Patrick Schön (Hrsg.)

UNFASSBAR!

Fantastische Krimis

 

 

AndroSF 67

 


Patrick Schön (Hrsg.)

UNFASSBAR!

Fantastische Krimis

 

AndroSF 67

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© dieser Ausgabe: August 2017

p.machinery Michael Haitel

 

Titelbild: Lothar Bauer

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi

Lektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda, Xlendi

 

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Ammergauer Str. 11, 82418 Murnau am Staffelsee

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

und das Anthologieforum, www.anthologieforum.de

 

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 099 3

 


Vorwort

 

 

Geehrter Leser,

geht es Ihnen während der Lektüre einer Geschichte auch oft so, dass Sie sich fragen, welche Szenen und Details der Wahrheit entsprechen und welche ausschließlich der Fantasie des Autors entstammen?

Seien Sie unbesorgt während der Lektüre dieses Buches! Die Geschichten hierin sind zum Glück allesamt frei erfunden.

Denken wir.

Oder haben Sie vielleicht schon einmal in einem Spiegel ein Verbrechen beobachten können? Glauben Sie etwa an eine Parallelwelt?

Andererseits gibt es keinen Beweis, dass nicht irgendwo auf der Welt ein magischer Spiegel existiert, womöglich aus gutem Grund von seinem Besitzer geheim gehalten. Bei der Größe des Universums ist auch eine Parallelwelt zumindest nicht völlig von der Hand zu weisen. Oder?

Erhielte man also Antwort auf die Frage, welche Details in den vorliegenden Geschichten frei erfunden sind oder was irgendeinen Bezug zu einem realen Ereignis hat, wäre man daher womöglich nicht selten überrascht.

 

Als die Betreiber des Anthologieforums zu einer öffentlichen Ausschreibung aufriefen, an der – anders als in Vorjahren – nicht nur die Mitglieder der Autorenplattform teilnehmen konnten, erreichten uns zahlreiche fesselnde Geschichten. Ihnen allen war zweierlei gemein: Es mussten Krimis mit fantastischen Elementen sein – und doch durfte ein Bezug zu einem realen Ereignis nicht fehlen.

In dem vorliegenden Werk sind nun die besten dieser Erzählungen vereint.

Gelingt es Ihnen, lieber Leser, in allen Episoden das Übernatürliche, das ausschließlich der Autorenfantasie entsprungen ist, vom Realen zu trennen? Sie werden bei der Lektüre auf zahlreiche unerklärliche Phänomene stoßen, in Szene gesetzt von Experten, die sich bereits einen Namen in der Kriminalliteratur gemacht haben, als auch auf Fantasyautoren, die sich – vielleicht erstmals – an einem Krimi versuchten.

Wir, die Herausgeber, wünschen Ihnen dabei spannende Unterhaltung!

 

Patrick Schön

Gründer des Anthologieforums

Bad Honnef im Mai 2017

 


Gabriele Behrend: Macchiato

 

 

»Guten Morgen!« Sie kam zur Tür hereingestürmt. Als sie sich dem braunen Tresen näherte, zauberte sich ein Lächeln auf ihr reizloses Gesicht. Die Theke wurde auf der einen Seite von einer kleinen Vitrine mit verschiedenen Bagels, Kuchen und Limonaden begrenzt, während sich in der Mitte die Aussparung der Bestellzone mit Kasse und Wechselgeldteller befand. Die rechte Seite dominierte eine unglaublich große und unglaublich alte Barmaschine für alle möglichen Kaffeespezialitäten. Ein Paradies, das nach gerösteten Bohnen roch.

Der kleine Kaffeeladen war eine Zufallsentdeckung. Sie hatte in der Straßenbahn gesessen, die Nase an die kühle Scheibe gedrückt, und sich eingeredet, dass die kommenden sechs Wochen leicht wären und wenn nicht, dann wenigstens ganz schnell vorübergehen würden. Outboundtelefonie! Es grauste ihr davor. Nicht umsonst hatte sie sich vor einem Dreivierteljahr für den Inbound entschieden – es war immer noch ein großer Unterschied, ob man Anrufe entgegennahm oder selbst der Umwelt mit ungewollten Gesprächen auf den Pelz rückte. In diese Gedanken verstrickt las sie zum ersten Mal den Namen TENTEN auf einer dunkelbraun-weiß gestreiften Markise. Die Bahn fuhr weiter und spuckte sie an der nächsten Station aus, direkt vor ihrer Arbeitsstelle.

Eine Woche später hatte es dann den Generalstreik von ver.di gegeben. Die Stadt stand still – weder Tram noch Bus verließen das Depot und auf den Straßen ging auch nichts mehr. Die Autos stauten sich in den Ein- und Ausfallstraßen und so nahm sie die Füße in die Hand und ging ihres Weges. Eine halbe Stunde dauerte es, da stand sie auf einmal vor dem kleinen Laden. Fackelte nicht lange, sondern nutzte die Gunst der Stunde und ging hinein.

Sieben Minuten später befand sie sich wieder auf dem Weg zur Arbeit, einen großen Latte macchiato in der Hand, auf den der charmante Barista eine Blume aus Karamellsirup gemalt hatte.

Ab da stieg sie jeden Morgen eine Station früher aus, besuchte den Mittdreißiger mit den braunen Augen und den krausen schwarzen Haaren und erkaufte sich ein paar Minuten in seiner Nähe durch einen großen Caramelmacchiato »to go«.

 

Als am Morgen des 20. März der Frühling mit Sonnenschein zum Fenster hineingrüßte, war sie schon seit drei Wochen in der Legebatterie der Outbounder gefangen und mit den Nerven zu Fuß. Sie konnte und wollte sich nicht an die vielen Absagen gewöhnen, die man ihr am Telefon erteilte, die Lügen und Flunkereien, nur um sie loszuwerden. Sie konnte und wollte sich nicht an die Tipps und Tricks ihrer Kollegen gewöhnen, mit denen die Kunden über den Tisch gezogen wurden. Und sie konnte die Beschimpfungen nicht mehr ertragen. Das Einzige, was sie noch bei der Stange hielt, war der Caramelmacchiato des charmanten Baristas. Ihres Baristas, wie sie ihn insgeheim nannte, ohne seinen Namen zu kennen. Sie wollte ihn auch gar nicht wissen. Die Bilder, die er ihr auf die Milchschaumhaube zauberte, reichten vollkommen, ja, mehr noch: Sie waren der Code eines wortlosen Verstehens, das durch zu viel Realität nur seinen Zauber verlieren würde. Denn in der Tat lag ein Zauber über ihm und seinem Kaffee.

Jeden Morgen, wenn sie an seinem Tresen stand und der Kaffee in den hohen Pappbecher floss, konzentrierte sich der Barista voll und ganz auf die dunkelbraune Flüssigkeit, auf das Aufschäumen der Milch und auf das Zusammenfügen aller Komponenten: Vanillesirup, Espresso, Milchschaum, Karamellsoße. Dann reichte er ihr den Becher, fragte dabei nach ihrem Tag, dem Buch, das sie gerade las. Manchmal sprach er ihr aber auch mit ganz simplen Worten Mut zu – dann, wenn es ihr besonders schwer fiel, zur Arbeit zu gehen. Er schenkte ihr mehr als simplen Kaffee. Er schenkte ihr ein Lächeln.

An diesem offiziellen Frühlingsstart lächelte sie allerdings von ganz alleine. Schnell entschlossen stieg sie in den Keller hinunter, um ihr Rad herauszuholen. Sie wollte durch den Park fahren, ihren Kaffee abholen und dann die acht Stunden ganz schnell absitzen. Als sie das schwere Fahrrad durch den Flur schob und die Tür öffnete, fiel ihr das Lachen allerdings schnell wieder aus dem Gesicht. Da stand ein Wagen direkt vor der Tür, sodass man sich zu Fuß gerade noch daneben durchquetschen konnte. Mit dem Fahrrad konnte sie das vergessen. Kein Durchkommen. Vorbei. Sie grunzte frustriert. Wendete das Rad in dem Flur, der dafür nicht gemacht war, und karrte den Drahtesel wieder in den Keller. Danach packte sie ihre Tasche fester, öffnete die Haustür und trat mit voller Wucht gegen die rechte Seitentür.

»Was soll denn das?«, tönte es da herrisch hinter ihr. Der Besitzer der Karosse war im Flur aufgetaucht, die Autoschlüssel in der Hand. »Biste nicht mehr richtig im Kopf, Frau?«

»Nehmen Sie ihre verdammte Karre da weg!«, blaffte sie zurück. »Hier ist Halteverbot! Wer soll denn da durchkommen?!«

»Wenn du mehr Sport treiben würdest, hätteste damit kein Problem, dumme Kuh!« Der Mann stieß sie zur Seite, ging in die Hocke und begutachtete den Schaden. »Das wird dich ganz schön was kosten. Aber ganz schön!« Er kam wieder in die Senkrechte, mit hochrotem Kopf. Dann zückte er eine Visitenkarte und hielt sie ihr auffordernd unter die Nase. »Ich hoffe mal, du bist versichert. Und wenn nicht, ist es auch egal – Hauptsache, du zahlst!«

Sie nahm die Karte und hastete zur Tram. »Arschloch«, heulte sie dabei vor sich hin, »das nächste Mal hol ich die Polizei. Dann wirst du abgeschleppt!« Gleichzeitig verdammte sie sich für ihren impulsiven Tritt, der ihr jetzt soviel Ärger einbrachte.

Im TENTEN angekommen, machte sie sich Luft. Der Barista hörte sich ihren Ärger an, lächelte ihr zu und stempelte ihre Rabattkarte gleich zweimal ab. Sie lächelte wieder. Es würde sich schon wieder alles einrenken. War doch nur ein Auto. Und wenigstens wusste der Typ jetzt, dass mit ihr nicht zu spaßen war.

Auf der Arbeit angekommen, holte sie die Visitenkarte aus der Tasche, kritzelte ein Galgenmännchen darauf und schob sie in ihr Portemonnaie. Die Arbeit rief.

 

Eine Woche später saß sie wieder in ihrer kleinen, einen Quadratmeter großen Telefoniebox. Umgeben von Vorschriften, an die sich keiner hielt, mit dem leeren Auftragszettel vor der Nase und dem Kopfhörer auf den Ohren. Neben ihr stand der Caramelmacchiato. Den hatte sie heute umsonst bekommen. Ihr Barista hatte ihr nach einem Blick in den Becher die drei Euro zwanzig einfach wieder zurückgegeben und mit einem schon fast mitleidigen Lächeln gemeint, dass sie ihr Geld heute anderweitig brauchen würde. Sie schüttelte den Kopf. Woher konnte er von der Nachricht wissen, die sie heute Morgen aus ihrem Briefkasten gefischt hatte?

Da erklang auch schon wieder der Ton des Wählapparats in der rechten Hörmuschel. Wie in Trance sagte sie ihr Sprüchlein auf, fragte, ob denn der Herr Schmidt persönlich zugegen sei, und wappnete sich gleichzeitig gegen eine weitere Abfuhr.

»Was erlauben Sie sich eigentlich? Was erdreisten Sie sich, mich zu stören?«, bellte es in ihr Ohr.

»Ich, äh, es tut mir leid, ich möchte wirklich nicht …«, stammelte sie. »Wann passt es Ihnen denn besser, Herr Schmidt?«

»Für Ihren Verein bin ich überhaupt nicht zu sprechen, aber das habe ich schon zig Kollegen vor Ihnen gesagt. Belästigen Sie mich nicht weiter, verstanden?«

»Natürlich, Herr Schmidt, es liegt uns fern …«

»Jetzt hören Sie mir mal zu, Sie Telefonschlampe! Ich weiß, dass es Ihr Job ist, mich zu nerven. Aber trotzdem – ich bin Kunde bei Ihnen. Fragt sich nur wie lange noch. Inkompetentes Gesindel! Wie oft muss ich noch sagen, dass ich keine weiteren Anrufe haben will?«

Und so ging es weiter. Jedes Mal, wenn sie zu einer Erwiderung ansetzen wollte, warf er ihr neue Schmähungen an den Kopf, sodass sie am liebsten aufgelegt hätte. Aber das war ja strengstens verboten. Es galt als Zeichen mangelnden Respekts, wenn man den Kunden aus der Leitung schmiss.

Da geschah etwas Seltsames mit ihr. Je länger er sie anbrüllte, desto weniger berührte es sie. Stattdessen ließ sie den Blick über seine Daten gleiten. Schmidt. Okay. Allerweltsname. Kaiserstraße. Welch ein Zufall! Sie wurde aufmerksam. Düsseldorf. Nun war sie hellwach. Schnell kontrollierte sie noch einmal Straßenname und Hausnummer. Dann zuckte ein bissiges kleines Lächeln über ihre Züge.

»… wissen Sie was, Sie dämliche Ziege, Sie? Ich will ihren Vorgesetzten sprechen. Auf der Stelle!«

»Ich nehme Sie aus dem System heraus, Herr Schmidt. Sofort.« Ihre Worte klangen monoton. Dann zwang sie sich zu einem hörbaren Lächeln. »Keine Sorge. Sie werden nichts mehr von uns hören!«

»Das will ich aber auch hoffen«, knurrte es noch einmal in ihrem Kopfhörer, dann klickte es vernehmlich. Sie stellte sich auf Kurzpause, ging auf das Damen-WC und wusch sich das Gesicht.

Über dem Spiegel starrte sie in den Spiegel.

»Ich weiß, wo du wohnst, Arschloch«, zischte sie.

 

Am Abend lauschte sie hinter ihrer Wohnungstür auf die Schritte im Treppenhaus. Als sie das charakteristische Schleifen seiner Sohlen auf den beigen Stufen hörte, wartete sie noch eine Stunde. Dann griff sie sich ihre Handtasche und den Haustürschlüssel und machte sich auf in den fünften Stock. Ein letzter Blick auf das Namensschild verschaffte ihr die nötige Sicherheit. Ihr Zeigefinger legte sich wie von selbst auf den Klingelknopf. Sie musste Sturm läuten, laute Musik wummerte durch die Wohnungstür.

Als das Arschloch die Tür aufmachte, zwang sie sich zu einem strahlenden Lächeln.

»Ich wollte Ihnen das Geld für die Reparatur der Autotür vorbeibringen, Herr Schmidt«, rief sie über den Lärm hinweg. »Lassen Sie mich kurz eintreten?« Sie zückte den Umschlag, den sie heute Morgen in ihrem Briefkasten gefunden hatte und der jetzt prall mit Geld gefüllt war.

Er grinste schmierig. »Immer herein.« Er nahm ihr den Umschlag ab, machte einen Schritt zur Seite und ließ sie in die Wohnung. »Bitte, bitte!« Mit einer Handbewegung komplimentierte er sie ins Wohnzimmer. Sie folgte dem Wink. Einen Moment später hatte er die Musik einen Tick leiser gestellt. »Warum eigentlich in bar?«, fragte er, nachdem er den Briefumschlag lässig auf den Esstisch geworfen hatte.

»Ist doch viel persönlicher, meinen Sie nicht, Herr Schmidt?« Sie stand unschlüssig auf der freien Stelle zwischen Essbereich und Couchgarnitur. »Wollen Sie denn gar nicht nachschauen, ob es stimmt?«

»Ach, wenn nicht, weiß ich ja, wo es mehr zu holen gibt.« Er grinste wieder. Diesmal noch schmieriger als vorhin. Dann machte er einen Schritt auf sie zu und musterte sie von oben nach unten und wieder zurück. »Du willst es also persönlich gestalten, was? Leider bist du überhaupt nicht mein Fall. Also, lassen wir es dabei bewenden. Und nun raus! Ich will meine Ruhe haben.«

»Nicht bevor Sie das Geld gezählt und mir den Erhalt quittiert haben! Liegt alles beieinander im Umschlag.« Ihre Stimme überschlug sich fast.

»Na, wenn’s denn so ernst ist, bitte.« Er nahm den Umschlag auf, ließ die Scheine durch seine Finger gleiten.

Als er sich über den Esszimmertisch beugte, um die Quittung zu unterschreiben, griff sie in ihre Handtasche, machte ein, zwei Schritte auf ihn zu. Sie holte mit der rechten Hand aus, schwang den großen Kreuzschlitz mit dem roten Griff durch die Luft und rammte ihn dem sauberen Herrn Schmidt, dem Arschloch-Schmidt, in den ungeschützten Rücken. Wieder und wieder stieß sie zu, bis da viel Blut war – zu viel Blut? Es konnte gar nicht genug sein!

Als sie ging, nahm sie ihren Kreuzschlitz wieder mit. Ebenso den Briefumschlag mit dem Geld. »Die Telefonschlampe dankt«, ätzte sie, als die Wohnungstür ins Schloss fiel.

Sollte man den Schmidt doch finden – wer würde sie schon verdächtigen? So dachte sie, und so wiegte sie sich in Sicherheit.

 

Am nächsten Morgen fuhr sie wieder zur Arbeit. Wie immer machte sie Station im TENTEN, bestellte das Übliche und grinste dabei bescheuert von einem Ohr zum anderen. Das Leben war schön! Und das sollte jeder sehen. Ihr Barista erwiderte das Lachen verblüfft. Er kannte sie so nicht. Normalerweise war sie eine graue, gehetzte Frau. Unscheinbar, dicklich. Von Sorgen umschattet. Heute war sie unscheinbar, dicklich, und dämlich. Er machte sich daran, das Übliche zusammenzumischen, da strömte der Espresso klumpig aus der Maschine, zähflüssig war er, geronnen. Der Barista setzte zum zweiten Versuch an. Sie sah ihm aus glänzenden Augen zu. »Was ist los?«

»Wird gleich«, beschwichtigte er sie. »Schon auf dem Weg. Wie geht’s denn heute Morgen?«

»Oh wundervoll, wundervoll!«, zwitscherte sie. »Es könnte gar nicht besser sein.« Dann beugte sie sich vertraulich über die Theke. »Weißt du noch, als ich mich über den Falschparker beschwert habe? Das Problem ist gelöst.« Sie grinste triumphierend.

Der Barista nickte. »Das freut mich. Dann ist der Weg ja künftig stets frei!« Er lächelte unverbindlich. Danach sah er auf das Muster, das er mit der Karamellsoße auf den Milchschaum gezaubert hatte und erstarrte. Schnell stülpte er den Deckel darauf und gab ihr den Becher. Sie verabschiedeten sich voneinander. So wie immer.

Der Barista nahm hinterher aber noch einmal die Espressotasse zur Hand, in der er den ersten Versuch aufgefangen hatte. Langsam ließ er die Flüssigkeit ablaufen, bis nur noch der Kaffeesatz übrig war. Und er vertiefte sich in den Anblick …

 

Ihre Hochstimmung verflog mal wieder recht schnell. Erst vier Tage später, als man Schmidt aus dem fünften Stock abtransportierte, kehrten das Adrenalin und die Spannung in ihren Körper zurück. Als man an ihre Tür klopfte, um sie nach dem Nachbarn zu befragen, sagte sie aus, dass sie ihn kaum gekannt habe. In so einem Haus, in dem die Nachbarn ständig wechselten, sei das aber auch nicht unüblich. Die Polizei zog weiter, anscheinend hatten sie das schon ein paar Mal von ihren Mitbewohnern gehört. Sie blieb mit klopfendem Herzen und dem Gefühl zurück, unbesiegbar zu sein.

Aber dieses Gefühl war wie Gummi, das zu lange im Sonnenlicht gelegen hatte. Es war porös und rissig. Und bald fragte sie sich, ob das Herzklopfen tatsächlich der Freude entsprang oder einer anderen Gemütslage. In der Nacht fand sie keinen Schlaf darüber.

Am nächsten Morgen konnte sie endlich wieder ins TENTEN pilgern. Selten hatte sie den Kaffee nötiger gehabt. Als sie den menschenleeren Laden betrat, sah sie der Barista offen an.

»Ich glaube, heute brauchst du mehr als deinen üblichen Caramelmacchiato.«

Sie nickte. »Seh ich so schlimm aus?«

Er schmunzelte auf charmante Art und Weise. »Nicht schlimm. Nur etwas müde.«

»Was empfiehlst du mir dann?«

»Einen Cappuccino. Für hier.«

Sie nickte. »Gut, ich lass mich überraschen.«

Während die Kaffeemaschine unter seinen kundigen Händen zu Leben erwachte, lauschte sie dem Zischen und Fauchen der Maschine. Sie genoss den Duft frisch gemahlener Kaffeebohnen. Sie dachte an nichts anderes. Alle Gedanken und Gefühle waren für diesen Moment verbannt.

»Bist du schon lange Barista?«, fragte sie schließlich.

»Ich war es schon, als der Begriff hier in Deutschland noch gar nicht bekannt war.« Er lächelte, in die Zubereitung des Cappuccinos vertieft.

»Du machst das gerne, nicht wahr?« Sie seufzte sehnsüchtig und dachte an ihren derzeitigen Job, von dem sie das ganz und gar nicht behaupten konnte.

Der Barista nickte. »Der Kaffee spricht zu mir. Ich kann gar nicht anders, als ihm zuzuhören.«

Sie sah ihn an. »Mit Verlaub – du spinnst. Aber spinn weiter, wenn da so herrliche Sachen bei herauskommen.« Sie lächelte kurz, dann beugte sie sich vor. »Was machst du da?«

Der Barista sah in die Tasse, die er vor sich gestellt hatte, schüttete den Inhalt kurz entschlossen in das Spülbecken hinter sich. »Nichts. Es ist misslungen.«

»Nicht doch!« Sie sah ihn erschrocken an.

Die Maschine zischte und fauchte und spuckte erneut.

Wieder floss die braune Pracht in die Weite der Cappuccinotasse. Er sah dieses Mal sehr genau in die Verwirbelungen und Strömungen. Kurz nickte er. Ja, er hatte verstanden. Schließlich stellte er die Tasse auf den Tresen, nahm das Kännchen mit der aufgeschäumten Milch zur Hand und ließ die weiße Herrlichkeit auf den Kaffee laufen. Mit ein paar Handbewegungen verwirbelte er Crema und Milchschaum, sodass sich ein Bild abzeichnete. Mit ein paar Strichen dunklen Schokoladensirups hob er die Einzelheiten hervor.

Als er ihr das Kunstwerk schließlich präsentierte, fragte er leise: »War das denn wirklich nötig?«

Sie schreckte hoch. »Was meinst du?« Ihre Stimme bebte. Dann sah sie auf die Zeichnung auf dem Cappuccino. Ein grinsender Totenkopf über gekreuzten Knochen lachte ihr entgegen. Sie wich ein paar Schritte zurück, dann drehte sie sich hastig herum, sodass sie einen Stuhl umwarf, stürmte aus dem Laden und quer über die Straße.

Ihre wilde Flucht nahm ein jähes Ende, als die Straßenbahn um die Ecke bog und nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte.

Der Kaffee wurde kalt.