Zerstört mein Leben nicht 

Kann Dr. Norden der traurigen Ariane helfen?




Roman von Patricia Vandenberg

 


Ariane Dohna sah Dr. Norden hilflos an. Tränen standen in ihren Augen.

»Es hat doch alles keinen Sinn mehr«, flüsterte sie. »Warum musste Papa sterben? Er war doch noch so jung.«

Mitfühlend betrachtete Dr. Daniel Norden das schmale blasse Mädchen. Fast ein Jahr war es her, dass Dietrich Dohna gestorben war. Für ihn war der Tod eine Erlösung von einem schweren Leiden gewesen. Mit rührender Hingabe hatte Ariane ihren Vater gepflegt und nie die Hoffnung aufgegeben, dass er doch noch genesen würde. Eine Welt war für sie zusammengebrochen, als der Tod dann doch schnell und lautlos gekommen war.

Dr. Norden ahnte auch, warum Ariane innerlich nicht zur Ruhe kommen konnte. Ihre Mutter hatte alles sehr schnell von sich abgeschüttelt. Es waren schon vorher Gerüchte laut geworden, dass es einen anderen Mann in ihrem Leben gäbe. Ganz gewiss waren auch Ariane solche Gerüchte zu Ohren gekommen.

Eine Zeit schien es, als würde sich Ariane doch wieder zurechtfinden. Sie hatte im Geschäft, das ihr Vater hinterlassen hatte, gearbeitet. Das Einrichtungshaus Dohna genoss auch weiterhin einen guten Ruf. Ariane hatte dort schon zu Lebzeiten ihres Vaters praktische Erfahrungen für den erstrebten Beruf als Innenarchitektin gesammelt.

»Macht Ihnen denn auch die Arbeit keine Freude mehr?«, fragte er behutsam.

»Ohne Papa ist alles so leer«, erwiderte sie leise, »und nun hat Mama auch noch diesen Brandner als Geschäftsführer eingesetzt. Ich mag ihn nicht.«

Ihre zuerst monotone Stimme bekam einen aggressiven Klang. Dr. Norden wurde sehr nachdenklich.

»Haben Sie nicht Mitbestimmungsrecht?«, fragte er.

»Sie hat über meinen Kopf hinweg entschieden, als ich die Bronchitis hatte. Sie hat mir zu verstehen gegeben, dass ich mir nicht Verantwortung aufladen dürfe, der ich nicht gewachsen sei. Schließlich sei es in Papas Sinn, dass die Geschäfte weitergingen und nicht rückläufig wären. Aber sie waren nicht rückläufig. Klaus ist sehr tüchtig, aber es ist Mama ein Dorn im Auge, dass wir uns gut verstehen.«

Da lag also der Hase im Pfeffer. Dr. Norden hatte aufgehorcht. Er war erleichtert, dass sich ihre Zunge jetzt löste.

»Brandner schikaniert Klaus. Nichts macht er richtig. Und Mama hält mir immer vor, dass es unmöglich sei, dass ich mit einem Verkäufer befreundet bin. Es war ihr schon ein Dorn im Auge, dass Papa Klaus so gefördert hat. Sein Vater ist ja ›nur‹ Schreinermeister. Mein Großvater war auch einer, und er hat schließlich das Geschäft aufgebaut. Ich verstehe meine Mutter nicht, Herr Doktor, und sie will mich auch nicht verstehen.«

Dr. Norden überlegte. »Wie wäre es denn, wenn Sie den Stier bei den Hörnern packen würden, Fräulein Dohna? Resignation bringt Sie nicht weiter. Sie sind Miterbin. Ich verstehe, dass Sie Ihren Vater vermissen, aber es wäre wohl wirklich nicht in seinem Sinne, wenn Sie das Feld räumen würden. Gehen Sie doch mal von dem Standpunkt aus, dass Herr Brandner Ihr Angesteller ist. Lassen Sie ihn das spüren.«

»Dann macht mir meine Mutter das Leben zur Hölle.«

»Und wenn Sie sich eine eigene Wohnung nehmen? Sie sind zweiundzwanzig Jahre alt und finanziell gesichert. Sie brauchen sich nicht an die Wand drücken zu lassen und müssen Ihre Kräfte mobilisieren.«

»Das ist leicht gesagt«, flüsterte sie. »Ich fühle mich meiner Mutter nicht gewachsen.«

Dr. Norden kannte Erika Dohna. Er wusste, dass es schwer war, gegen sie anzukommen. Sie verstand es, ihren Willen durchzusetzen. Aber wie war Ariane zu helfen, wenn sie nicht selbst die nötige Kraft aufbrachte?

Die schwere Bronchitis, die sie Wochen ans Bett gefesselt hatte, wirkte sich nachhaltig aus und hatte ihre ohnehin nicht starke Widerstandskraft völlig erlahmen lassen.

»Wie wäre es, wenn Sie einmal völlig abschalten und eine Reise machen würden?«, schlug er vor.

»Dann geht hier erst recht alles drunter und drüber. Wenn ich nur nicht diese schrecklichen Depressionen hätte und mal wieder eine Nacht ruhig schlafen könnte.«

»Ich werde Ihnen ein Mittel geben, das Ihnen hilft. Sie müssen aber auch das Ihre dazu beitragen, regelmäßig essen, viel frische Luft tanken und sich behaupten lernen.«

»Wenn Brandner Klaus hinausekelt, habe ich niemanden mehr, mit dem ich reden kann«, sagte Ariane leise.

»Nun, da haben Sie doch wohl auch ein Wörtchen mitzureden. Ihnen zuliebe wird sich Herr Köhler doch nicht hinausekeln lassen.«

»Er hat andere Chancen, und ich könnte es ihm nicht verdenken, wenn er sie nützen würde. Er hat seinen Stolz. Er lässt sich nicht als Kuli behandeln.«

»Sprechen Sie sich doch einmal mit ihm aus, Fräulein Dohna.«

Sie schluchzte trocken auf. »Ich will meinen einzigen Freund nicht verlieren.«

»Wenn er ein Freund ist, werden Sie ihn nicht verlieren. So, jetzt schlucken Sie mal diese Tablette, und dann hängen Sie nicht immer traurigen Erinnerungen nach. Behaupten Sie sich.«

Das konnte er ihr nur immer wieder sagen, aber war ihr damit zu helfen?

Sie war ein so tatkräftiges Mädchen gewesen, sie hatte während der Krankheit ihres Vaters so viel Tapferkeit bewiesen. Sollte nun ihr ganzer Lebenswille erloschen sein?

»Ich werde alles überdenken, Herr Doktor«, versprach Ariane, als sie sich verabschiedete.

»Dem Mutigen hilft Gott«, sagte er.

»Dies Wort in Gottes Ohr«, erwiderte Ariane.


*


Als sie dann durch die Straßen fuhr, fühlte sie sich plötzlich freier. Der bohrende Schmerz hinter den Schläfen war wie weggeblasen. Schon auf dem Wege zum Friedhof wendete sie den Wagen, von dem Wunsch beseelt, nicht gleich wieder in Trauer zu versinken. Sie fuhr zum Geschäft.

Das Einrichtungshaus Dohna war ein großes Gebäude. Erst zwei Jahre vor seinem Tode hatte es Dietrich Dohna modernisieren lassen. Es hatte eine außerordentlich günstige Lage. Schon mehrmals hatte Erika Dohna festgestellt, dass man es für sehr viel Geld verkaufen könnte, wenn Ariane auf einer Erbteilung bestehen würde. Sie wusste schon, wie sie ihre Tochter immer wieder einschüchtern konnte. Sie verstand es, alles im liebenswürdigsten Ton zu sagen, als würde sie Ariane allein die Entscheidung überlassen.

So klar wie an diesem Vormittag war dies Ariane noch nie geworden, und sie wunderte sich, wieso ihr solche Gedanken jetzt kamen.

Sie fuhr den Wagen in die Garage und blieb noch ein paar Minuten am Steuer sitzen. Sie nahm die Puderdose aus ihrer Handtasche, blickte in den Spiegel, kämmte sich das Haar zurecht und puderte sich das feine Näschen.

Als sie die Ausstellungsräume betrat, traf sie gleich zuerst Klaus Köhler. Er hatte sich eben von einem Kunden verabschiedet.

Ariane blickte sich um, aber Brandner war nicht zu sehen.

»Kann ich dich heute Abend sprechen, Klaus?«, fragte sie leise. »Nach Geschäftsschluss, ganz privat?«

»Gern. Wo treffen wir uns, Ariane?«

»Außerhalb. Im Kupferkrug?«

»Wann?« Er stellte keine langen Fragen.

»Sieben Uhr?«

Klaus nickte zustimmend. Sein Blick umfing sie, war wie ein Streicheln. Das Blut stieg ihr in die blassen Wangen.

Sie liebte ihn, aber von Liebe hatten sie nie gesprochen. Sie kannten sich seit vier Jahren, seit dem Tage, als Klaus in die Firma eingetreten war. Er war ihr sofort sympathisch gewesen und sie ihm wohl auch, aber Freundschaft war erst in ihnen gewachsen, als ihr Vater krank geworden war. Da hatte es noch keinen Till Brandner hier gegeben, der jetzt, die gewohnte Überheblichkeit ausstrahlend, auf sie zukam.

Er war unbestreitbar ein gut aussehender Mann, fünfunddreißig, groß, schlank, elegant gekleidet. Er hatte schon leicht ergraute Schläfen, kühle blaue Augen, die immer auf der Lauer zu sein schienen. Er begrüßte Ariane höflich, zuvorkommend und dennoch irgendwie herablassend.

Gegensätzlicher als er und Klaus konnten zwei Männer gar nicht sein. Klaus war ein sportlicher Typ, frisch, dynamisch und selbstbewusst, aber ohne jede Arroganz. Nicht nur Ariane meinte, dass er mehr Format hätte als Brandner. Klaus war beliebt bei den Kollegen, Brandner ging man lieber aus dem Wege.

»Freut mich, dass Sie kommen, Fräulein Dohna«, sagte Till Brandner, »ich habe gerade einen großen Auftrag unter Dach und Fach gebracht.«

»Bei wem?«, fragte sie kurz.

»Recke & Co. Eine komplette Einrichtung für das Sechszimmerhaus des Juniorchefs, der nächsten Monat heiratet.«

»Ich weiß«, sagte Ariane. »Mein Vater war mit Herrn Recke befreundet.«

»Ach, deshalb wollte man noch mit Ihnen persönlich sprechen.«

Arianes feine Augenbrauen hoben sich leicht. »Dann ist die Auswahl also doch noch nicht getroffen worden«, stellte sie mit einem ironischen Unterton fest, der ihn sichtlich verunsicherte. Und das wollte schon viel heißen, denn so schnell konnte ihn niemand irritieren.

»Ich wusste nicht, dass Sie heute kommen. Ich musste Herrn Recke ­sagen, dass Sie längere Zeit krank waren. Sie sollten sich besser noch schonen.«

»Das müssen Sie mir überlassen«, erwiderte sie kühl. »Jetzt möchte ich mich über die laufenden Aufträge informieren.«

»Ich werde die Unterlagen holen. Wenn Sie sich bitte einen Augenblick gedulden wollen?«

»Ich bin im Büro.«

Sie ließ ihn stehen und ging zum Lift. Immer, wenn sie vor dem Büro ihres Vaters gestanden hatte, musste sie sich erst überwinden, die Klinke herabzudrücken. An diesem Tage zögerte sie nicht einen Augenblick.

Melanie Schreiber, die langjährige Sekretärin von Dietrich Dohna, zuckte erschrocken zusammen, als Ariane so plötzlich eintrat.

Dann flog ein heller Schein über ihr Gesicht.

»Wie schön, dass Sie wieder gesund sind, Fräulein Dohna«, rief sie aus. »Ich hätte Sie ja gern besucht, aber Ihre Frau Mutter sagte, dass Sie keine Besuche empfangen dürften.«

»So, hat sie das gesagt?«

Melanie wurde verlegen. »Sonst wäre ich doch bestimmt gekommen«, erwiderte sie leise.

Habe ich jetzt sogar den Mut, Mama bloßzustellen?, fragte sich Ariane. Man hatte also bewusst jeden Besuch von ihr ferngehalten, und sie hatte gemeint, dass sie gemieden würde.

»Meine Mutter ist wohl manchmal etwas zu besorgt«, erklärte Ariane gleichmütig. »Ja, nun bin ich wieder da, und ich will doch mal sehen, wie das Geschäft so geht.«

»Nicht schlecht. Wir kommen leider manchmal mit den Lieferungen nicht mehr nach. Da gibt es natürlich auch Reklamationen, aber davon lässt sich Herr Brandner nicht beeindrucken.«

»Und Sie sind beeindruckt von ihm, Frau Schreiber?«

»Das nicht gerade, aber er hat ein ganz anderes Geschäftsgebaren als Herr Dohna. Aber vielleicht gibt ihm der Erfolg wirklich recht.«

Erfolg konnte man ihm nicht absprechen, wie Ariane sich überzeugen konnte. Er redete unaufhörlich. Er ließ sie gar nicht zu Worte kommen.

»Darf ich jetzt auch mal etwas sagen, Herr Brandner?«, unterbrach sie ihn dann. »Wir sind ein solides Unternehmen. Wir haben unsere Kunden nie enttäuscht. Man kann ihnen nicht Lieferfristen versprechen, die wir nicht einhalten können.«

»So genau kann man es doch nie sagen. Die Verträge sind unterschrieben, und die Käufer gedulden sich. Man soll das nicht so eng sehen. Andere Firmen handhaben es nicht anders.«

»Andere Firmen interessieren mich nicht. Wir haben einen guten Ruf und wollen ihn behalten. Das wäre es für heute.«

Als er gegangen war – Ariane hatte noch ein zorniges Funkeln in seinen Augen bemerkt –, ging sie zu Frau Schreiber.

»Ich fahre jetzt heim«, erklärte sie. »Morgen beginnt wieder ein geregeltes Leben. Die Korrespondenz legen Sie bitte mir vor.«

Die nette, arglose Melanie Schreiber war völlig konsterniert. Was mochte denn nur in Ariane gefahren sein, dass sie solche Töne anschlug?

Schön und gut, dieser Brandner erfreute sich nicht gerade größter Beliebtheit, aber man konnte ihm nicht nachsagen, dass er unfähig war. Er hatte eine Art, die Kunden einzuwickeln, die Staunen hervorrief. Er war so clever, dass einem die Luft wegbleiben konnte.

Freilich spielte er sich schon ein bisschen sehr auf, aber wichtig war es doch, dass das Geschäft florierte.


*


Ariane wurde von ihrer Mutter mit Vorwürfen empfangen.

»Wo warst du denn nur? Ich habe schon bei Dr. Norden angerufen, weil ich mir Sorgen gemacht habe«, sagte sie. »Du kannst doch nicht drei Stunden auf dem Friedhof gewesen sein.«

»Ich war im Geschäft«, erwiderte Ariane.

»Das kannst du doch wahrhaftig Herrn Brandner überlassen. Es geht doch alles bestens.«

»Man kann es so oder so sehen, Mama. Es ist nicht Papas Stil.«

»Dein Vater hatte eine altmodische Einstellung«, ereiferte sich Erika Dohna.

»Mein Vater war dein Mann«, sagte Ariane, »und wir hatten selten mal eine Reklamation. Wir hatten zufriedene Kunden.«

»Die Menschen haben mehr Geld und sind anspruchsvoller geworden. Es hat sich viel verändert, mein liebes Kind.«

»Du auch, Mama«, sagte Ariane, »und auch ich. Ich habe meine eigenen Ansichten.«

»Du solltest dich lieber um deine Gesundheit und ein bisschen auch um dein Aussehen kümmern«, sagte Erika.

Sie war eine gut aussehende, sehr gepflegte Frau, immer nach der neuesten Mode gekleidet, immer sehr jugendlich zurechtgemacht.

»Ich möchte dir keineswegs Konkurrenz machen, Mama«, bemerkte Ariane spöttisch.

»Was schlägst du eigentlich für einen Ton an? Kaum warst du im Geschäft, machen sich deine proletarischen Neigungen schon wieder bemerkbar. Es ist an der Zeit, dass Köhler geht.«

»Wenn er geht, geht Brandner auch, damit du dir darüber klar bist. Darf ich dich daran erinnern, dass ich sechzig Prozent der Geschäftsanteile besitze und du vierzig? Du hast Brandner ohne meine Einwilligung eingestellt. Jetzt geschieht nichts mehr ohne meine Zustimmung.«

»Dich soll man verstehen. Du legst alles falsch aus«, schlug Erika nun einen anderen Ton an. »Ich bin besorgt um dich, und zum Dank wirst du renitent. Ich habe mir meine Entscheidung nicht leicht gemacht, Ariane. Herr Brandner konnte die besten Referenzen vorweisen. Ich glaube nicht, dass du einen Grund hast, dich über ihn zu beklagen. Er ist sehr geschäftstüchtig.«

»Zu sehr, Mama. Wir können die Lieferfristen nicht einhalten. Wir können unseren Rahmen doch nicht sprengen. Du verstehst vom Geschäft überhaupt nichts. Dich kann man beschwatzen.«

»Immerhin hat Herr Brandner mehr Erfahrung als du, und er stellt mehr dar als dieser Köhler.«

»Das ist Geschmackssache«, sagte Ariane, aber dann begann plötzlich wieder das Blut in ihren Schläfen zu hämmern. Die Schwäche, die sie schon überwunden glaubte, überfiel sie.

»Könnten wir jetzt essen?«, fragte sie.

»Lotte hat ihren freien Tag. Wir können ja auswärts essen.«

»Nein, danke. Ich gehe heute Abend ohnehin aus.«

»Wohin?«, fragte Erika erregt, »und mit wem?«

»Du sagst mir auch nicht, wohin du mit wem gehst«, erwiderte Ariane. »Ich möchte dich erinnern, dass ich zweiundzwanzig Jahre alt bin.« Dann verließ sie den Raum und ging in ihr Zimmer.

Es war ein großer heller Raum. Sie hatte ihn mit erlesenem Geschmack eingerichtet, der jedoch nicht den Beifall ihrer Mutter fand.

Konnte sie ihr überhaupt noch etwas recht machen? Wie hatte sie sich nur so verändern können? Gewiss, bestimmen wollte sie schon immer, aber zu ernsthaften Differenzen war es zwischen ihnen nie gekommen.

Beim Nachdenken begann Arianes Kopf wieder zu schmerzen. Sie dachte an die Tabletten, die Dr. Norden ihr gegeben hatte. Diese eine hatte ihr doch gutgetan. Ja, es musste an dieser Tablette gelegen haben, dass sie sich wohler gefühlt hatte und der Situation gewachsen.

Es fiel ihr ein, dass sie das Röhrchen in ihre Manteltasche gesteckt hatte, und den Mantel hatte sie in die Garderobe gehängt. Sie raffte sich auf und ging nochmals in die Diele. Kaum hatte sie das Röhrchen aus der Manteltasche genommen, stand ihre Mutter schon wieder in der Tür.

»Was hast du da?«, fragte sie.

»Tabletten. Dr. Norden hat sie mir gegeben gegen meine Kopfschmerzen.«

»Und nun hast du wieder Kopfschmerzen. Das kommt davon, dass du dir gleich wieder zu viel zugemutet hast. Und ausgehen willst du auch noch.«

»Ein wenig Abwechslung tut mir gut, Mama. Ich weiß schon, was ich mir zumuten kann.«

»Es tut mir leid, dass ich kein Essen zubereitet habe«, sagte Erika entschuldigend. »Aber du weißt ja, dass ich im Kochen keine Leuchte bin.«

»Es ist nicht so wichtig. Schließlich sollte ich auch in dieser Beziehung selbstständig werden.«

Mehr sagte sie nicht. Sie ging ins Bad und schluckte wieder eine Tablette. Dr. Norden hatte zwar gesagt, dass sie morgens und abends eine nehmen solle, aber sie wollte es jetzt genau wissen, ob es auf die Wirkung zurückzuführen war, dass sie alles nicht gar so tragisch nahm. 

Sie legte sich aufs Bett und schlief bald ein.


*


Dr. Norden musste indessen ein tüchtiges Pensum absolvieren, und er musste auch so manches Mal trösten und Mut zusprechen. Ariane war nicht die einzige Patientin, die unter Depressionen litt. Es war erschreckend, wie die Fälle sich mehrten, besonders bei noch recht jungen Menschen, deren äußere Verhältnisse keinen Grund zu Pessimismus gaben.

Loni, seine Arzthelferin, stellte darüber Betrachtungen an. »Wenn man keine Not kennenlernt, weiß man die guten Zeiten nicht zu schätzen«, war ihre Meinung. »Ich will Fräulein Dohna da nicht einbeziehen. Sie hat wahrhaftig genug Kummer. Ihre Mutter übertreibt es ja auch kräftig. Da würde mir ebenso der Kragen platzen. Dabei war Herr Dohna doch wahrhaftig ein feiner Mensch. So auffallend brauchte sie nicht die lustige Witwe zu spielen.«

Loni betrachtete es von ihrem Standpunkt aus. Sie hatte ihren Mann auch früh verloren. Sie trauerte heute noch tief um ihn, und niemals wäre sie auf den Gedanken gekommen, wieder nach einem Mann Ausschau zu halten.

»Frau Dohna ist Anfang vierzig, Loni«, meinte Dr. Norden nachsichtig. »So standhaft wie Sie ist halt nicht jede. Manchmal sind solche Reaktionen auch nur ein Aufbegehren gegen ein Schicksal, das einem aufgezwungen wurde, vielleicht auch der Gedanke, dass man nie weiß, wie lange ein Leben währt.«

»Meinen Sie, dass sich Frau Dohna solche Gedanken macht? Sie mimt die lustige Witwe.«

»Kann es nicht sein, dass sie die wirklich nur spielt, Loni?«

Loni senkte beschämt den Kopf. »Ich habe ja nicht das Recht, zu urteilen, aber wenn ich Fräulein Dohna anschaue, dreht sich mir das Herz um. Was war das für ein reizendes Mädchen! Eine Mutter kann doch nicht nur an sich denken.«