Die Drei Fragezeichen
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Drachenblut

Kosmos

Umschlagillustration von Silvia Christoph, Berlin

Umschlaggestaltung von eStudio Calamar, Girona, auf der Grundlage

der Gestaltung von Aiga Rasch (9. Juli 1941 – 24. Dezember 2009)

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele

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© 2019, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Mit freundlicher Genehmigung der Universität Michigan

Based on characters by Robert Arthur

ISBN 978-3-440-16603-1

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

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Das Auge des Drachen

erzählt von André Marx

Luftangriff

Es war ein warmer, sonniger Tag. Justus Jonas marschierte mit geschultertem Rucksack und Wanderstab in der Hand durch den schattigen Wald. Neben ihm floss ein kleiner Bach. Justus lauschte dem Plätschern des Wassers und beantwortete gut gelaunt die Fragen des Interviewers.

»Wie ich hörte, haben Sie sogar ein richtiges Detektivbüro, Ihre sogenannte Zentrale.«

»Das stimmt. Ein überaus modern eingerichtetes Hightechbüro mit gediegener Innen- und Außenarchitektur, die neue Maßstäbe setzt. Außerdem liegt unser Firmensitz in einem Gebiet von Rocky Beach, das sich durch eine aufregende und perfekt auf unsere Bedürfnisse zugeschnittene Infrastruktur auszeichnet.«

Sein Gegenüber räusperte sich. »Tatsächlich? Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie in einem uralten, halb vergammelten Campinganhänger auf dem Schrottplatz Ihres Onkels hausen.«

»Das sagte ich doch«, gab Justus ungerührt zurück.

Der Interviewer nickte wissend. »Wieso nennen Sie und Ihre Kollegen sich ›die drei ???‹?«

»Das ist ganz einfach: Das Fragezeichen ist ein Symbol für alles Unbekannte. Für Fragen, die nach einer Antwort verlangen, für Rätsel, die gelöst werden wollen, für Geheimnisse und Mysterien. Da wir als Detektive versucht sind, diese Mysterien zu lüften, erschien mir das Fragezeichen als Firmensymbol äußerst geeignet.«

»Und Sie haben in Ihren jungen Jahren tatsächlich schon ein paar Fälle gelöst?«

»Eine Menge sogar«, brüstete sich Justus. »Und einer war geheimnisvoller als der andere.«

»Wenn Sie sich und Ihre Kollegen charakterisieren sollten, besonders in Bezug auf Ihre Arbeit, wie sähe das dann aus? Hat jeder von Ihnen besondere Fähigkeiten und Aufgabenbereiche?«

»Ich bin dankbar, dass Sie das fragen. Wir arbeiten immer als Team. Daher glauben viele Leute, jeder von uns hätte den gleichen Stellenwert innerhalb des Trios. Das ist natürlich nicht so. Tatsächlich bin ich es, der die meiste Arbeit macht. Ich bin der Einzige, dessen Intellekt den vielen schwierigen Aufgaben, denen wir in der Vergangenheit gegenüberstanden, gewachsen war. Meine Kollegen, nun ja, wissen Sie … Bob Andrews ist ja ein netter Kerl und durchaus nicht unintelligent, aber am besten eignet er sich doch immer noch für Handlangerarbeiten. Sie wissen schon, die zeitraubende Recherche erledigen, der ganze Bürokram, Besorgungen machen und so weiter. Und was Peter Shaw angeht, tja, wenn ich recht darüber nachdenke, weiß ich selbst nicht so genau, warum er eigentlich dabei ist.«

»Ach, tatsächlich.« Sein Gegenüber gab sich keine Mühe, seinen Unmut zu verbergen.

»Ja. Die meiste Zeit ist er ein Klotz am Bein. Ständig hegt er Zweifel an allem, was wir tun. Er ist eine permanente Bremse, die meine geistige Arbeit behindert. Andererseits eignet er sich manchmal ganz gut, um gefährliche Situationen zu meistern, die einen gewissen körperlichen Einsatz erfordern.«

»An Hausfassaden bis zum neunten Stock emporklettern zum Beispiel?«

»Zum Beispiel.«

»Oder ohne Sauerstoffgerät kilometerweit tauchen, um einen Schatz zu bergen?«

»Genau.«

»Oder wilde Tiere ablenken, damit Sie sich in Sicherheit bringen können?«

»Richtig. Diese Art von Dingen.«

»Er ist also sozusagen das Kanonenfutter in Ihrem Trio.«

»Wenn Sie so wollen.«

Sein Gesprächspartner ließ den abgebrochenen Ast, der ihm als Mikrofon gedient hatte, herumwirbeln und bespritzte Justus mit Wasser aus dem Bach. »Du Blödmann!«

Justus brachte sich lachend in Sicherheit. »Wieso bin ich ein Blödmann? Du hast angefangen mit diesem Interview. Kann ich was dafür, wenn du die Wahrheit nicht vertragen kannst?«

»Na warte, Justus Jonas«, sagte Peter und beugte sich zum Wasserlauf hinunter, die Hände zu einer Schaufel zusammengelegt. »Jetzt zeig ich dir, wozu das Kanonenfutter sonst noch fähig ist!« Mit voller Wucht spritzte er Justus nass. Der suchte das Weite, doch so schnell gab Peter sich nicht geschlagen. Er langte noch tiefer in den Bach hinein, schöpfte eine Hand voll Schlamm heraus und warf sie nach dem fliehenden Ersten Detektiv.

Justus schrie in gespielter Panik, holte Bob ein, der ein Stück vor ihnen gegangen war, und versteckte sich hinter ihm. »Hilf mir, Bob, das Kanonenfutter will sich rächen!«

»Das was?«

»Wehe, du schützt ihn, Bob!«, rief der mit einem weiteren Schlammklumpen bewaffnete Peter von hinten. »Er hat mich tief in meiner Ehre verletzt! Und dich übrigens auch!«

»Ich habe nur«, begann Justus und benutzte Bob als Schutzschild, »die Wahrheit gesagt!«

»Jetzt geht’s dir an den Kragen! Bob! Duck dich!«, rief Peter und schleuderte den Schlammball los.

Bob duckte sich nicht. Stattdessen drehte er sich zum Zweiten Detektiv um. »Hört doch auf mit diesen albernen –«

PLATSCH!

»Oh. Oh! Das … das war wirklich keine –« Peters Entschuldigung ging in Justus’ wieherndem Gelächter und Bobs Wutgebrüll unter.

»Na, warte.« Überraschend schnell sprintete Bob los, grub seine Hände tief in den Matsch und warf ihn nach Peter.

FLATSCH!

»Treffer!«, johlte Justus und kriegte sich vor Lachen kaum ein, als Peter der Schlamm durch die Haare lief. »He, Zweiter, du solltest mal deinen Friseur wechseln.«

Bob und Peter nickten sich vielsagend zu.

»Oh nein«, sagte Justus und wich zurück.

»Oh doch.«

»He, ich bin absolut unschuldig! Nur weil du mir rhetorisch nicht gewachsen bist, musst du noch lange nicht –«

FLOTSCH!

Innerhalb weniger Augenblicke entbrannte eine wilde Schlammschlacht, bei der jeder seine Abreibung bekam. Nach zwei Minuten sahen alle drei aus, als hätten sie sich drei Wochen lang durch das Amazonasdelta gekämpft.

»Stopp!«, rief Justus keuchend. »Ich nehme alles zurück und gebe mich geschlagen!«

»Ich auch!«, sagte Bob. »Obwohl ich gar nichts gemacht habe.«

»Na schön«, gab sich Peter zufrieden, der als Einziger noch nicht außer Puste war. Er betrachtete seine Freunde: Justus klebte ein riesiger Matschkloß im Haar, während Bobs Augen unheimlich weiß aus einer schwarzbraunen Masse hervorleuchteten. »Ihr seht aus, als hättet ihr ein ausgiebiges Bad in … na ja, lassen wir das. Auf jeden Fall echt übel.«

»Das trägt man jetzt so«, behauptete Bob.

Fünf Minuten später saßen sie auf einer sonnigen Wiese abseits des Waldweges und versuchten, ihre Gesichter mit Grasbüscheln zu reinigen.

»Du bist echt bescheuert, Peter«, sagte Justus. »Wir sehen aus wie die letzten Schweine.«

»So eine Schlammmaske ist gut für die Haut.«

»Und fürs Haar auch, nehme ich an?«

»Klar. Und fürs T-Shirt.«

»Gebt es auf, Kollegen«, riet Bob. »Da hilft nur eine Dusche zu Hause. Hoffen wir einfach, dass wir niemandem bei unserem Picknick begegnen. Sonst kriegen wir noch eine Anzeige wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses.«

»Ich sehe hier nur ein einziges öffentliches Ärgernis«, sagte Peter und blickte zu Justus.

Doch der Erste Detektiv ließ sich nicht mehr provozieren. Seine Aufmerksamkeit galt den prall gefüllten Rucksäcken. »Picknick! Fast hätte ich den Grund für unseren Ausflug vergessen, Bob!«

»Du? Niemals!«

»Womit fangen wir an? Mit dem berühmten Andrews’schen Kartoffelsalat, den Frikadellen von Mr Shaw oder Tante Mathildas Kirschkuchen?«

»Mit gar nichts!«, sagte Peter. »Wir wollten doch eigentlich noch ein Stückchen wandern, oder?«

»Unmöglich«, sagte Justus entschieden. »Diese Schlammschlacht hat mich völlig entkräftet. Ohne eine Stärkung kann ich mich keinen Meter weiterbewegen.«

Schon bald hatten sie alle Rucksäcke ausgepackt und machten sich über das Meer aus Fressalien und Getränken her. Insgeheim glaubte niemand daran, dass sie noch weiterwandern würden.

»Herrlich«, seufzte Peter und ließ die letzten Krümel Kokosmakronen in seinen Mund rollen. »Endlich mal nichts tun und nur den Bauch in die Sonne halten!« Er ließ sich ins weiche Gras zurückfallen und schloss die Augen. »Wer hätte gedacht, dass ich das noch mal mit euch zusammen erlebe: einen ganz normalen Sommertag nach der Schule, ein Picknick im Grünen, keine Aufregung, kein Stress, kein neuer Fall, der mir die letzten Nerven raubt, niemand, der uns verfolgt, niemand, den wir verfolgen müssen, keine verschwundenen Schätze, Geistererscheinungen, Angriffe aus dem Hinterhalt, keine finsteren Machenschaften, keine ominösen Auftraggeber, keine Intrigen, Komplotte und Verschwörungen, nichts, wovon man nachts nicht schlafen kann, keine gruseligen Häuser mit finsteren Kellern und noch finstereren Geheimnissen. Ganz einfach Ruhe und Frieden und Sonne und Kirschkuchen. Wunderbar.«

Ein Schrei hallte durch den Wald und riss Peter aus seinen Träumen. Er fuhr hoch. »Was war das?«

»Da schreit ein Kind!«

»Hiiilfeee!« Der Schrei war markerschütternd schrill. Dann ein helles Krächzen und Kreischen: »Keeaah!«

Die drei Detektive sprangen auf. »Es kam von dort!«, rief Bob und rannte auf den Rand der Wiese zu, die von dichten Büschen begrenzt wurde. Er hechtete durch das Gestrüpp und lief dem Schreien nach durch ein kleines Waldstück, das auf eine Lichtung führte.

Dort stand ein etwa sechsjähriges Mädchen. Es hielt seine Hände vor das Gesicht und starrte wimmernd in den Himmel. Bob folgte ihrem Blick und nahm gerade noch einen großen Schatten wahr, der flatternd in den Bäumen verschwand.

Das Mädchen bemerkte die drei ???, zuckte zusammen und wich einen Schritt zurück.

»Keine Angst, wir wollen dir helfen!«, sagte Bob. »Bist du verletzt?«

Sie nickte stumm. Ihre angstgeweiteten Augen blickten von einem zum anderen.

Nun trat Justus vor. »Lass mich mal sehen«, bat er und nahm vorsichtig ihre Hände von ihrem Gesicht.

Justus zuckte zusammen. Auf ihrer Stirn prangten einige blutende Kratzer, als hätte sie einen Kampf mit einer Katze gehabt. Auch ihre Arme waren zerkratzt. An einigen Stellen lief ihr das Blut über die Haut.

»Ist nicht so schlimm«, sagte Justus, um sie zu beruhigen, obwohl es eigentlich schon ziemlich schlimm aussah. »Wie … wie ist das passiert? War das eine Katze?«

Noch immer blickte sie Justus panikerfüllt an. Sie zitterte am ganzen Leib und ihre Stimme war kaum zu verstehen, als sie sagte: »Es … es war ein Drache! Ein Drache hat mich angegriffen!«

Von Drachen und Trollen

»Was?«, fragte Justus. »Ein … ein Drache?«

»Er … er ist … ist gerade in die Bäume geflogen! Es tut so weh!« Die Tränen rannen ihr über das Gesicht und noch immer starrte sie die drei Detektive an, als kämen sie nicht von dieser Welt. »Seid … seid ihr Trolle?«

Justus glaubte, sich verhört zu haben. »Wie bitte? Trolle?«

»Habt ihr den Drachen geschickt? Oder habt ihr ihn verjagt?«

Die drei ??? sahen einander verdutzt an. »Sie ist völlig verwirrt«, bemerkte Peter. »Hör mal, Kleine, wie heißt du?«

»Emily«, schluchzte das Mädchen.

»Also, Emily: Du blutest ein bisschen. Es ist nicht schlimm, aber wir wollen ja nicht, dass sich die Kratzer entzünden. Ein Stückchen durch den Wald Richtung Straße ist ein Haus. Dort können wir dich verarzten. Was meinst du, sollen wir zusammen hingehen?«

Emily nickte und wischte sich schniefend die Tränen aus dem Gesicht. »Wenn ihr keine Trolle seid, was seid ihr dann?«

Bob begriff, wovon sie sprach. »Ganz normale Menschen. Das ist nur Schlamm in unseren Gesichtern, nichts weiter.«

Sie schien erleichtert, obwohl sie noch immer schluchzte. »Aber den Drachen habt ihr doch auch gesehen, oder?«

Peter runzelte die Stirn. »Um ehrlich zu sein …«

»Ich habe etwas gesehen«, sagte Bob. »Als ich auf die Wiese lief, verschwand es gerade in den Bäumen. Ich habe aber nicht mehr erkannt, was es war.«

»Ein Drache! Das habe ich doch gesagt!«

»Ach ja«, antwortete Bob. »Schön. Äh …«

»Komm, Emily, wir beeilen uns besser«, sagte Peter und ging ein paar Schritte vor. Und ehe er sich’s versah, war Emily schon an seiner Seite und griff nach seiner Hand.

Als sie sich auf den Weg machten, bemerkte Bob etwas im Gras: einen zerfledderten Strauß aus gelben Wiesenblumen. Bob hob ihn auf und zeigte ihn Emily. »Gehört der dir?«

»Ja«, sagte Emily, nahm die Blumen entgegen und presste sie an ihre Brust wie einen wertvollen Schatz.

»Nun erzähl noch mal von Anfang an«, bat Peter, als er das Gefühl hatte, dass Emily sich langsam beruhigte. Sie betrachtete aufmerksam die Kratzer an ihrem Arm. Sie bluteten nicht mehr und Emily schien zu überlegen, ob es sich lohnte, dafür noch Tränen zu vergießen. »Was genau ist passiert?«

»Ich weiß auch nicht genau. Ich bin einfach rumgelaufen. Und dann war ich beim Drachenauge. Und dann habe ich diese Zauberblumen hier für die Elfenkönigin gepflückt. Und dann kam plötzlich der Drache und hat mich angegriffen. Auf einmal hatte ich seine Krallen am Arm und im Gesicht. Er hatte sich in meinen Haaren verfangen und schlug total wild mit den Flügeln.«

»Wie groß war denn der … Drache?«

»Ungefähr so«, sagte Emily und hielt ihre Hände etwa einen halben Meter auseinander. »Mit Flügeln.«

»Ein Minidrache also«, bemerkte Justus spöttisch.

»Ihr glaubt mir wohl nicht«, erwiderte Emily trotzig und wischte die letzte Träne von der Wange. »Aber es stimmt trotzdem. Ich kann nämlich Sachen sehen, die andere Leute nicht sehen. Drachen zum Beispiel. Ihr könnt das nicht, oder?«

»Äh … nein«, gestand Peter.

»Hör mal, Emily«, sagte Bob vorsichtig. »Vielleicht war es was anderes. Etwas, das nur so aussah wie ein Drache. Ein großer Vogel vielleicht.«

»So ein Blödsinn, Bob«, sagte Peter. »Vögel greifen doch keine Menschen an! Höchstens in Hitchcock-Filmen.«

»Es war ein Drache«, beharrte Emily. »Er hatte sogar Schuppen. Haben Vögel etwa Schuppen? Nein.« Sie ließ Peters Hand los und ging hoch erhobenen Hauptes voraus.

Bald kam das Haus in Sicht. Es war ein kleines, schlichtes Holzgebäude am Waldrand. Die drei Detektive und Emily schlugen sich durchs Unterholz zur Veranda durch. Dort saß ein blonder Mann in einem Schaukelstuhl und las, neben ihm auf einem kleinen Tisch stapelte sich ein Dutzend dicker Bücher. Als er die drei Detektive und Emily bemerkte, nahm er seine Brille ab, erhob sich und trat an das hölzerne Geländer.

»Nanu, Emily! Was ist denn mit dir passiert?« Irritiert musterte er die drei ???. »Guten Tag.«

»Guten Tag, Sir«, begrüßte Justus den Mann. »Entschuldigen Sie die Störung. Aber Emily ist verletzt und müsste verarztet werden. Haben Sie zufällig etwas Jod und Pflaster im Haus?«

»Zufällig ja. Und zufällig auch frisches Wasser und Seife. Es sei denn, das ist eine neue Mode, die ich irgendwie verpasst habe.«

Justus brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, worauf ihr Gegenüber hinauswollte. »Verzeihen Sie, wir –«

»Dr. Wakefield!«, rief Emily, trennte sich von den drei Detektiven und rannte die drei Stufen zur Veranda hinauf. »Ein Drache hat mich angegriffen! Und dann kamen diese drei Trolle. Ich meine, eigentlich sind es natürlich gar keine Trolle, aber sie sehen so aus, oder?«

»In der Tat, das tun sie«, antwortete Dr. Wakefield mit einem spöttischen Lächeln. »Aber nun zeig mal deine Kratzer. Wie ist denn das passiert? Bist du in ein Gebüsch gefallen?«

»Neihein«, erwiderte Emily ungeduldig. »Nun hören Sie mir doch mal zu, es war ein Drache!«

»Sie kennen sich?«, erkundigte sich Justus.

»Ja. Ich bin Emilys Augenarzt. Aber nun komm erst mal rein, Emily, damit ich mir das ansehen kann.« Dr. Wakefield legte seinen Arm um Emilys Schulter und führte sie ins Haus. Kurz darauf kehrte er zurück, stellte einen Eimer Wasser auf die Veranda und legte drei Handtücher daneben. »Damit ich mir euch gleich mal ansehen kann.« Damit verschwand er ins Innere des Hauses.

»Oh Mann, wie peinlich«, stöhnte Peter und versuchte, sich den Schlamm aus dem Gesicht zu waschen. »Wir sehen aus wie die letzten Penner. Der Doc muss doch glauben, wir leben im Wald oder so was.«

Innerhalb kürzester Zeit waren die Handtücher verdreckt und das Wasser im Eimer dunkelbraun.

Bob betrachtete eingehend seine Freunde und verzog das Gesicht. »Ihr seht nur bedingt besser aus.«

»Glaubst du, du bist jetzt sauber?«

»Nein«, meldete sich Dr. Wakefield von der Tür zurück und trat hinaus auf die Veranda. Emily hüpfte fröhlich, als sei gar nichts gewesen, hinterher. Ihre Verletzungen waren gereinigt und die größten Kratzer verpflastert worden. Es schien ihr blendend zu gehen. In der einen Hand hielt sie den Blumenstrauß, in der anderen einen Lutscher. »Aber zumindest kann ich nun erkennen, dass ihr tatsächlich keine Trolle seid.« Er reichte ihnen nacheinander die Hand. »Tiberius Wakefield.«

»Ich bin Justus Jonas«, sagte der Erste Detektiv. »Und das sind meine Kollegen Peter Shaw und Bob Andrews.«

»Sehr erfreut. Es war sehr nett von euch, Emily zu mir zu bringen. Sie hat mir erzählt, was geschehen ist. Habt ihr diesen … Drachen … auch gesehen?«

»Ich habe etwas gesehen«, antwortete Bob. »Aber nur ganz kurz. Einen Schatten. Er verschwand in den Bäumen.«

»Dann war es bestimmt ein Vogel?«

Bob zögerte. »Ich weiß, es klingt merkwürdig, aber ich weiß es nicht genau. Ich habe ihn nur für den Bruchteil einer Sekunde gesehen. Natürlich würde ich Ihnen normalerweise zustimmen, aber …«

»Aber wenn Emily sagt, es war ein Drache«, führte Dr. Wakefield den Gedanken weiter, »dann war es vielleicht tatsächlich einer, meinst du?«

»War es auch!«, bekräftigte Emily.

»Meinen Sie das im Ernst?«, fragte Justus irritiert.

Tiberius Wakefield lächelte geheimnisvoll. »Willst du behaupten, Emily hätte gelogen?«

Der Erste Detektiv wusste nicht, was er darauf antworten sollte.

»Wie dem auch sei, ob Drache oder Vogel, das wird wohl nicht zu klären sein. Ich danke euch für eure Hilfsbereitschaft und werde Emily gleich mit dem Wagen nach Hause fahren. Auf Wiedersehen.«

»Verzeihung, Sir«, sagte Justus schnell, »aber wir können sie doch nach Hause bringen. Wir haben Sie schon lange genug aufgehalten. Vorausgesetzt, Emily hat nichts dagegen.«

»Nein!«, rief Emily begeistert.

»Na schön. Aber bitte auf direktem Weg! Wenn etwas passiert …«

»Wir werden gut auf Emily achtgeben«, versicherte Justus.

»Und Emily«, fügte Dr. Wakefield hinzu, wandte sich an das Mädchen und zwinkerte ihr zu, »denk an das, was wir besprochen haben!«

»Klar, Dr. Wakefield!«

Sie verabschiedeten sich und verließen die Veranda.

»Okay, Emily, wohin müssen wir gehen?«, fragte Peter.

»Hier entlang!« Sie ergriff Peters Hand und ging voraus.

In dem Waldstück, das sie durchquerten, herrschte idyllische Ruhe. Die Vögel sangen in der Sonne und eine leichte Brise ließ die Baumkronen rascheln. Die drei ??? hatten sich für ihre sommerliche Wanderung eine Gegend am östlichen Stadtrand von Rocky Beach ausgesucht. Während der zwanzig Minuten, die sie durch den Wald gingen, redete Emily unaufhörlich auf die drei ??? ein. Sie erzählte ihnen von den wundersamsten Geschöpfen, denen sie hier im Wald bereits begegnet sein wollte: Elfen, Einhörnern und Gnomen.

Einmal kamen sie an einem Kreis aus bunt bemalten Findlingen vorbei. In der Nähe war ein Schild aufgestellt, das die Steine als Kunstwerk einer in Rocky Beach beheimateten Künstlerin auswies. »Das ist mein Lieblingsplatz!«, rief Emily begeistert und hüpfte um die Felsbrocken herum. »Das Auge hat mal einem Drachen gehört. Der war ganz böse. Aber dann wurde er von einem Zauberer versteinert. Seht ihr, wie riesig das Auge ist? Der Drache, der mich angegriffen hat, war wohl noch ein Baby.«

Die drei ??? wussten überhaupt nicht, wovon Emily sprach. Sie sahen nur bunte Steine und schüttelten die Köpfe.

»Habt ihr schon mal einen Drachen gesehen?«

»Nein«, antwortete Peter. »Jedenfalls keinen echten.«

»Und Einhörner?«

»Auch nicht.«

»Und Greifen?«

»Nein.«

»Wisst ihr, was Greifen sind? Das sind Löwen mit Flügeln. Die Elfenkönigin sagt, ein paar davon leben auch hier im Wald, aber ich habe noch keine gesehen.«

So ging es den ganzen Heimweg. Doch schließlich erreichten sie die ersten Häuser des kleinen kalifornischen Küstenstädtchens.

»Da wohne ich«, sagte Emily und wies auf das erste Haus in der typisch amerikanischen Vorstadtsiedlung. Eine junge Frau arbeitete im Garten. Sie sah auf, erkannte Emily, ließ sofort die Heckenschere fallen und rannte auf sie zu.

»Hallo, Mama!«

»Emily! Um Himmels willen, was ist denn passiert?« Sie kniete sich hin und betrachtete entsetzt die Pflaster und Kratzer auf Emilys Stirn und Armen. Über ihre Schulter hinweg warf sie den drei ??? argwöhnische Blicke zu.

»Das ist nicht so schlimm, Mama, tut schon gar nicht mehr weh. Dr. Wakefield hat mich verarztet. Und mir einen Lolli geschenkt. Und Justus, Peter und Bob haben mich nach Hause gebracht. Keine Angst, sie sind keine Trolle, auch wenn sie so aussehen.«

Emilys Mutter blickte irritiert von Emily zu den drei ??? und wieder zurück.

Justus lächelte. »Verzeihen Sie unser äußeres Erscheinungsbild. Wir können Ihnen die ganze Geschichte erklären, Mrs …«

»Silverstone«, sagte die dunkelhaarige Frau in hartem Ton. Ihr Blick verfinsterte sich. »Ihr steckt also dahinter! Was habt ihr meiner Tochter angetan?«

»Wie bitte?«, fragte Justus verblüfft. »Gar nichts! Wir –«

»Ich warne euch! Erst diese furchtbaren Geschichten über Trolle und Hexen und den ganzen Mist und jetzt vergreift ihr euch auch noch an ihr!« Sie nahm Emily auf den Arm und stand abrupt auf. »Ich rufe sofort die Polizei!«

Spurensuche

»Aber Mama!«, protestierte Emily. »Die drei haben doch gar nichts getan!«

»Ich bitte Sie, Mrs Silverstone«, sagte Justus ruhig. »Das muss ein Missverständnis sein. Wir haben Ihre Tochter nur nach Hause gebracht.«

Mrs Silverstone, die sich schon umgewandt hatte, blieb stehen und musterte die drei Detektive von oben bis unten. Justus versuchte es mit einem Lächeln. »Und normalerweise sehen wir auch nicht aus, als hätten wir gerade im Schlamm gebadet.«

»Mama, die haben mich vor dem Drachen gerettet!«

»Vor dem Drachen. Soso.« Mrs Silverstone ließ Emily zurück auf den Boden. »Dürfte ich dazu bitte auch eure Version hören?«

»Ihre Tochter hatte einen kleinen Unfall.« Justus erzählte ihr in knappen Sätzen die ganze Geschichte. Nachdem Emily alles bestätigt hatte, entspannte sich Mrs Silverstones Gesichtsausdruck.

»Es tut mir leid. Ich dachte nur … Na ja, ich dachte, ihr wärt jemand anderes. Ich habe immer Angst um Emily, wenn sie allein in den Wald geht. Man muss ja heutzutage wirklich vorsichtig sein. Vielen Dank, dass ihr Emily geholfen und sie nach Hause gebracht habt. Wollt ihr etwas trinken?«

»Gern.«

Mrs Silverstone führte sie durch den Garten nach hinten, wo unter einem Sonnenschirm ein paar Stühle und ein Tisch mit Eistee standen. Die drei ??? nahmen Platz.

Emily hüpfte um sie herum. »Mama, krieg ich ein Eis?«

»Soso, ein Eis willst du. Erst brichst du dein Versprechen und dann willst du Eis.« Emily stand die Enttäuschung deutlich ins Gesicht geschrieben.

»Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst allein nicht so weit in den Wald gehen? Nur bis zum Wanderweg, das hatten wir so abgemacht!«

»Aber ich musste doch der Elfenkönigin die Zauberblumen bringen!« Sie warf einen Blick auf den gelben Blumenstrauß und keuchte erschrocken auf. »Oh, nein! Jetzt habe ich die Elfenkönigin ganz vergessen! Darf ich noch mal zurück?«

»Auf gar keinen Fall!«, sagte Mrs Silverstone streng. »Du hast dir heute schon genug geleistet, junge Dame! Bedank dich lieber bei den dreien, dass sie dir geholfen haben!«

Emily blickte beschämt zu Boden. »Danke schön.«

»So viel Hilfsbereitschaft ist wirklich selten heutzutage. Und dass ihr es nicht einmal Dr. Wakefield überlassen habt, Emily nach Hause zu bringen …«

Justus räusperte sich. »Um ehrlich zu sein, hatten wir dafür noch ein anderes Motiv, Mrs Silverstone.«

»Wie darf ich das verstehen?«

»Nun ja, diese Geschichte mit dem Drachen interessiert uns etwas mehr.«

»Inwiefern?«

»Insofern, als ein nicht genau klassifiziertes Lebewesen einen tätlichen Angriff auf Emily verübt und sie verletzt hat. Diesen Tatbestand würden wir gern näher untersuchen. Möglicherweise war es nichts weiter als ein Unfall mit einem verirrten Vogel …«

»Es war kein Vogel!«, beharrte Emily. »Es war ein Drache!«

»Oder mit einem verirrten Drachen«, fügte Justus hinzu und rang sich ein Lächeln in Emilys Richtung ab. »Möglicherweise war es jedoch etwas anderes. Auf jeden Fall ist es ein ungelöstes Rätsel. Und für Rätsel dieser Art haben wir etwas übrig. Darf ich Ihnen unsere Karte geben?« Justus Jonas kramte eine durch die Schlammschlacht etwas fleckige und zerknickte Visitenkarte aus der Hosentasche und reichte sie Mrs Silverstone.

Mrs Silverstone drehte die Karte zwischen den Fingern und lächelte unsicher. »Und? Ich verstehe nicht ganz.«

»Wir würden gern in diesem Fall ermitteln«, antwortete der Erste Detektiv. »Wir sind sozusagen spezialisiert auf mysteriöse Vorkommnisse dieser Art.«

»Mir war nicht klar, dass man sich auf Drachenangriffe spezialisieren kann.«

»Was habt ihr denn vor?«, fragte Emily neugierig.

»Wir wollen versuchen, diesen Drachen zu finden«, erklärte Peter und sah Justus fragend an. »Stimmt doch, oder, Just?«

»Den Drachen oder was immer es sonst war.«

»Au ja!«, rief Emily und hüpfte aufgeregt auf der Stelle. »Dann können wir ihn einfangen und in den Zoo bringen!«

»Kollegen«, sagte Bob und legte Emily eine Hand auf die Schulter, »ich würde sagen, wir haben eine neue Auftraggeberin. Vorausgesetzt, Sie haben nichts dagegen, Mrs Silverstone.«

Emilys Mutter war überrascht, schüttelte aber den Kopf. »Nein, warum sollte ich. Wenn ihr meint, dass ihr etwas herausfinden könnt – bitte sehr!«

Peter wandte sich an Emily: »Emily, sollen wir den Drachen für dich finden?«

Sie sah den Zweiten Detektiv mit großen Augen an. »Was muss ich denn dafür tun?«

»Einfach Ja sagen.«

»Kostet das was?«

»Nein.«

»Jaaa!« Emily strahlte die drei ??? an.

»Dann können wir uns ja gleich an die Lösung des ersten Rätsels machen«, sagte Justus. »Mrs Silverstone, darf ich Ihnen eine Frage stellen? Als Sie von dem Drachen hörten, wirkten Sie nicht im Mindesten überrascht. Das hat mich etwas gewundert.«

Anstatt sofort zu antworten, wandte sich Mrs Silverstone an ihre Tochter: »Emily, mein Schatz, ich würde vorschlagen, du gehst jetzt in dein Zimmer, was meinst du?«

Emily war nicht begeistert. »Darf ich Peter mein Zimmer zeigen?«

»Da musst du schon Peter fragen, ob er mitkommen will.«

»Peter, willst du mitkommen?«

Er warf seinen Freunden einen gequälten Blick zu.

»Ich denke, wir können dich für einen Augenblick entbehren«, sagte Justus aufmunternd.

»Na schön«, sagte Peter und erhob sich. »Dann zeig mir mal dein Zimmer, Emily.«

Als Peter und Emily ins Haus verschwunden waren, fuhr Mrs Silverstone fort: »Du hast recht, Justus, der Drache hat mich nicht im Mindesten überrascht. Warum auch? Riesen, Kobolde, Trolle, Zauberblumen für die Elfenkönigin – Emilys Welt ist bevölkert mit den fantastischsten Dingen und Geschöpfen. Das ist nichts Neues für mich. Ein Drache mehr oder weniger macht da keinen Unterschied.«

»Einen kleinen Eindruck davon haben wir schon auf dem Weg hierher bekommen«, sagte Bob.

Mrs Silverstone nickte. »Ich weiß nicht, woher sie diese Geschichten hat. Emily sagt, die Elfenkönigin hätte ihr davon erzählt. Aber die ist wahrscheinlich auch nur erfunden. Als ihr vorhin am Gartentor auftauchtet, dachte ich erst, ihr würdet dahinterstecken.« Sie lachte kurz auf, wurde aber sofort wieder ernst. »Wo auch immer sie diese Märchen aufgeschnappt hat, Emily lebt in ihrer eigenen Welt. Im Herbst kommt sie in die Schule und ich befürchte, dass die anderen Kinder sie auslachen werden. Sie spricht ständig von Dingen, die außer ihr niemand sieht. Ich war mit ihr deshalb sogar bei einem Augenarzt.«

»Bei Dr. Wakefield«, vermutete Bob.

»Richtig. Er hat Emily genau untersucht. Ich hatte fast gehofft, er würde etwas finden. Irgendeine Sehschwäche, die erklärt, was mit ihr los ist. Aber natürlich fand er trotz der zahlreichen Tests nichts. Er sagte, sie sei ein ganz normales Kind mit einer blühenden Fantasie. Ich solle stolz auf sie sein, anstatt mir Sorgen zu machen.« Sie seufzte. »Na ja, vielleicht hat er recht. Aber manchmal ist es schwierig mit ihr. Zum Beispiel heute.«

Justus nickte. »Ich verstehe. Allerdings übersehen Sie da etwas, Mrs Silverstone. Heute ist Emily verletzt worden. Und das war auf gar keinen Fall das Produkt einer überreizten kindlichen Fantasie. Ein merkwürdiges Geschöpf treibt in diesem Wald sein Unwesen.« Justus zupfte an seiner Unterlippe, dann lächelte er. »Und wenn wir unsere Auftraggeberin nicht enttäuschen wollen, müssen wir herausfinden, was für ein Geschöpf das ist.«

»Und das hier«, sagte Emily und zeigte stolz auf ein Bild an der Wand, »ist ein Einhorn. Toll, nicht?«

»Hmm«, machte Peter und nickte. Er sah nur eine große gelbe Fläche auf einem Blatt Papier. Emily hatte das halbe Zimmer mit ihren Bildern tapeziert. Viele von ihnen waren einfach nur gelb bemalt, andere knallbunt. Auch sonst war es das ganz normale Zimmer eines ganz normalen sechsjährigen Mädchens inklusive Barbie-Traumhaus, bunten Filzstiften und bestickten Kissen im Puppenbett. »Wirklich toll.«

Emily verzog das Gesicht. »Du siehst das Einhorn gar nicht.«

»Was? Äh, doch, klar. Ein super Einhorn, echt!«

»Du siehst es nicht«, behauptete Emily weiterhin. »Aber das ist ja auch kein Wunder. Es ist nämlich ein verzaubertes Einhorn. Das kann nur ich sehen.«

»Ach so«, sagte Peter und lächelte. »Ich hatte mich schon gewundert. Weißt du, so ganz richtig sehe ich es nämlich wirklich nicht.«

»Hab ich’s doch gewusst! Weißt du was?«

»Nein.«

»Ich kann sogar verzauberte Schätze finden.«

»Ach, echt?«

»Ja. Aber verrat das keinem, okay?«

»Nein, mach ich nicht.«

Emily schien erleichtert. Sie nahm das Bild mit dem unsichtbaren Einhorn von der Wand und reichte es Peter. »Hier. Schenke ich dir!«

»Oh! Danke schön!« Peter betrachtete das Papier, tat so, als würde er sich freuen, und faltete es zusammen.

»Emily!«, rief Mrs Silverstone von draußen. »Komm wieder runter! Justus und Bob möchten sich verabschieden!«

»Ooch«, sagte Emily enttäuscht. »Musst du schon gehen?«

»Na ja, wir müssen doch jetzt ermitteln, weißt du?«

»Ermitteln?«

»Ja. Den Drachen suchen.«

»Ach so, klar! Kommst du morgen wieder?«

»Mal sehen. Wenn wir noch Fragen haben, bestimmt.«

Sie gingen hinunter und die drei ??? verabschiedeten sich von Emily und Mrs Silverstone.

»Die drei Detektive müssen jetzt ermitteln«, erklärte Emily ihrer Mutter.

»Ich verstehe«, antwortete Mrs Silverstone lächelnd. »Dann wünsche ich euch viel Erfolg dabei! Wenn ihr den Drachen findet, dann sagt ihm, dass ich sehr böse auf ihn bin!«

»Machen wir«, lachte Justus. »Auf Wiedersehen!«

»Seht mal, hat Emily mir geschenkt«, sagte Peter und zeigte seinen Freunden das Einhornbild, als sie in die kühlen Schatten des Waldes traten.

»Na, da haben wir ja mal eine ganz ungewöhnliche Klientin«, sagte Bob gut gelaunt. »Und sie hat sich auch gleich ein Lieblingsfragezeichen ausgesucht. Nicht wahr, Peter?« Der Zweite Detektiv grinste gequält. »Sehr witzig.«

»Mach dich nicht lustig, Bob«, tadelte Justus. »Es kann nicht schaden, einen guten Draht zur Auftraggeberin zu haben.«

»Schon, aber muss er denn gleich mit ihr Händchen halten?«

Peter verdrehte die Augen. »Könnten wir bitte das Thema wechseln?«

»Gerne. Du hast den besten Orientierungssinn, Zweiter. Führ uns zurück zum Tatort!«

»Kein Problem.« Peter übernahm die Führung und schon bald erreichten sie die kleine Lichtung, auf der Emily angegriffen worden war. Auf der Wiese waren noch deutlich ihre Spuren zu erkennen. Ein paar fallen gelassene gelbe Blumen lagen im hohen Gras.

»Hey!«, rief Justus und hob etwas vom Boden auf. Triumphierend drehte er eine olivgrüne Feder zwischen den Fingern.

»Was ist das?«, fragte Peter.

»Eine Feder.«

»Das sehe ich auch. Was für eine Feder? Von welchem Vogel? Art? Gattung? Familie? Ich erwarte einen kleinen wissenschaftlichen Vortrag, Professor Jonas!«

»Okay.« Justus räusperte sich. »Aufgrund der Größe der Feder würde ich sagen, das Tier, zu dem sie gehört, ist mindestens sogroß wie eine Ente. Aber die Färbung ist irritierend. Dunkelgrün … Spontan fällt mir kein Vogel mit solchem Gefieder ein. Aber seht mal, hier liegen noch kleine, weiche Federn, sogenannter Flaum. Das deutet auf einen Kampf hin.«

»Ein Kampf mit einem kleinen, sechsjährigen Mädchen«, führte Bob den Gedanken zu Ende.

»Exakt.«

»Aber Emily sprach ganz klar von einem Drachen, nicht von einem Vogel«, widersprach Peter.

»Es gibt keine Drachen, Zweiter«, erwiderte Justus.

»Das weiß ich selbst. Aber Emily wird ja wohl einen Vogel von einem Drachen unterscheiden können. Und sie hat einen Drachen gesehen.«

»Das ist kein Argument. Emily sieht auch Kobolde und Elfenköniginnen. Ein Grund, ihrem optischen Urteilsvermögen keine übermäßige Bedeutung beizumessen.«

»Aber selbst wenn du recht hast, Just«, warf Bob ein, »stellt sich immer noch die Frage: Welcher Vogel sollte einen Menschen angreifen? Und vor allem: warum?«

»Das ist das große Rätsel, Bob. Zunächst einmal sollten wir herausfinden, zu welcher Vogelart diese Feder gehört. Ein Ornithologe sollte uns da weiterhelfen können.«

»Was hat denn ein Ohrenarzt damit zu tun?«

Der Erste Detektiv verdrehte die Augen. »Ein Ornithologe ist kein Ohrenarzt, Peter, sondern ein Vogelkundler.«

»Ach, tatsächlich?«

»Keeaah!« Ein schriller Schrei aus der Luft lenkte die Blicke der drei Detektive nach oben.

Knapp über die Baumkronen des angrenzenden Waldes hinweg flog ein dunkelgrüner Vogel. Sein Kopf wurde von einem langen, scharf gebogenen Schnabel dominiert. Das Gefieder wirkte seltsam geschuppt. Er schwebte im Sinkflug über die Köpfe der drei ??? hinweg, gewann flügelschlagend wieder an Höhe und verschwand am anderen Ende der Wiese in den Bäumen.

Einen Augenblick lang starrten sie dem seltsamen Geschöpf hinterher. Dann lösten sich die drei Detektive aus ihrer Starre.

»Kollegen!«, rief Peter. »Wir brauchen keinen Vogelkundler! Wir haben unseren Drachen gerade gefunden!«

Der Gerechte

Peter, Bob und Justus liefen los. Schon nach wenigen Metern hatte der sportliche Zweite Detektiv die anderen abgehängt. Er stürmte in den Wald, sprang über das Unterholz und preschte durch niedriges Gestrüpp, den Blick zum Himmel gerichtet.

Wo war das Vieh? Hatte er es etwa schon verloren? Peter wurde langsamer und blieb schließlich stehen. Da! Der Vogel – oder was immer es sein mochte – war auf einem Ast gelandet und blickte zu ihm herunter.

Peter kniff die Augen zusammen. Der schwarze Schnabel war Furcht einflößend. Und das Federkleid wirkte durch seine dunkel geränderte Färbung tatsächlich wie ein glänzender Schuppenpanzer. Kein Wunder, dass Emily den Vogel für einen Drachen gehalten hatte. Ganz langsam und vorsichtig, um ihn bloß nicht zu erschrecken, näherte sich Peter dem Baum.

»Was ist, Peter? Ist er weg?«, brüllte Justus hinter ihm.

»Keeaah!« Der Vogel erhob sich flatternd in die Luft. Doch anstatt aufzusteigen und oberhalb der Baumkrone aus Peters Sicht zu verschwinden, segelte er unterhalb des Blätterdaches zwischen Baumstämmen und Ästen hindurch.

»Idiot!«, rief Peter dem Ersten Detektiv zu und setzte sich wieder in Bewegung. Es war grotesk – kein Mensch der Welt hatte bei einem Wettrennen gegen einen Vogel eine Chance, das war Peter klar. Doch es schien, als wollte der Vogel ihm eine Chance geben. Immer wieder ließ er sich auf einem Ast nieder, wartete, bis Peter ihn fast eingeholt hatte, und flog dann weiter.

Doch schließlich hatte das Tier offenbar genug, stieß durch das Blätterwerk nach oben und entschwand aus Peters Blickfeld. Der Zweite Detektiv sah noch für einige Sekunden seinen Schatten oberhalb der Bäume, dann war es verschwunden. Peter lief weiter, rannte durch Farnfelder, hechtete über moosbewachsene Steine, weiter, immer weiter in die Richtung, in der er den Vogel vermutete.

Es wurde heller. Die Bäume wichen zurück. Und schließlich öffnete sich der Wald zu einem lang gestreckten felsigen Tal, in dem das Gras gelb und vertrocknet war. In der Mitte des Tals stand eine kleine Holzhütte, doch Peter achtete nicht weiter darauf. Er suchte den Himmel ab.

Da! Der Vogel war nur noch als kleiner Fleck auszumachen. Er hatte das Tal überflogen und setzte auf der anderen Seite zur Landung an. Zur Landung auf einem ausgestreckten Arm.

Peter traute seinen Augen nicht. Dort hinten, hundert Meter entfernt, stand ein Mann vor einem grünen Auto und trug den Vogel auf seinem Arm. Er sprach mit ihm. Das Tier schien sogar zuzuhören. Der Mann gab ihm etwas zu fressen, dann ließ er den Vogel auf seine Schulter klettern und stieg mit ihm ins Auto.

Peter fluchte. Wieso stand er hier wie angewurzelt? Er rannte in das Tal hinunter. Doch es war schon zu spät. Ein Motor sprang röhrend an und einen Augenblick später verschwand der Wagen in einer Staubwolke. Bald waren nur noch das Vogelgezwitscher und das Rauschen der Bäume im Wind zu hören.

Dann trampelten Bob und Justus durch das Unterholz und aus dem Wald heraus.

»Da … bist du ja … endlich!«, schnaufte Justus.

»Sag bloß, du hast das blöde Vieh wirklich eingeholt!«

»Mann, seid ihr lahm!«, beschwerte sich Peter. »Nein, ich habe das blöde Vieh nicht eingeholt. Jedenfalls nicht, nachdem du es mit deinem Gebrüll verscheucht hast, Justus. Aber dafür habe ich etwas Unglaubliches beobachtet!« Peter erzählte seinen Freunden, was er gesehen hatte.

»Er ist mit dem Tier einfach so in den Wagen gestiegen?«, fragte Bob ungläubig. »Welcher Vogel lässt sich so etwas gefallen?«

»Kein normaler jedenfalls. Er sah irgendwie seltsam aus. Dieser spitze Schnabel. Und die Schuppenfedern … ein bisschen wie ein Raubvogel. Aber einer, den ich noch nie gesehen habe.«

Justus nickte nachdenklich und zupfte an seiner Unterlippe. »Jetzt wissen wir zumindest, dass es mit dem Drachen tatsächlich etwas auf sich hat. Emily hat sich die Geschichte nicht ausgedacht. Dieses Ding hat sie angegriffen und das war kein Zufall. Der Mann in dem Wagen steckt dahinter. Hast du das Nummernschild erkannt, Zweiter?«

Peter schüttelte den Kopf. »Dafür war die Karre wirklich zu weit weg. Ich weiß nur, dass der Wagen grün war. Ein grüner Renault, aber ich kann mich auch täuschen.«

»Hm«, machte Justus. »Das ist nicht gerade viel. Aber vielleicht kann uns der Bewohner dieser Hütte dort weiterhelfen.« Er wies hinunter ins Tal.

Die Hütte sah aus wie ein Hexenhäuschen aus einem Märchenbuch: Das dunkle Holz war moosbewachsen und verwittert, das Dach windschief und mit Schindeln aus Schiefer gedeckt, von denen jede zweite zerbrochen war.