Der kleine Fürst – 199 – Ich halte zu dir, Christian!

Der kleine Fürst
– 199–

Ich halte zu dir, Christian!

Die tapfere Stephanie von Hohenbrunn besteht die Feuerprobe

Viola Maybach

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-021-9

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Phillip von Hohenbrunn stand mit bleichem Gesicht und feuchten Augen an einem der Fenster des grauen Salons von Schloss Sternberg und sah hinaus in den beleuchteten Park. Soeben hatten die Bankräuber in der Stadt ein paar Geiseln freigelassen – der kleine Fürst gehörte dazu, nicht aber seine fünfundsiebzigjährige Mutter. Sie war mit den zurückgelassenen Geiseln nach wie vor in der Gewalt von vier vollkommen unberechenbaren Männern mit Schusswaffen. Er wagte nicht, sich auszumalen, was passieren könnte, wenn auch nur einer von ihnen die Nerven verlor.

Baron Friedrich von Kant trat neben ihn und sagte mit ruhiger Stimme: »Ich halte es für ein gutes Zeichen, dass sie angefangen haben, die Geiseln freizulassen, Herr von Hohenbrunn, auch wenn Ihre Mutter noch nicht dabei ist.«

Phillip schüttelte den Kopf. Im Hintergrund hörte er seine Frau Florentine mit Baronin Sofia und ihren beiden Kindern Anna und Konrad sprechen. »Ich kann das nicht so positiv sehen wie Sie«, erwiderte er. »Die müssen doch mittlerweile supernervös sein. Da genügt ein falsches Wort, und alles gerät außer Kontrolle. Außerdem, Sie haben es doch selbst gehört: Zwei der Freigelassenen sind verletzt, da sind ja Schüsse gefallen. Die fackeln nicht lange. Und, Herr von Kant, ich kenne meine Mutter. Sie kann sehr impulsiv sein, und dann ist sie nicht sehr vorsichtig in ihrer Wortwahl.«

»Aber offenbar ist ihr bis jetzt nichts passiert, jedenfalls nach allem, was wir wissen. Die Verletzten haben sie freigelassen …«

»Wer sagt Ihnen, dass das alle Verletzten waren?« Erneut schüttelte Phillip den Kopf. »Bevor ich sie nicht munter und lebendig vor mir sehe, glaube ich gar nichts. Das sind Männer, die mittlerweile zu allem bereit sind. Ihr Überfall auf die Bank ist anders verlaufen als geplant, weil es jemandem gelungen ist, den Alarm auszulösen. Jetzt sitzen sie in der Falle, und das wissen sie natürlich. Ich wäre gern so optimistisch wie Sie, aber das kann ich nicht sein.« Er holte tief Luft. »Trotzdem sind wir natürlich ebenso erleichtert wie Sie, dass sie Ihren Neffen frei gelassen haben.«

»Darüber sind wir sehr froh«, bestätigte der Baron, »aber wir wissen auch, dass das noch nicht das Ende ist.«

»Und Steffi und Caro sitzen immer noch in diesem Spielwarenladen fest«, murmelte Phillip. »Wieso sorgt die Polizei nicht dafür, dass die Leute in den Häusern rund um die Bank in Sicherheit gebracht werden?«

»Weil sie dort, wo sie sich aufhalten, in Sicherheit sind, schätze ich.«

Baron Friedrich bemühte sich um einen sachlichen Tonfall, was ihm nicht ganz leicht fiel. Sie hatten Stunden des bangen Wartens hinter sich, Stunden, in denen sie um Emilia von Hohenbrunn und Christian sowie die anderen Geiseln gebangt hatten. Ein Teil der Anspannung war gewichen, seit sie wussten, dass zumindest Christian lebte und in Sicherheit war, aber eben nur ein Teil. Erst wenn alle Geiseln befreit und die Bankräuber in Polizeigewahrsam waren, würden sie endgültig aufatmen können.

»Ich denke, in den Häusern kann ihnen nichts passieren, während es durchaus ein Risiko wäre, sie zum falschen Zeitpunkt herauszuholen und aus der Stadt zu bringen«, fuhr er fort.

»Ich habe das Gefühl, heute um zwanzig Jahre gealtert zu sein«, murmelte Phillip. »Heute Morgen war noch alles in Ordnung. Ich erinnere mich, dass ich nach dem Aufstehen in den Spiegel gesehen und mir gesagt habe, dass ich ein wirklich schönes Leben habe: Ich bin beruflich erfolgreich, ich liebe meine Frau, meine beiden Töchter entwickeln sich gut, sie machen uns mehr Freude als Kummer, und wir alle haben ein gutes Verhältnis zu meiner Mutter, was ja ebenfalls nicht selbstverständlich ist. Außerdem sind wir gesund, was beinahe das Wichtigste von allem ist. Und jetzt?«

Der Baron legte ihm eine Hand auf den Arm. »Alles, was Sie eben aufgezählt haben, gilt immer noch«, sagte er ruhig.

»Mit einem kleinen, aber entscheidenden Unterschied.« Ein bitterer Unterton hatte sich in Phillips Stimme geschlichen. »Es ist durchaus nicht sicher, dass meine Mutter diesen Tag unbeschadet überlebt.«

»Sie ist stark, das haben Sie selbst gesagt. Sie lässt sich gewiss auch von einer solchen Situation nicht unterkriegen.«

»Ich nehme es zumindest an, aber wer von uns weiß schon, wie er reagiert, wenn er von bewaffneten Männern bedroht wird? Ich könnte das für mich jedenfalls nicht vorhersagen.«

Ich auch nicht, dachte der Baron, aber er sagte es nicht laut. Hier und jetzt ging es vor allem darum, die Nerven zu behalten, denn niemandem war damit gedient, wenn sie sich in endlosen Vermutungen darüber ergingen, was sich zur Stunde in der Bank wohl abspielen mochte.

Gewusst freilich hätte er es nur zu gern.

Sie verließen das Fenster und kehrten zu ihren Frauen und den beiden Teenagern zurück. Allen war anzusehen, wie sehr die vergangenen Stunden ihnen zugesetzt hatten, und unglücklicherweise war ein Ende des Dramas noch immer nicht abzusehen, obwohl zumindest der erste Akt ein Ende gefunden hatte.

Eberhard Hagedorn, seit langen Jahren Butler im Schloss, erschien an der Tür. »Frau Falkner lässt fragen, ob sie den Herrschaften vielleicht noch einen kleinen Imbiss servieren darf? Sie hat eine Art Büffet vorbereitet, so dass jeder zugreifen kann, wenn er möchte.« Er räusperte sich, bevor er behutsam hinzusetzte: »Es kann ja sein, dass Sie noch einige Zeit wach bleiben müssen.«

Phillip schüttelte abwehrend den Kopf, aber die Baronin sagte: »Das ist eine gute Idee, Herr Hagedorn. Ich denke, wir alle können noch eine kleine Stärkung vertragen.«

»Ich auf jeden Fall«, gab Friedrich zu, und auch Florentine von Hohenbrunn schien nicht abgeneigt zu sein, während sich die Teenager nicht äußerten.

Die sonst so lebhafte Anna war blass und hatte rote Augen. Ihre Angst um Christian, den sie liebte wie einen Bruder und zu dem sie ein ganz besonders inniges Verhältnis hatte, war groß gewesen, und noch konnte sie es nicht glauben, dass zumindest für ihn die Gefahr vorüber war. Konrad bemühte sich, Haltung zu bewahren, aber auch ihm war anzusehen, wie schlimm die letzten Stunden für ihn gewesen waren.

Im Hintergrund wurde schnell und nahezu geräuschlos das Büffet aufgebaut. Letzten Endes stärkte sich auch Phillip von Hohenbrunn, obwohl er keinen Appetit hatte, denn Eberhard Hagedorns diskrete Anmerkung war natürlich absolut richtig gewesen: Es konnte eine lange Nacht werden.

*

Christian von Sternberg, der kleine Fürst, saß einer ganzen Gruppe von Polizeibeamten gegenüber, das Wort führte aber vor allem Kriminalrat Volkmar Overbeck, den der Sechzehnjährige seit langem kannte. Sie waren einander schon bei verschiedenen Gelegenheiten begegnet, ihr Verhältnis war von Sympathie und Vertrauen geprägt.

»Es sind also vier bewaffnete Männer«, sagte der Kriminalrat.

Christian war vor einer halben Stunde, gemeinsam mit zwei verletzten Bankangestellten, einer Frau, drei kleinen Kindern und einem Mops freigelassen worden. Was er zu berichten hatte, war also von höchster Wichtigkeit für das Sondereinsatzkommando, das nach einem Weg suchte, die Geiselnahme zu beenden, ohne die Geiseln zu gefährden. Die Hauptbotschaft hatte er bereits übermittelt: dass die Bankräuber keine Gnade walten lassen würden, sollten ihre Forderungen nicht erfüllt werden.

»Ja, es sind vier. Einer bewacht die Tür, einer die Geiseln, die beiden anderen überlegen, was zu tun ist und verhandeln. Einer von denen ist der Chef«, antwortete der kleine Fürst.

»Wie viele Leute sind noch in der Bank?«

Der Junge schloss kurz die Augen. »Die alte Frau, der der Rollator gehört«, begann er seine Aufzählung. »Ich meine den Rollator, auf dem wir die verletzte Angestellte aus der Bank gebracht haben. Dann Frau von Hohenbrunn, die … äh, die Großmutter meiner Freundin Stephanie.«

Der Kriminalrat nickte, das hatten sie ja bereits gewusst.

»Dann ein junges Paar. Die wollten ihre Verlobungsringe abholen und waren deshalb auf der Bank, um das Geld dafür abzuheben.«

»Wissen Sie Namen?«

Der kleine Fürst schüttelte den Kopf und fuhr mit seiner Aufzählung fort. »Dann der Mann, dem der Mops gehört. Er hat sich um einen der kleinen Jungen gekümmert, die Kinder haben immer wieder geweint … Er ist jedenfalls schwer in Ordnung. Dann so ein Typ, der dauernd sagt, dass es ihm schlecht geht und dass er wichtige Termine hat und deshalb frei gelassen werden muss. Der hat alle genervt, auch die Bankräuber. Dann die Frau, die, glaube ich, die Mutter der Kinder ist …«

»Ich dachte, die frei gelassene Frau sei die Mutter?«

»Nein, die Kinder haben die andere ‚Mama’ genannt, das habe ich gehört. Die Frau, die frei gelassen wurde, ist mit ihr befreundet. Sie haben sie gehen lassen, weil sie Krankenschwester ist und den Ärzten draußen am besten erklären kann, was mit den Verletzten ist. Der verletzten Frau ging es sehr schlecht … Zu der muss ich noch etwas sagen, etwas Wichtiges.«

»Gleich«, bat der Kriminalrat. »Waren das jetzt alle Geiseln?«

Der kleine Fürst schüttelte den Kopf. »Nein, da ist noch ein Paar … Zu der Frau kann ich nichts sagen, die war die ganze Zeit über sehr still, aber der Mann, so ein Dicker, Lauter, hat die ganze Zeit über gestöhnt, wie schlecht es ihm geht, und er wollte unbedingt, dass sie ihn rauslassen. Er fand das wichtiger, als Frauen und Kinder gehen zu lassen, das war sehr unangenehm.«

»Gut«, sagte der Kriminalrat, während er stirnrunzelnd seine Aufzeichnungen betrachtete. »Oder vielmehr: gar nicht gut. Wir wussten ja bis jetzt nicht, wie viele Menschen die Bankräuber in ihrer Gewalt haben. Es sind mehr als befürchtet. Aber Sie meinten, Sie hätten uns etwas Wichtiges zu sagen.«

»Die verletzte Frau hat mir zugeflüstert, dass es vom oberen Stockwerk aus eine Art geheimen Zugang zum Schalterraum gibt. Also nicht nur die offizielle Verbindung über die Treppe und den Aufzug, sondern noch eine andere.«

Mit einem Schlag veränderte sich die Atmosphäre im Raum. Plötzlich saßen alle kerzengerade und hielten buchstäblich die Luft an. »Wo ist der Zugang unten?«, fragte der Kriminalrat mit heiserer Stimme.

»Es ist eine schmale Tür im vorderen Bereich, die zu einer Art Abstellkammer führt. In dieser Abstellkammer gibt es eine weitere Tür, die von einem Regal verdeckt wird und die immer unverschlossen ist, grundsätzlich. Dieser falsche Abstellraum ist für genau solche Situationen wie die jetzige erfunden worden.«

»Wohin führt die Tür?«, fragte der Kriminalrat.

»Zu einem versteckten Treppenhaus«, antwortete der kleine Fürst. »Oben im ersten Stock befindet sich eine Entsprechung zu dem Abstellraum unten. Diese beiden Räume sind durch eine sehr schmale Treppe verbunden.«

»Der obere Abstellraum befindet sich also auch im vorderen Bereich, direkt über dem unteren?«, vergewisserte sich Volkmar Overbeck.

»So hat sie es mir erklärt.«

»Haben die Bankräuber Sie einfach miteinander reden lassen?«

»Nein, überhaupt nicht, aber Frau von Hohenbrunn und ich haben uns zusammen mit der Krankenschwester um die Verletzten gekümmert, und deshalb ist den Bankräubern nicht aufgefallen, dass ich mich nicht ohne Grund immer ganz tief über die Frau gebeugt habe. Sie hat mir zu verstehen gegeben, dass sie mir dringend etwas sagen muss. Eine halbe Stunde später hätte sie das schon nicht mehr gekonnt, sie hat Fieber bekommen und war schließlich nicht mehr bei Bewusstsein.«