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bOJA – Bundesweites Netzwerk Offene Jugendarbeit dient als Plattform für Wissens- und Informationsaustausch und vernetzt Menschen, Ideen, Projekte, Einrichtungen – national und international. bOJA unterstützt das Erwachsenwerden von Jugendlichen in Österreich, indem es mit seinen PartnerInnen im Handlungsfeld der Offenen Jugendarbeit (soziale Einrichtungen, Wirtschaft, Verwaltung, Bildungswesen etc.) zusammenarbeitet und als Sprachrohr und Interessenvertretung für die Bedürfnisse von Jugendlichen aus der Offenen Jugendarbeit agiert. bOJA hat sich zur Aufgabe gesetzt, die Qualitätsstandards in der Offenen Jugendarbeit voranzutreiben und das Bewusstsein für die Bedeutung von Offener Jugendarbeit zu heben.

FREIRÄUME

Eine Annäherung an das Thema
Freiraum im Kontext der
Offenen Jugendarbeit

BUNDESWEITES NETZWERK
OFFENE JUGENDARBEIT

bOJA – Bundesweites Netzwerk Offene Jugendarbeit
Lilienbrunngasse 18/2/47
A – 1020 Wien

ZVR-NR: 78 54 32 196
www.boja.at

Mit freundlicher Unterstützung von

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Originalausgabe 1. Auflage November 2013
© 2013 Archiv der Jugendkulturen Verlag KG, Berlin; prverlag@jugendkulturen.de
Alle Rechte vorbehalten

Vertrieb für den Buchhandel: Bugrim (www.bugrim.de)
Auslieferung Schweiz: Kaktus (www.kaktus.net)
E-Books, Privatkunden und Mailorder: www.shop.jugendkulturen.de

Dieses Buch gibt es auch als E-Book.
Unsere Bücher kann man auch abonnieren: www.shop.jugendkulturen.de

FREIräume
Eine Annäherung an das Thema Freiraum in Kontext der Offenen Jugendarbeit Herausgeber: bOJA – Bundesweites Netzwerk Offene Jugendarbeit Redaktionsteam: Sabine Liebentritt, Daniela Kern-Stoiber, Stephanie Deimel, Christa Fürchtegott Korrektorat: Elisabeth Egger
Layout & Druck: werbeproduktion bucher

Print: 978-3-943774-72-6
PDF: 978-3-943774-73-3
EPUB: 978-3-943774-74-0

INHALT

Vorwort

Sabine Liebentritt / Stephanie Deimel

Frei, freier, FREIräume

Offene Jugendarbeit als zeitgemäßer und dringend notwendiger Freiraum für junge Menschen

Irmtraud Voglmayr

Die Stadt gehört uns – Zur Aneignung von Freiräumen in der Stadt

Johanna Obernberger

Freiheiten im Sonderangebot

Antonio Della Rossa

Freiraum – Kulturraum – Offene Jugendarbeit ON AIR

Interview mit Prof. Josef Scheipl

Freiräume degenerieren in der gegenwärtigen Gesellschaft zu Konsumräumen

Jutta Kleedorfer

Vermittlung findet Stadt!

Ein Beispiel eines städtischen Freiraum-Projekts in Wien

Christian Schreibmüller

Da Letzte drahts Liacht oo

Gabriele Wild

Offene Jugendarbeit als Soziale Arbeit schafft FREIräume …

Reinhard Kräuter

Das Finden von Freiräumen

Valentina Anna Mitterer

(Un)Freiheit

Kein FREIraum ohne Kreativität

Patrick Doderer

Gefangen! Ein Bühnenstück über geistigen Freiraum

Martina Haberleitner, Roderich Winkler

Gesundheit und Freiräume

Alexander Hamedinger

Freiräume in der Stadt- und Regionalentwicklung – Anforderungen an die räumliche Planung

Johanna Obernberger

Als ich mich entschloss eine Gänseblumen-Aktivistin zu werden

Christa Eleonora Heggenberger

Freiräume fördern die Gesundheit!

Christian Schreibmüller

Da Rap is ka Depp

Daniel Nicka

Bildung befreit und schafft FREIräume

Andreas Kurz

Des Kaisers neues Wort - Ein Essay

VORWORT

Das Thema Freiraum ist ein vielschichtiges, das auf verschiedenen Ebenen gedacht, festgemacht und gelebt werden kann. Für die Offene Jugendarbeit (OJA) und ihr Selbstverständnis spielt es in all seinen Facetten eine große Rolle. Offene Jugendarbeit ermöglicht Vielfalt und Experimentierfelder und ist gerade dadurch eine wichtige Sozialisierungsinstanz für junge Menschen.

Vor diesem Hintergrund hat bOJA – Bundesweites Netzwerk Offene Jugendarbeit „FREIräume“ zum Jahresschwerpunkt 2012 erklärt und zahlreiche Aktivitäten in diesem Kontext unterstützt. Eine bunte Zusammenschau findet sich in diesem Buch.

Ziel der Publikation ist es, das Thema und den abstrakten Begriff Freiraum ins Bewusstsein zu rufen und auf verschiedene Arten und Weisen zugänglich zu machen.

Die Aneignung von Freiräumen ist immer ein Aushandlungsprozess – und durchaus ein Ringen, das sich über lange Zeit erstrecken kann. So hat es lange gedauert, bis die Offene Jugendarbeit mit ihren Freiräumen und ihrem expliziten Freiraum-Denken vom Feindbild zu einer Art Leitbild moderner Betrachtungen geworden ist. Diese grundsätzliche Anerkennung der Bedeutung jugendlicher Freiräume und die Wertschätzung der Offenen Jugendarbeit zeigt sich beispielsweise durch die zunehmend wichtigere (und natürlich noch ausbaufähigere) Rolle, die die Offene Jugendarbeit mit ihrer authentischen Expertise im jugendpolitischen Kontext spielt – national, regional und lokal.

Dieses Buch bietet nun einzelne Puzzlesteine, um die LeserInnen in die Weite und Tiefe von Freiräumen und Freiraum-Denken eintauchen zu lassen. So findet sich eine radikal subjektive Annäherung an jugendliche Freiräume aus Sicht des Künstlers Reinhard Kräuter, Workshop-Leiter beim bOJA-Kreativwochenende im Oktober 2012, das Jugendliche an der Akademie der Bildenden Künste verbrachten. Dem gegenüber finden sich zwei wissenschaftliche Annäherungen – einerseits aus der Perspektive der Stadt- und Raumplanung, verfasst vom Stadtforscher Dr. Alexander Hamedinger (TU Wien), und andererseits soziologisch mit einer klaren politischen Nuancierung von der Soziologin Dr.in Irmtraud Voglmayr (Universität Wien). Ein Interview mit dem bOJA-Ehrenmitglied und langjährigen Unterstützer der Offenen Jugendarbeit, Prof. Dr. Josef Scheipl, liefert Antworten auf Freiräume im Kontext von Studium, Offener Jugendarbeit, Professionalisierung und Jugendwohlfahrt. Das Good-Practice-Beispiel „einfach – mehrfach“ aus Wien zeigt, wie die Idee von Freiraumerweiterung in Form von Zwischennutzungskonzepten in einer Kommune systematisch und nachhaltig verankert werden kann.

Fünf Mitgliedseinrichtungen der bOJA stellten ihre Expertise in Form von Beiträgen zur Verfügung. Damit werden die Kontexte, in welchen sich die Angebote der Offenen Jugendarbeit bewegen, beleuchtet – Bildungsarbeit, Kulturarbeit, Soziale Arbeit und Gesundheitsförderung – und die jeweilige Brücke zum Aspekt „Freiräume“ geschlagen.

Herzstück des Buches sind die Abbildungen der Kunstwerke Jugendlicher, die im Sommer 2012 beim bOJA-Kreativwettbewerb eingereicht wurden und mittlerweile in Form einer Wanderausstellung durch Österreich touren. Sie sind das visualisierte Ergebnis von persönlicher und kreativer Auseinandersetzung mit der Idee „Meine persönlichen Freiräume“. Eingeleitet und textlich erläutert werden die Kunstwerke von Mag.a Valentina A. Mitterer, Studentin der Akademie der Bildenden Künste, die bOJA während des ganzen Projekts unterstützte und sich aus künstlerischer Perspektive intensiv mit den einzelnen Werken auseinander gesetzt hat.

bOJA hat auch prominente Personen zu ihren individuellen Freiräumen befragt. Die unterschiedlichen Zitate sind, als solche erkennbar, in das Buch „eingestreut“.

Und nicht zuletzt finden sich in diesem Buch auch lustvolle literarische Werke, die das Thema Freiräume fokussieren: das Theaterstück des jugendlichen Wettbewerbsteilnehmers Patrick Doderer, ein Essay von Mag. Andreas Kurz, Autor und Filmemacher, sowie einige Gedichte, die zwei Poetry Slammer im Rahmen einer Festveranstaltung zum Tag der Offenen Jugendarbeit 2012 zum Thema Freiräume präsentiert haben.

Besonderer Dank geht an das Bundesministerium für Wirtschaft, Familie und Jugend, ohne dessen Förderung diese Publikation nicht möglich gewesen wäre.

bOJA wünscht lustvolles Eintauchen, anregende Gedanken und kreative Ideen, um persönlichen und gesellschaftlichen „FREIraum“ weiterzuentwickeln.

Sabine Liebentritt – bOJA-Geschäftsführerin bis Juni 2013

Stephanie Deimel – Koordinatorin des Tags der Offenen Jugendarbeit

FREI, FREIER, FREIRÄUME

OFFENE JUGENDARBEIT ALS ZEITGEMÄSSER UND DRINGEND NOTWENDIGER FREIRAUM FÜR JUNGE MENSCHEN

SABINE LIEBENTRITT / STEPHANIE DEIMEL

Bereits das Wort „offen“ in der Wortkonstruktion „Offene Jugendarbeit“ macht es deutlich: Es ist Ausdruck von Haltung, Auftrag und Intention und bezieht sich auf Rahmen und Inhalt gleichermaßen.

Offene Jugendarbeit bedeutet lebensweltbezogene, fachlich fundierte, von und mit jungen Menschen entwickelte Angebote. Diese Angebote können in Jugendtreffs, Jugendzentren und im Setting der mobilen Jugendarbeit von den Jugendlichen in ganz Österreich freiwillig in Anspruch genommen werden.

Mit dieser Grunddefinition von Offener Jugendarbeit sind bereits die Kernelemente von Freiräumen von Menschen beschrieben: lebensweltbezogen, von und mit Menschen entwickelt und freiwillig. Ohne diese Attribute gibt es keine Offene Jugendarbeit. Und ohne diese Attribute kann nicht von Freiräumen gesprochen werden.

Offene Jugendarbeit = Freiräume?

Offene Jugendarbeit steht also von ihrer Idee und Grundkonzeption her für Freiräume und schafft tatsächliche Freiräume, in denen Jugendliche experimentieren und das eigene Handeln ausprobieren können. Erfahrungen aus der Offenen Jugendarbeit zeigen, dass es Folgendes ist, das junge Menschen brauchen, suchen, nutzen, sich wünschen, was einfach gut für sie ist: Freiräume, Wahlmöglichkeiten, Experimentierfelder!

Offene Jugendarbeit bietet Freiräume an, sie offenbart Wahlmöglichkeiten und ermöglicht unzensierte Experimentierfelder. Sie lässt jungen Menschen Macht zuteilwerden und ermöglicht ihnen zu lernen, mit sich, dem Leben, der eigenen Zukunft und der Gesellschaft mit all ihren Widersprüchen umzugehen. Das stärkt die individuelle Ermächtigung. In den Jugendtreffs, Jugendzentren und den Einrichtungen der mobilen Jugendarbeit erfahren die Jugendlichen Orientierungsmacht. Hier dürfen junge Menschen auch Fehler machen, um Neues zu erfahren, die eigenen Grenzen zu erweitern und sich weiterzuentwickeln. Und in diesem Erfahren erkennen sie: „Mein Leben, meine Zukunft – ich hab Einfluss darauf!“ – das sind unmittelbar erlebbare und nachhaltig wirksame Freiräume in der Offenen Jugendarbeit.

Die Idee „Tag der Offenen Jugendarbeit“

Der Tag der Offenen Jugendarbeit ist eine Initiative von bOJA aus dem Jahr 2010. Der Grundgedanke besteht darin, an einem konkreten Tag im Jahr die Idee und die Leistungen der Offenen Jugendarbeit sichtbar zu machen. Es geht darum, einen Einblick in die Vielfalt und das gesellschaftliche Potenzial der einzelnen Einrichtungen der Offenen Jugendarbeit in den Kommunen vor Ort zu gewähren, Offene Jugendarbeit für Erwachsene erlebbar und nachvollziehbar zu machen. Medienarbeit, das Veröffentlichen aller Aktivitäten der Jugendtreffs, Jugendzentren und Einrichtungen der mobilen Jugendarbeit an diesem Tag, gezielte Veranstaltungen in den Bundesländern bis hin zu einem „Danke-Fest“ der Landesregierung für die JugendarbeiterInnen ihres Bundeslandes – all das findet unter der Marke „Tag der Offenen Jugendarbeit“ Platz und wird entsprechend kommuniziert.

Der Tag der Offenen Jugendarbeit 2012 widmete sich explizit dem Thema Freiraum. Die Idee: Das Herzstück der Offenen Jugendarbeit unmittelbar und sichtbar in den Mittelpunkt zu rücken. Freiräume zeigen. Freiräume schaffen. Freiräume denken. Freiräume gestalten. Freiräume weiterentwickeln. Und die Offene Jugendarbeit mittendrin und als treibende Kraft.

bOJA-Kreativwettbewerb 2012 „FREIräume“

Anlässlich des Tags der Offenen Jugendarbeit 2012 wurde ein Kreativwettbewerb für junge Menschen aus Österreich ausgerufen. Die Idee war es, eine Auseinandersetzung mit Freiräumen in Gang zu bringen und zu schauen, wo und worin Jugendliche heute Freiräume sehen und wie sie damit umgehen.

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bOJA ©

bOJA-Kreativworkshop 2012

„Wo sind Freiräume und welche Bedeutung haben sie für Jugendliche?“ war die Leitfrage. Als sich bOJA auf den Weg machte, um mit verschiedenen Jugendlichen zum Thema „Freiräume“ ins Gespräch zu kommen, zeigte sich, dass der Freiraum-Begriff gar nicht so selbstverständlich ist wie anfangs gedacht. Er ist sehr abstrakt und löst Befremden aus. Also wurden Brücken gelegt und nach persönlichen Erfahrungen des Freiseins gefragt. Darüber kamen unterschiedliche Aussagen und Blickwinkel ans Tageslicht, die in ihrer Diversitat und Breite sehr spannend, oft gar widersprüchlich waren. Sie reichten von ökonomisierten Orten, wie dem Shopping- oder Fitnesscenter, über Natur bis hin zu imaginären und virtuellen Orten. Auch FreundInnen und das soziale Umfeld spielten eine große Rolle.

In diesen Diskussionen mit Jugendlichen, aber auch beim Einholen von Zitaten erwachsener Persönlichkeiten in Österreich wurde deutlich, dass eine Auseinandersetzung mit Freiräumen offensichtlich irgendwie unmodern geworden ist und die Frage nach dem empfundenen Freiraum die Befragten tatsächlich herausfordert. Etwas für die persönliche Entfaltung so Unabdingbares scheint völlig in den Hintergrund menschlicher Fragestellungen gerückt. Gerade deshalb ist es umso wichtiger, einen neuen Diskurs über Freiräume, ein Recht auf Mitbestimmung und Raum zu einer freien, selbstbestimmten persönlichen Entwicklung in dieser sehr „eng“ gewordenen Welt anzuregen.

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bOJA ©

bOJA-Kreativworkshop 2012

Auch im bOJA-Team erfolgte eine stetige Auseinandersetzung mit dem Wort Freiräume und den zugrunde liegenden bzw. damit einhergehenden Werten und persönlichen Erfahrungen. So beispielsweise das Fazit eines bOJA-Teammitglieds zum Thema Freiräume:

„Freiraum hat für mich vor allem mit Selbstbestimmung zu tun – es ist also ein Raum, in dem ich selbst entscheiden kann und Dinge ausprobieren und leben kann. In meiner Kindheit und frühen Jugend waren das vor allem der Wienerwald und die Wiesen in unserem Dorf – also Räume, in denen ich ungestört und vor allem unkontrolliert Zeit mit meinen FreundInnen verbringen konnte. Die Natur bietet ein besonderes Potenzial, da sie zu einem gewissen Grad wild und ungeordnet ist.“

Die jugendlichen TeilnehmerInnen am Kreativwettbewerb reichten sehr unterschiedliche Kunstwerke ein, die sich vielfältiger Darstellungsformen bedienten. Von Bildern und Collagen über Skulpturen und Objekte bis hin zu virtuellen Werken reichten die jugendlichen Annäherungen. Die Abbildungen der jugendlichen Kunstwerke sind Teil dieses Buches. Und um das Potenzial dieser persönlichen Einblicke noch breiter zugänglich zu machen, konzipierte bOJA eine Wanderausstellung, die in ganz Österreich auf Tour geht und an öffentlichen Orten sichtbar macht, was junge Menschen zum Thema Freiräume zu „zeigen“ haben.

Dran bleiben …

Freiräume zeichnen sich durch die Abwesenheit von Konsumzwängen und durch Partizipationsmöglichkeiten aus. Ein Freiraum ist inklusiv und beruht nicht auf Ausschluss. Es gibt unterschiedlichste Definitionen und Annäherungen, wie bOJA auch beim Einholen der Statements zum Tag der Offenen Jugendarbeit feststellte. Allen gemeinsam scheint eine gewisse Sehnsucht zu sein. Das Wissen um etwas, das sein soll, aber nicht, noch nicht, nicht mehr, nicht ausreichend ist.

Der öffentliche Raum wird heute immer mehr privatisiert und kommerzialisiert. Man hat den Eindruck, dass nicht mehr an der Öffentlichkeit und Gesellschaft partizipierende BürgerInnen gefragt sind, sondern eher konsumierende KundInnen. All das geht einher mit einer stetigen Beschleunigung. Dies bemerkt man vor allem im Bildungssystem und am Arbeitsmarkt: besser, schneller, effizienter soll alles sein. Auf diese Weise breitet sich vor dem Hintergrund der aktuellen Wirtschaftskrise ein starker Individualismus aus – schon darum ist es enorm wichtig, „entschleunigte“ Freiräume zu schaffen, in denen kein Druck auf den (jungen) Menschen lastet, in denen man sich nicht unterordnen muss, eine selbstbestimmte Identitätsentwicklung stattfinden kann und unbeschränkter Raum für soziale Interaktion besteht.

Nur wer über genügend zeitliche und räumliche Freiheiten verfügt, um über sich und die Welt nachdenken zu können, der oder die wird sich auch in Verantwortungsrollen aktiv einbringen und ethische Werte mit realem Leben erfüllen. Dies macht deutlich: Der Aufruf, Platz zu schaffen, um Freiräume zu denken, zu fühlen und zu (er)leben, ist für den modernen Menschen nichts, was einfach nur Freude macht und dem bloßen Zeitvertreib dient, sondern scheint lebensnotwendig, um diese, unsere Gesellschaft in eine gute Zukunft zu steuern.

Zu den Autorinnen:

Mag.a Sabine Liebentritt ist Konzept- und Textentwicklerin und unterstützt unterschiedliche Systeme als Prozess- und Projektbegleiterin. Als bOJA-Geschäftsführung war die Psychologin von 2009 bis Juni 2013 tätig. Davor war sie jahrelang Geschäftsführerin des Vereins „koje – Koordinationsbüro für Offene Jugendarbeit und Entwicklung“ in Vorarlberg. Ihrem Engagement ist die Gründung von bOJA im Jahr 2009 maßgeblich zu verdanken. Im Zuge ihres Wirkens wurden zahlreiche Fachtexte veröffentlicht.

Mag.a Stephanie Deimel, Projektmitarbeiterin bei bOJA. Die Politikwissenschafterin ist seit vielen Jahren im Kontext der Offenen Jugendarbeit in Wien tätig und seit 2012 Mitglied des bOJA-Teams. Ihre universitären Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Migration, EU und Bewegungsfreiheit.

„Die Stadt gehört uns“ – Zur Aneignung von Freiräumen in der Stadt

Irmtraud Voglmayr

Die jüngere Geschichte der kollektiven Auseinandersetzungen um Raum hat in Wien ihren Ausgangspunkt in den 1970er Jahren. Widerständische bzw. gegenkulturelle Bewegungen, allen voran die Neue Frauenbewegung der 1970er Jahre, haben durch ihren Versuch, sich von geschlechtlich codierten Zuschreibungen und sozialen Einschränkungen bzw. Ausgrenzungen zu befreien, neue spezifische Lebensmodelle entwickelt, die sich in den städtischen Raum eingeschrieben haben (Voglmayr 2012a: 242). Aus dieser Bewegung entstanden „autonome Frauenräume“ wie Frauenzentren, -buchhandlungen und -cafés. Selbstverwaltete Kulturzentren und Freiräume wie ARENA, WUK, Amerlinghaus, Ernst Kirchweger Haus (EKH), Rosa Lila Villa und Pankahyttn sind Produkte erfolgreicher Raumbesetzungen, die sich als Lernorte kollektiven (politischen) Handelns verstehen. Trotz jahrzehntelangen Bestehens befinden sich diese Kulturzentren aber von Anbeginn in einem permanenten Konflikt zwischen Subventionsforderung und Autonomieanspruch (Nußbaumer/Schwarz 2012). Der Erhalt dieser Freiräume muss immer wieder aufs Neue mit Stadtpolitik und Rathausverwaltung ausverhandelt und erkämpft werden. Die Androhungen von Subventionskürzungen gehören fast schon zum Alltag dieser alternativen Einrichtungen.

Soziale Bewegungen sind zumeist wegweisend für den Kampf um Freiräume. „Soziale Bewegung“ und „Raum“ sind vielfach aufeinander bezogen, denn Bewegung impliziert einen Raum, in dem sie sich ereignen, realisieren kann. Susanne Maurer zeigt die grundsätzliche politische Bedeutung der Raum-Metapher in sozialen/oppositionellen Bewegungen auf, die sich in Besetzungen aller Art, von Sit-ins über „Besetzt“ bis hin zu „Reclaim the streets“ (Maurer 2005: 631-632) manifestiert. Zur Chronologie der Raumbesetzungen gehören auch die starken Studentlnnenproteste, die sich in der Besetzung des Audimax verräumlicht haben, sowie die großen Platzbesetzungen in Kairo, Madrid und New York. Die globalen Occupy-Bewegungen, die Aufstand und Empörung gegen die neoliberale Gesellschaftsordnung repräsentieren, haben uns gezeigt, wie Praktiken der Solidarität und basisdemokratische Prinzipien an öffentlich genutzten Orten und Plätzen im städtischen Raum gelebt werden können (Voglmayr 2012a). Das Besondere an diesen Bewegungen ist, dass sie alternative Lebensformen nicht länger nur im selbstverwalteten Kulturzentrum, sondern im öffentlichen Raum praktizieren und somit für uns alle sichtbar machen.

Die neoliberale Stadt als umkämpfter Ort

Herrschende soziale Ungleichheitsverhältnisse bestimmen den ungleichen Zugang zur Stadtgesellschaft und ihren Ressourcen; damit sind leistbarer Wohnraum, Räume jenseits des Konsumzwangs, Arbeit, von der man leben kann, sowie Partizipationsmöglichkeiten gemeint. Dieses Grundproblem macht die Stadt zu einem umkämpften Ort, der sich im Kampf um Raum ausdrückt. Während die neuen internationalen Wirtschaftseliten ihre Vorstellungen von Stadt nachhaltig umsetzen und diese prägen, müssen sozial Prekäre oftmals politisch motivierte Gewalt einsetzen, um ihre Ansprüche an die Stadt geltend zu machen (Sassen 2010: 491). Städtische Entwicklungen am Beispiel Wien zeigen zwar, dass für die (jüngeren, männlichen) BewohnerInnen, oftmals migrantischer Herkunft, in sozial benachteiligten Gebieten (Bsp. Volkertmarkt/Mexikoplatz) ein relativ großzügiges Angebot sozialer Einrichtungen wie Jugendzentren, Jugendcafés, Ballspielkäfige, Gebietsbetreuung etc. bereit gestellt wird. Gleichzeitig werden aber Forderungen nach selbstbestimmten Freiräumen ohne Einmischung von „oben“ nicht nur nicht gehört und gebilligt, sondern mit einem unverhältnismäßigen Polizeiaufgebot staatlich-repressiv gelöst, wie die Beispiele „Wagenplätze“ und das besetzte „Epizentrum“ im 7. Wiener Gemeindebezirk gezeigt haben (Voglmayr 2012b: 58).

„das Erschließen, ‚Begreifen‘, Verändern, Umfunktionieren und Umwandeln der räumlichen und sozialen Umwelt“