ZEHN

 

Die Flotte segelte in weitem Abstand an der Stadt vorbei. Sämtliche Lichter an Bord der Schiffe waren gelöscht, als ein Boot zu Wasser gelassen wurde.

Mario und Alberto ruderten, während sich die Freunde gedanklich auf ihre Mission einstellten. Drei weitere Männer hockten in dem Boot, denen eine ganz besondere Aufgabe zukam. In der Dunkelheit der Nacht gelangten die Gefährten unbemerkt an Land.

»Hals- und Beinbruch«, gab Mario den Rittern mit auf den Weg.

»Euch ebenfalls viel Glück«, antwortete Falk.

Sie huschten am Ufer entlang, jede Deckung ausnutzend und darauf bedacht, keine verräterischen Geräusche zu machen. Die Stille der Nacht wurde nur durchbrochen von den am Strand auslaufenden Wellen.

Düster erhoben sich die Stadtmauern, hinter deren Zinnen Wachposten patrouillierten. Einmal meinte Falk dort oben eine Bewegung zu erhaschen. Er und Bingo zogen die Köpfe ein und rührten sich nicht. Die Wache hielt inne, spähte auf die Schwärze des Meeres hinaus, und stiefelte in der nächsten Minute weiter. Die Freunde schlichen weiter bis auf Höhe des Stadttores, vor dem vier Bewaffnete standen. In der Dunkelheit ließen sie sich mehr erahnen als erkennen. Falk und Bingo krochen nun auf allen Vieren, eine zeitraubende Prozedur zwar, doch das beste Mittel gegen Entdeckung. Gesprächsfetzen drangen vom Tor herüber, begleitet von gelegentlichem Lachen. Bald blieb es hinter den Freunden zurück.

Hoffentlich findet Mario den Geheimgang, dachte Falk. Ansonsten war ihr nächtlicher Ausflug für die Katz. Er verdrängte seine Zweifel, da er ohnehin keinen Einfluss darauf hatte. Jeder musste seine eigene Aufgabe bewältigen.

Meter um Meter kämpften er und Bingo sich voran. Nach einer Weile wagten sie es, sich vom Boden zu erheben und ihren Vorstoß in geduckter Haltung fortzusetzen. Inzwischen färbte ein fahler Stich den Himmel, an dem die Sterne nach und nach verblassten. Die Sonne schickte sich an, über den Horizont zu steigen. Der neue Morgen nahte.

Die Stadtmauer blieb hinter den Freunden zurück, und in einiger Entfernung schälten sich die Umrisse der Fürstenresidenz aus der Dunkelheit. Der anbrechende Tag enthüllte die von vier Ecktürmen markierte Burg des Fürsten Vallechiara.

 

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Die zunehmende Sicht ermöglichte den Rittern nun ein rascheres Vorwärtskommen. Üppiges Buschwerk, das sich wild wuchernd zwischen Stadt und Burg erstreckte, schützte sie weiterhin vor Entdeckung. Als sie sich dem Burgtor näherten, immer noch auf der seewärtigen Seite und zwanzig Meter vom Tor entfernt, ragte die Sonne bereits zur Hälfte über den Horizont. Sie schien im Meer zu schwimmen.

Die Freunde verharrten zwischen den Büschen. Zwar standen keine Wachen vor dem Tor, doch die Zugbrücke war hochgezogen, und ein breiter Graben erstreckte sich von einem Eckturm zum anderen.

»Und wie kommen wir jetzt hinein?«, fragte Bingo mit gedämpfter Stimme.

»Ich fürchte, es läuft mal wieder auf eine Kletterpartie hinaus«, antwortete Falk. »Andererseits wollen wir uns Fürst Vallechiara ohnehin zu erkennen geben. Es spricht also nichts dagegen, anzuklopfen.«

»Dazu müssen wir trotzdem erst mal auf die andere Seite des Grabens gelangen.«

 

*

Während die Freunde noch beratschlagten, erklang Wiehern aus dem Inneren der Burg. Ihm folgte das Schleifen einer Seilwinde und schweres Knarren von Holzbohlen. Langsam senkte sich die Zugbrücke herab. Als sie den Graben zur Gänze überspannte, kam ein einzelner Reiter in Begleitung von bewaffnetem Fußvolk heraus. Falk zählte vier Männer. Die prächtige Bekleidung des Berittenen verriet, dass es sich bei ihm um den Burgherrn persönlich handelte.

»Fürst Vallechiara ist offenbar ein ausgesprochener Frühaufsteher«, flüsterte Bingo. »Er scheint einem zeitigen Ausritt zugetan zu sein.«

»Vor allen Dingen auf meinem Pferd«, gab Falk zurück. »Das ist doch Donner, auf dessen Rücken der Fürst sitzt.«

Jetzt erkannte Bingo den Braunen ebenfalls. »Oh, du hast recht.«

»Ich beschwöre Euch, mein Fürst«, flehte in diesem Moment einer der Begleiter des Adligen. »Reitet das neue Pferd noch nicht. Es hat sich noch nicht an Euch gewöhnt. Gebt ihm ein paar Tage Zeit.«

»Ob Mario sich in Fürst Vallechiara getäuscht hat?«, überlegte Bingo. »Wie kommt der Fürst zu Donner, wenn er nicht mit Bernardo und Romero Astuto unter einer Decke steckt?«

»Das kann durchaus mit rechten Dingen zugehen«, wandte Falk ein. »Ich nehme an, dass Astuto und der Stadthauptmann nicht nur uns, sondern auch unsere Pferde verkauft haben.«

Plötzlich scheute der Vierbeiner. Er bäumte sich auf, tänzelte im Kreis und keilte aus. Schnell brachte sich das Fußvolk vor den Hinterläufen des Braunen in Sicherheit. Falk konnte nicht zulassen, dass der Fürst im Dreck landete, wo die Freunde doch mit einem Anliegen herkamen. Kurzentschlossen trat der Ritter aus seinem Versteck.

»Ruhig, Donner!«, rief er. »Ganz ruhig.«

Das treue Pferd erkannte die Stimme seines Herrn und reagierte sofort. Es stellte seinen Widerstand gegen den ungewohnten Reiter ein. Geistesgegenwärtig sprang Fürst Vallechiara aus dem Sattel und zog sich ein paar Schritte zurück. Seine Bediensteten, die einen Überfall aus dem Hinterhalt befürchteten, kamen herbeigelaufen, um ihm beizustehen. Der Fürst gab ihnen durch ein Handzeichen zu verstehen, sie mögen sich zurückhalten.

»Schon gut, alter Freund.« Falk ergriff die Zügel und tätschelte Donner den Kopf. »Ich bin wieder da. Es ist alles in Ordnung.«

Der Adlige richtete seine aus der Form geratene Kleidung. »Ich würde gern erfahren, wer Ihr seid und was Euer Auftritt zu bedeuten hat.«

»Verzeiht, erhabener Fürst, dass ich mein Pferd vor Euch begrüßt habe«, entschuldigte sich Falk. »Diese Respektlosigkeit ließ sich leider nicht umgehen, wollte ich verhindern, dass Donner Euch abwirft.«

»Donner? Anscheinend kennt Ihr dieses Pferd besser, als ich es tue. Wenn ich nun bitten dürfte.«

»Mein Name lautet Falk von Steinfeld, und dies ist mein Freund Bingo Della Rocca«, stellte Falk sich und seinen Gefährten vor. »Wir sind zwei Ritter aus dem Norden, denen in dieser Gegend übel mitgespielt wurde. Ich fürchte, was Ihr hören werdet, wird Euch nicht gefallen.«

»Dies zu entscheiden, überlasst bitte mir.«

Die Freunde erzählten von ihren ungewöhnlichen Erlebnissen. Während er sich berichten ließ, schwankte Fürst Vallechiara zwischen Unglaube und Entsetzen. Nach den letzten Worten der Ritter blies er die Backen auf.

»Das ist ungeheuerlich!«, stieß er schließlich aus.

»Ich hoffe, Ihr zweifelt nicht am Wahrheitsgehalt unserer Geschichte«, sagte Falk.

»Nein.« Der Fürst rang um Fassung. »Nein, das tue ich nicht. Es ist nur ein Schock für mich, dass der Hauptmann hinter meinem Rücken solche schmutzigen Geschäfte macht. Und das, wie Ihr sagt, seit Jahren, ohne dass ich jemals etwas davon bemerkt habe.«

»Stadthauptmann Bernardo und Romero Astuto sind äußerst vorsichtig zu Werke gegangen, mein Fürst«, bedauerte Falk. »Deshalb ist nie irgendjemandem etwas aufgefallen, und die bedauernswerten Opfer ihrer Machenschaften kehrten niemals zurück – bis jetzt. Nun jedoch gibt es Augenzeugen, die der Hölle des einäugigen Tarsus entkommen sind. Außerdem haben ich und meine Freunde einen Plan ersonnen, wie wir den Hauptmann auf frischer Tat überführen können. Heute Abend soll es losgehen.«

»Sprecht!«

Falk legte dem Fürsten sein Vorhaben dar. Vallechiara überlegte lange, doch schließlich willigte er ein. Er verlangte sogar, bei der entscheidenden Gegenüberstellung dabei zu sein.

 

*

Der Tag verstrich in gebannter Erwartung. Nach Anbruch der Dunkelheit ruderten Falk und Bingo mit einem von Fürst Vallechiara zur Verfügung gestellten Boot nah am Ufer entlang zur Stadt hinüber. Der Fürst und ein halbes Dutzend Waffenknechte begleiteten die Ritter. Unterhalb der Stadtmauer, ein gutes Stück abseits der Hafenumfriedung, stießen sie auf ein zweites Boot, das vor einem Felsensims dümpelte.

»Das sind Mario und Alberto«, flüsterte Falk den anderen zu.

Die beiden Männer warteten schon ungeduldig. Sanft stießen die Boote in der Dunkelheit gegeneinander.

»Hat alles geklappt?«, erkundigte sich Falk.

»Ja«, raunte Alberto mit unüberhörbarem Triumph. »Romero Astuto ist auf unsere List hereingefallen. Er hat unsere drei Männer, die sich als Bauern aus der Umgebung ausgaben, zum Stadthauptmann gebracht. Was er mit ihnen vorhat, brauche ich wohl nicht zu erklären.«

Die Schufte ahnten nicht, dass der einäugige Tarsus mitsamt seiner Piratenbande in seinem Schlupfwinkel einem Vulkanausbruch zum Opfer gefallen war. Sie gingen davon aus, dass sie ihm die drei vermeintlichen Bauern als Sklaven verkaufen konnten. Zu Falks Erleichterung hatte Mario den Geheimgang ausfindig gemacht.

»Der Eingang liegt hinter den Büschen dort drüben verborgen. Ich rudere voraus. Folgt mir einfach.«

Falk und Bingo taten, wie ihnen geheißen. Hintereinander folgten die Boote dem Verlauf eines schmalen Kanals, der in eine von Fackelschein beleuchtete Grotte führte. An einem schmalen Steg legten sie an. Mario vertäute das vordere Boot an einem Pfosten, und Falk folgte seinem Beispiel. Die Männer stiegen aus und fanden sich am Fuß einer steinernen Treppe wieder. Sie war aus dem Felsgestein gehauen und an einigen Stellen mit Moos überzogen.

 

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Mario deutete nach oben. »Die Treppe führt in den Keller des Stadthauptmanns.«

Achtsam stiegen die Eindringlinge die Stufen hinauf. Mario und Alberto übernahmen die Führung, gefolgt von Falk und Bingo. Den Abschluss bildeten die Waffenknechte, die ihren Fürsten sicherten. Als die Gefährten den Treppenabsatz fast erreicht hatten, vernahmen sie leise Stimmen.

»Weiter!«, zischte Falk.

Sie schlichen weiter, drückten sich an der feuchten Kellerwand entlang und lauschten. Die Umgebung kam Falk bekannt vor. Hier unten hatten Bernardos Schergen ihn und Bingo eingesperrt.

»Ein guter Fang, Astuto.« Der Stadthauptmann war nun deutlich zu verstehen.

»Allerdings«, brüstete sich der Kahlkopf. »Drei Lämmer, die freiwillig in die Falle gekommen sind.«

»Der Sargmacher muss jeden Augenblick hier sein. Dann bringen wir die Betäubten in seinen Schuppen hinüber. Morgen Nacht erwarte ich den Abgesandten des einäugigen Tarsus. Es ist mir lieber, wenn die Sklaven bis dahin bei Francesco bleiben.«

»Hier bin ich schon«, ertönte eine dritte Stimme.

»Gut, Francesco. Machen wir uns an die Arbeit.«

Diesen Moment hatte Fürst Vallechiara abgewartet, nun übernahm der Adlige die Initiative. Er drückte sich an Falk und den anderen vorbei. Gemeinsam stürmten sie in den Kerker, in dem drei regungslose Männer auf dem Boden lagen. Daneben standen Stadthauptmann Bernardo, Romero Astuto und der Sargmacher Francesco. Sie wollten gerade einen der Bewusstlosen aufheben, doch die Waffenknechte drängten sie mit erhobenen Schwertern zurück.

»Ich habe genug gehört.« Die Stimme des Fürsten bebte vor Verachtung. »Rührt euch nicht, oder ihr bekommt die Klingen meiner Wachen zu spüren.«

Bernardo starrte den Adligen an wie einen Geist. Die Lippen des Hauptmanns bewegten sich, doch er brachte kein Wort heraus. In seinem bleichen Gesicht bildeten sich hektische rote Flecken. Romero Astuto war nicht weniger erschüttert als sein Spießgeselle. Der Kahlkopf sackte in sich zusammen wie ein Häufchen Elend.

»Die beiden Ritter aus dem Norden«, krächzte er. »Das ist das Ende, du verdammter Narr! Ich habe dir gleich gesagt, dass es uns nur Unglück bringt, sie als Sklaven zu verkaufen.«

Fürst Vallechiara gab seinen Waffenknechten einen Wink. »Schafft diese Bande in den Kerker. Sie haben eine Menge Unschuldiger auf dem Gewissen. Ich werde später über das Schicksal der Schurken entscheiden.«

Die drei Überrumpelten leisteten keinen Widerstand. Mit den Klingen der Wachen an der Kehle sahen sie ein, dass ihr schmutziges Spiel aus war. Nie wieder würden sie andere Menschen als Sklaven an einen grausamen Tyrannen verkaufen.

 

*

Die glücklichen Bauern, die noch nicht recht glauben konnten, dass der Alptraum endgültig hinter ihnen lag, kehrten als freie Männer in ihre Heimatdörfer zurück. Falk, Bingo und Alberto sowie die Brüder Nunzio und Mario verbrachten einige Tage als Gäste des dankbaren Fürsten Vallechiara in dessen fürstlicher Residenz. Als die Stunde des Aufbruchs kam, verabschiedeten sich Falk und Bingo von den neuen Freunden.

»Alles Gute auf all euren Wegen«, wünschte Nunzio ihnen, als sie ihre Pferde antrieben.

Die Ritter ritten aus der Burg und überquerten die Zugbrücke. Falk lenkte Donner nach links hinüber, was ihm einen verständnislosen Blick des Gauklers einbrachte.

»Das ist die falsche Richtung«, belehrte der Dicke seinen Freund. »Zum Hafen geht es hier entlang.«

Falk zügelte den Braunen. »Ich weiß.« Es fiel ihm nicht leicht, auszusprechen, was schon seit einer ganzen Weile in ihm rumorte, doch nun war richtige Zeitpunkt gekommen. Er konnte nicht länger vor sich herschieben, was er längst hätte tun sollen. »Ich werde dich nicht ins Morgenland begleiten.«

»Wie bitte? Aber wieso?« Bingo griff nach seiner Mütze und rückte sie zurecht. »Sei mir nicht böse, aber dein Entschluss kommt ziemlich überraschend.«

»Nein, du darfst mir nicht böse sein, weil ich dich allein weiterreiten lasse«, bat Falk. »Der Süden ist zwar sehr schön, aber die Sehnsucht nach der Heimat lässt mir schon seit einer ganzen Weile keine Ruhe mehr. Ich hätte es dir viel früher sagen sollen, doch mir fehlte der Mut dazu. Ich weiß ja, was dir die Reise in den Orient bedeutet. Deshalb trennen sich unsere Wege hier. Ich reite nach Hause, und du wirst später nachkommen.«

Bingo schluckte schwer. Minutenlang kämpfte er mit sich, dann rang er sich zu einer Entscheidung durch. »Das Morgenland, es läuft mir nicht weg. Du hingegen schon. Ich kann dich nicht einfach fortreiten lassen. Ich fürchte sogar, mir bleibt gar nichts anderes übrig, als bei dir zu bleiben.«

Falk spitzte die Ohren. »Und wieso nicht?«

»Weil du manchmal so hilflos bist wie ein Säugling. Ohne meinen Schutz gelangst du niemals in die Heimat. Also komme ich mit.«

»Wirklich?«

»Wirklich!«

Falk lachte erleichtert, und Bingo fiel in das Lachen ein. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wendeten die Freunde ihre Pferde und trieben sie an. Ein langer Weg nach Hause lag vor ihnen.

 

 

FORTSETZUNG FOLGT

 

 

 

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Impressum

 

Originalausgabe Juli 2018

Charakter und Zeichnung: Tibor © Hansrudi Wäscher / becker-illustrators

Text © Achim Mehnert

Copyright © 2018 der eBook-Ausgabe Verlag Peter Hopf, Petershagen

 

Lektorat: Thomas Knip

Umschlaggestaltung: etageeins, Jörg Jaroschewitz

Hintergrundillustration Umschlag: © ihervas – Fotolia.com

E-Book-Konvertierung: Die eBook-Manufaktur

 

ISBN ePub 978-3-86305-261-4

 

www.verlag-peter-hopf.com

 

Hansrudi Wäscher wird vertreten von Becker-Illustrators,

Eduardstraße 48, 20257 Hamburg

www.hansrudi-waescher.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv.

Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.

 

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Verarbeitung und die Verbreitung des Werkes in jedweder Form, insbesondere zu Zwecken der Vervielfältigung auf fotomechanischem, digitalem oder sonstigem Weg, sowie die Nutzung im Internet dürfen nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages erfolgen.

 

 

 

Inhalt

 

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

 

 

 

ACHIM MEHNERT

Ohne Gnade

Falk Band 7

 

 

 

EINS

 

Es ging immer weiter nach Süden, mittlerweile schon im zweiten Jahr. An manchen Tagen dachte Falk, ihre Reise ins Morgenland würde niemals ein Ende finden. Er sehnte sich nach der Heimat und musste immer häufiger an Daheim denken. Acht Wochen waren vergangen seit dem Abenteuer mit dem kopflosen Reiter. Nun ritten Falk und Bingo unter einem geradezu malerischen blauen Himmel dahin. Kaum einmal zogen Wolken auf, und dementsprechend selten fiel Regen.

In der gebirgigen Landschaft hingen die Dörfer wie Schwalbennester an den Bergwänden. Der exotisch anmutende Anblick versetzte Falk in Erstaunen.

»Weshalb liegen die Dörfer eigentlich an so unzugänglichen Orten?«, erkundigte er sich bei seinem Weggefährten, wobei er zu den Felsen hinauf deutete. »Hier im Tal wäre das Gelände viel günstiger, die Dörfer einfacher zu bauen und müheloser zu erreichen.«

»Das schon«, pflichtete Bingo ihm bei, »aber wir sind nicht weit von der Küste entfernt, und die birgt eine ständige Gefahr für die hier lebenden Menschen.«

»Von was für einer Gefahr redest du?«, fragte Falk.

»Man merkt, dass du dich hier nicht auskennst«, antwortete der Gaukler. »Sonst wüsstest du die Vorsicht der Menschen zu schätzen. Von Zeit zu Zeit dringen nämlich übers Meer kommende Seeräuber und Sklavenjäger bis hierher vor, um menschliche Beute zu machen, seit Jahrhunderten schon. Deshalb die wehrhafte Lage der Dörfer. Während der Regierungszeit des großen Kaisers soll es besser geworden sein, aber nun ist Friedrich tot, und manches alte Problem kehrt zurück. Wer weiß, ob die Seeräuber nicht schon wieder wagemutiger werden.«

»Keine angenehme Vorstellung, von Sklavenjägern eingefangen und verschleppt zu werden.«

»Siehst du? Deshalb die Vorsicht der Menschen. Sie nehmen lieber die Mühsal in Kauf, ihre Dörfer in der Felswand zu bauen, als hier unten schutzlos ausgeliefert zu sein.«

»Das kann ich verstehen.« Falk stutzte. »Was ist das dort vorn? Sieht aus wie eine menschliche Gestalt.«

»Großer Himmel!«, stieß Bingo aus. »Tatsächlich. Ein Baumstamm ragt über die Felsen hinaus ins Leere. Ein Mann hängt daran.«

»Und er bewegt sich. Also ist er am Leben. Komm, wir müssen ihm helfen.«

Ohne zu zögern, trieben die Freunde ihre Reittiere an. Das Packpferd preschte hinter ihnen her. Der Hufschlag der Vierbeiner donnerte durchs Tal, als sie über den kargen Untergrund galoppierten. Gestein wurde losgetreten und spritzte davon.

»Vielleicht handelt es sich um einen Verbrecher, der auf diese Weise bestraft wird«, überlegte Bingo laut. »Meinst du wirklich, wir sollen uns einmischen?«

»Das ist hoffentlich nicht dein Ernst. Natürlich sollen wir«, schimpfte Falk. »Und wir werden! Oder kannst du seelenruhig weiterreiten, solange der Unglückliche dort oben hängst? Wenn es nun ein Kaufmann ist oder ein anderer Reisender, der von Räubern überfallen und in diese Lage gebracht wurde?«

»Schon gut, du hast ja recht«, lenkte Bingo ein. »Egal wer er ist und warum er da hängt, wir müssen uns auf jeden Fall Gewissheit verschaffen. Bei der Vorstellung, einen hilflosen Menschen seinem Schicksal zu überlassen, könnte ich nicht mehr ruhig schlafen.«

Sie zügelten ihre Pferde vor einem Felsabschnitt, der weniger steil anstieg als die umliegenden Wände, und sprangen aus dem Sattel. Die Freunde ergriffen ihre Schwerter und machten sich an den Aufstieg.

 

*

Der Baumstamm ragte drei Meter über die Felskante hinaus. Man hatte einen schweren Felsblock auf das eine Ende gewälzt, um ihn in dieser Position zu halten. Die Handgelenke des Mannes waren am anderen Ende mit Stricken festgebunden. Der Gefangene pendelte hilflos über dem Abgrund. Aus eigener Kraft konnte er sich nicht befreien. Als er die Ritter bemerkte, drehte er den Kopf zur Seite, einen flehenden Blick in den Augen. Unverständliches Nuscheln drang herüber.

»Man hat ihn geknebelt, damit er nicht um Hilfe rufen kann«, stellte Falk fest. »Selbst wenn er wirklich ein Verbrecher ist, können wir ihn nicht so hängen lassen. Eine solche Strafe ist grausam, das verdient kein Mensch.«