nervös.“

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Vielleicht seine beste Parade: Der portugiesische Torhüter Ricardo hält Gerrards Elfmeter im WM-Viertelfinale 2006 gegen England.

Würde Carragher das Gleiche versuchen oder etwas anderes? „Ich hatte im Gefühl, dass er etwas anderes probieren würde“, sagte Ricardo, und er sollte recht behalten: Carragher visierte die andere Ecke an, und der Keeper lenkte den Ball an die Querlatte. Portugal lag 2:1 vorn und hatte mit dem nächsten Schuss die Chance, das Spiel für sich zu entscheiden.

„Als Cristiano Ronaldo zum Elfmeterpunkt ging, sah er zu mir herüber. Ich streckte die Hände aus, um anzudeuten, dass es vorbei sei. ‚Das Ding ist gelaufen’, sagte ich. Ich wusste, er würde treffen. England war bereits geschlagen.“

Ronaldo ließ sich Zeit. Er küsste den Ball, bevor er ihn auf den Punkt legte, und holte tief Luft. Er wartete einen Moment, nachdem der Schiedsrichter gepfiffen hatte. Sein Elfmeter war perfekt.

Ich wollte von Ricardo wissen, warum England wieder mal verloren hatte. „Diese großen Namen verschießen, und das liegt nicht daran, dass sie die falschen wären. Sie spielen bei den besten Klubs der Welt, aber was in einem solchen Moment in ihnen vorgeht – ich weiß es nicht. Das ist reine Kopfsache. Sie müssen an ihrer mentalen Stärke arbeiten.“

Ricardo meinte, in den beiden Spielen gegen England noch einen weiteren Vorteil gehabt zu haben: Er war selbst früher Stürmer gewesen und hatte Elfmeter geschossen. Für seinen ersten Verein Montijo spielte er zumeist im Angriff und ging nur dann ins Tor, wenn der Gegner ein großer Klub wie Sporting oder Benfica Lissabon war. Er war kopfball-stark und spielte nach seinem Wechsel mit 17 zu Boavista Porto eine Weile Mittelstürmer, bevor ihm geraten wurde, dauerhaft ins Tor zu gehen, wenn er es als Profi schaffen wollte. Trotzdem übte er weiterhin Elfmeter, oft für sich allein, ohne einen Torwart im Kasten. „Ich versuchte, den Ball genau zu platzieren. Schnörkellos und so oft es ging. Kein Problem.“ Schon bald war er Boavistas designierter Elfmeterschütze. Er traf fünfmal vom Punkt, so auch 2004 im Viertelfinale des UEFA-Pokals im Elfmeterschießen gegen Málaga.

Wenn Ricardo seine beste Parade 2006 gegen Gerrard zeigte, so hatte er seinen besten Elfmeter bereits zwei Jahre vorher gegen England bei der EM 2004 geschossen. Eigentlich war er als sechster Schütze vorgesehen, aber nachdem Rui Costa den dritten Versuch vergeben hatte, verlor er die Übersicht. Er konzentrierte sich auf den Spielstand statt auf die Reihenfolge. In Lissabon zu spielen, bedeutete für die Portugiesen keinen so großen Vorteil, wie man hätte meinen können – Ricardo zufolge hielt sich die Zuschauergunst in etwa die Waage –, aber Ricardo schöpfte stattdessen Zuversicht aus einer unerwarteten Quelle.

„Ich bemerkte den Linienrichter“, erzählte er mir. „Jedes Mal, wenn ich fast einen Elfmeter hielt, atmete er schwer aus. Ich sah ihn an und dachte: ‚Er will, dass wir gewinnen.‘ Er schien erleichtert, wann immer wir einen Elfmeter verwandelten. Mir war so, als drückte er uns die Daumen. Ich weiß nicht, ob es wirklich so war, jedenfalls erschien es mir so. Vielleicht habe ich nur nach etwas gesucht, an dem ich mich festhalten konnte, aber es half.“

Nach jeweils sechs Elfmetern stand es 5:5. Den sechsten Schuss, für den eigentlich Ricardo vorgesehen war, hatte Postiga ausgeführt und verwandelt. Dann hatte Ricardo eine Überraschung parat. „Wir hatten Elfmeter trainiert, und ich hatte mir ein paar DVDs angesehen, um die englischen Spieler zu studieren“, erinnerte er sich. „Aber als ich Darius Vassell auf mich zukommen sah, dachte ich: ‚Kacke, warte mal. Ich habe auf der DVD jeden Spieler Elfmeter schießen sehen bis auf diesen Kerl. Nichts! Hat er überhaupt schon mal geschossen?‘ Ich schaute auf meine Hände. ,Mist, ich muss irgendwas tun!‘ Also riss ich mir die Handschuhe runter, ich zog sie einfach aus. Vassell schaute mich an, dann den Schiedsrichter, der nur meinte: ‚Ist schon okay so.‘“

Ricardo fuhr in seinen Erinnerungen fort: „Ich weiß bis heute nicht, warum ich das getan habe. Ich hatte das vorher nie gemacht und auch seitdem nicht mehr, aber ich hatte das Gefühl, irgendetwas tun zu müssen. Ich war ganz auf den Moment konzentriert. Selbst heute, wenn ich zurückdenke, kann ich mich nicht an den Lärm erinnern. Ich höre gar nichts. Alles ist vollkommen still. Ich sah, dass Vassell sehr nervös war und am liebsten woanders gewesen wäre. Ich wusste, dass ich als Nächster schießen würde, und sagte zu mir: ‚Ich werde den hier halten und den nächsten versenken.‘“

Und wirklich ahnte Ricardo die richtige Ecke und hielt. Als Nuno Valente, der als Schütze nach Postiga vorgesehen war, sich anschließend den Ball schnappen wollte, scheuchte er ihn weg. „Ich war an der Reihe, denn ich hatte meinen Einsatz verpasst. Nuno lief schleunigst in den Mittelkreis zurück. Ich hatte ihn noch nie so schnell laufen sehen! David James stand im Tor, und als er seine Arme ausbreitete, sah er so groß aus wie ein Haus. ‚Wo schieße ich bloß hin, Mann?‘ Genau dahin, wo er ihn nicht erreichen kann, denn er ist ein ziemlich großer Kerl: in die Ecke. Ich bewahrte einen kühlen Kopf. Das war ein großer Moment für mich.“

Nachdem die Feierlichkeiten der Portugiesen abgeklungen waren, erhielt Ricardo einen Anruf seines Handschuhherstellers. Sie freuten sich, dass er zum Sieg beigetragen hatte, aber nicht so sehr, dass er den entscheidenden Elfer mit bloßen Händen gehalten hatte. „Sie forderten mich auf, es nicht noch einmal zu tun, und das habe ich auch nicht.“

Sieben Jahre später schloss sich Ricardo dem damaligen englischen Zweitligisten Leicester City an. Der Trainer, der ihn holte, war Eriksson. An seinem ersten Tag beim Klub saß Ricardo in der Umkleidekabine, als er plötzlich einen Schrei vernahm: „Guten Morgen, guten Morgen, aaaaah! – Was machst du denn hier!?“ Es war Darius Vassell. „Er war ein netter Kerl, wir haben viel über den Moment geredet.“

Die Kollegen nutzten die Gelegenheit, um Vassell noch einmal vom Punkt gegen Ricardo antreten zu lassen. Wieder hielt Ricardo. „Wir lachten darüber. Mann, das war schon lustig. Aber dann erzählte er mir, dass er damals vor dem Spiel gegen Portugal zu Eriksson gegangen sei und gemeint habe: ‚Trainer, sollte es zum Elfmeterschießen kommen, verschonen Sie mich bitte. Ich bin nicht darauf vorbereitet und zu jung dafür.‘ Der Bursche war fast noch ein Kind.“ Nach seinem verschossenen Elfmeter gegen Portugal spielte Vassell nie wieder für England.

Was kann England also tun, um sein Elfmetertrauma zu überwinden? Ricardo schlug mir drei Lösungen vor, denn „ich möchte England gewinnen sehen und ihnen Zuversicht geben“.

1.Konzentriere dich nur auf das Positive.

„Ein Elfmeter ist kein Problem, sondern eine Chance. Lampard und Gerrard treffen in der Liga immer, sie schießen viele Tore. Warum also versagen sie in wichtigen Momenten? Das muss mentale Ursachen haben. Sie dürfen nur auf einen positiven Ausgang eingestellt sein, nicht aufs Scheitern.“

2.Höre nicht auf die Medien.

„Natürlich lesen wir während solcher Turniere die Zeitungen. Die Engländer reden jeden Tag über Elfmeter und beten dafür, dass es kein Elfmeterschießen gibt. ‚Bloß kein Elfmeterschießen, bloß kein Elfmeterschießen!‘ Wenn die Engländer schlechte Erinnerungen daran haben, sollten sie nicht darüber reden. Abhaken und nach vorne schauen.“

3.Vergiss die Vergangenheit.

„Die Spieler müssen mental stark bleiben und herausbekommen, was für sie funktioniert. Als sie gegen uns verloren haben, konnte man förmlich sehen, was sie dachten: ‚Oje, wir haben schon wieder ein Elfmeterschießen verloren.‘ Beinahe so, als wäre es Schicksal. Die Jungs leiden zu sehr darunter. Man hatte das Gefühl, dass für die Engländer eine Welt zusammenbrach. Es ist wie ein Film, der ihnen ständig im Kopf herumspukt – und dessen Ende sie schon kennen.“

Sechs Monate nach unserem Treffen an der Algarve hatte Ricardo sich seinen Stammplatz im Tor von Olhanense zurückerobert. Im Oktober 2013 erzielte er sogar ein Freistoßtor. Vielleicht ist es ein Trost für die Engländer, dass sie ihm nie wieder in einem Elfmeterschießen gegenüberstehen werden.

Neben den Portugiesen haben auch die Deutschen gute Erinnerungen an Elfmeterschießen gegen England. Lothar Matthäus verriet mir, dass Selbstvertrauen und Konstanz die Gründe dafür waren, dass sich Deutschland im Halbfinale der WM 1990 in Turin durchsetzte. Für England war es das erste Elfmeterschießen überhaupt, während Deutschland sich in den beiden vorigen WM-Turnieren bereits gegen Frankreich (5:4) und Mexiko (4:1) im Elfmeterschießen durchgesetzt hatte.

Matthäus schoss damals den zweiten Elfmeter für Deutschland. Der Kapitän der deutschen Elf war einer von vier Spielern, die auch im Verein regelmäßig vom Punkt antraten, und das machte einen gewaltigen Unterschied. „Schauen Sie doch mal“, sagte er. „Brehme, Matthäus, Riedle, Thon.“ Selbst 23 Jahre danach kann er die Schützen runterbeten, als wären sie eine Person. „Alles eine Sache des Selbstvertrauens, vor allem Elfmeter. Und Selbstvertrauen hatten wir definitiv. Wir machten uns keinen Kopf: Statt groß darüber nachzudenken, konzentrierten wir uns. Entscheidend war, dass wir vier Spezialisten in unseren Reihen hatten.“

Doch auch Stuart Pearce, der Englands vierten Elfmeter verschoss, nachdem zuvor alle sechs Schützen getroffen hatten, war bei seinem Verein Nottingham Forest für die Elfmeter zuständig. Erst nach seinem Fehlschuss und Olaf Thons erfolgreichem Versuch trat mit Chris Waddle der erste Spieler an, der nicht regelmäßig Elfmeter schoss. Und an dieser Stelle kam vielleicht der Faktor Glück ins Spiel, die „Lotterie“, auf die englische Spieler und Trainer so gerne verweisen. Eigentlich war nämlich nicht Waddle als fünfter Schütze vorgesehen, sondern Paul Gascoigne, aber der Mittelfeldspieler, der eine der großen Entdeckungen des Turniers war, hatte in der 98. Minute Gelb gesehen und wäre damit im Finale gesperrt gewesen. „Gazza“ war einfach zu aufgelöst, um anzutreten. England fehlten außerdem die verletzten Bryan Robson, der in der Nationalmannschaft schon vom Punkt getroffen hatte, und John Barnes, der in jener Saison für Liverpool fünf Strafstöße verwandelt hatte. Also musste Waddle einspringen, der noch nie einen wichtigen Elfmeter geschossen hatte. Und er vergab.

Englands Trainer Bobby Robson war nach dem Spiel stinksauer, aber nicht auf Pearce oder Waddle oder Torwart Peter Shilton, der bei jedem Schuss zu lange zu warten schien (er ahnte jedes Mal die richtige Ecke, kam aber immer zu spät): Er ärgerte sich über das System. „Es gibt andere Möglichkeiten“, sagte er. „Man muss den Gegner besiegen. Man spielt weiter, bis zum ersten Tor oder noch eine Viertelstunde, denn früher oder später bricht einer ein. Beim Fußball geht es um Durchhaltevermögen, Charakter und Kampfgeist, und all das setzt sich letztendlich durch.“ Sein Gegenüber Franz Beckenbauer zeigte sich leicht verwundert über Robsons Reaktion: „So sind die Regeln, so ist es nun mal. Es ist zumindest besser als ein Münzwurf. Es gibt keine Alternative.“

In der Pressekonferenz vor dem Finale wurde FIFA-Präsident João Havelange gefragt, ob es angemessen sei, ein WM-Halbfinale durch ein Elfmeterschießen zu entscheiden. „Welche Überraschung, dass ich das auf Englisch gefragt werde“, spöttelte er. „Soweit mir bekannt ist, haben die Deutschen, im Gegensatz zu den Engländern, Elfmeter trainiert.“ Aber Robson hatte nun den Ton vorgegeben: Die Engländer konnten nichts dafür, wenn sie im Elfmeterschießen verloren. Vielmehr war diesmal, beim ersten Mal, das System selbst schuld daran, dass sie gescheitert waren.

1996, bei der EM im eigenen Land, war das anders. Schon im Viertelfinale gegen Spanien mussten die Engländer ins Elfmeterschießen, das sie ohne Fehlversuch und durch Tore von Alan Shearer, David Platt, Stuart Pearce und Paul Gascoigne mit 4:2 für sich entschieden. Der englische Coach Terry Venables hatte beim FC Barcelona auf der Bank gesessen, als die Katalanen 1986 im Europokalfinale gegen Steaua Bukarest keinen einzigen Elfmeter verwandelt hatten. Zehn Jahre später legte er großen Wert darauf, dass seine Schützlinge vom Punkt trainierten.

Im Halbfinale gegen Deutschland machten die Engländer sogar den gefestigteren Eindruck. Die ersten fünf Schützen – Shearer, Platt, Pearce, Gascoigne und Teddy Sheringham – verwandelten sicher. Die Deutschen hingegen wirkten verunsichert. Dieter Eilts, der zum „Man of the Match“ gekürt und später in die Allstar-Mannschaft des Turniers gewählt wurde, hatte gegen Ende der Verlängerung vergeblich um seine Auswechslung gebettelt, um nicht antreten zu müssen. „Ich hätte unter Garantie verschossen“, sagte er. Trainer Berti Vogts hatte nur vier Spieler, die bereit waren, einen Elfmeter zu schießen. Er erkundigte sich bei Thomas Helmer, ob dessen Bayern-Kollege Thomas Strunz der Aufgabe gewachsen sei. „Auf jeden Fall“, lautete die Antwort. Strunz schnappte sich von Schiedsrichter Sándor Puhl den Ball, um sich mit Hochhalten einzustimmen. Vogts wies dann Markus Babbel an, mit Marco Bode auszumachen, wer die Elfmeter Nummer sieben und acht ausführen würde. „Marco, der Chef meint, du bist als Siebter dran“, gab Babbel weiter. „Meine Knie wurden immer weicher“, erinnerte sich Bode. Ebenso wie Eilts wollte auch Matthias Sammer, der später zu Europas Fußballer des Jahres gewählt wurde, auf gar keinen Fall antreten. „Wir hätten uns wohl darum geprügelt, nicht antreten zu müssen“, sagte Sammer.