Ex_und_Liebe

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Das wird jetzt aber wirklich meine Lieblingsstadt

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1

Der Tag, von dem ich weiß, wo ich war

 

Ein Koffer! Für mehr hatte die Zeit nicht gereicht. Vor wenigen Wochen lag hier noch Schnee. Wer konnte ahnen, dass nun Sommerkleidung angesagt sein würde? Die wenige, die griffbereit gewesen und noch annehmbar war, hatte es in den Koffer geschafft. Den Rest musste ich besorgen, wenn ich dort war. Den Knall meines Dispos würde ich bis Florenz hören, aber es musste sein.

Mein Handy klingelte und hielt mich davon ab, weiter die Straße entlang zu starren, in der Hoffnung, der Bus würde davon schneller kommen.

»Cara, endlich rufst du zurück«, rief ich ins Telefon.

»Weißt du, wie spät es ist?« Ein unüberhörbares Gähnen unterstrich die Frage noch.

»Tut mir leid! Aber es ist dringend! Irgendjemandem musste ich es erzählen. Ich fahre nach Florenz.«

»Hast du das Geld schon zusammen? Oder ist was mit Steffen?«

Ja, es war etwas mit Steffen. Etwas Furchtbares, Grausames, Weltveränderndes.

 

Wenige Stunden zuvor

 

Es gibt doch diese Ereignisse – sie verändern alles, stellen deine Welt auf den Kopf, bringen dich zum Weinen oder zum Lachen oder lösen schlicht Entsetzen aus. Was sie allerdings gemeinsam haben, ist die Tatsache, dass wir nie vergessen werden, was wir gerade taten, als es passierte, wo wir waren, wer bei uns war und wie wir uns fühlten.

Ich lag in der Badewanne. Meine Füße taten weh. Mein Tag hatte unspektakulär begonnen …

 

Weitere wenige Stunden zuvor

 

»Mar-ga-re-te!«

Wie ich diesen Tonfall hasste! Ich kniete gerade vor dem Nudelregal und sortierte die länger haltbaren Packungen nach hinten. Aber anscheinend hatte die Sklaventreiberin eine neue Aufgabe für mich.

»In Gang sechzehn hat jemand Essiggurken auf dem Boden verteilt«, rief Elfi, die Filialleiterin, mir vom Ende des Ganges zu. Sie hatte ihre Fäuste in die breiten Hüften gestemmt und blickte mich an, als wäre ich selbst die Gurkenmörderin gewesen.

Leise seufzend erhob ich mich, ging extra in die andere Richtung, um nicht an Elfi vorbei zu müssen, und machte mich auf den Weg zum Putzraum.

»Es ist nur ein Übergangsjob«, murmelte ich vor mich hin. »Es ist nur ein Übergangsjob. Bald wirst du dich vor Jobangeboten kaum retten können.« Ich stöhnte. Sich Tagträumen hinzugeben, war jetzt nicht hilfreich. Im Gegenteil. Meine Hoffnung, bald einen Job zu finden, bei dem mein Journalismusstudium von Nutzen wäre, ließ die Aussicht, gleich wieder sauer riechende Masse vom Boden aufzuwischen, noch schlimmer erscheinen.

»Besser wie Kotze«, kommentierte Elfi, als ich angewidert die Gurken zusammenfegte und so den üblen Geruch noch weiter aufwirbelte.

»Als«, brummte ich vor mich hin.

»Was?«

»Nichts«, rief ich zurück. Als ob es Sinn hatte, Elfi jetzt Deutschnachhilfe zu erteilen.

Zum Glück verlor sie ihr Interesse an meinen Putzfähigkeiten und trollte sich.

»Was machst du da?«, fragte eine Stimme. Im selben Moment stieß ich gegen etwas, gegen jemanden. Ein kleiner Junge, etwa fünf Jahre alt, stand direkt neben mir.

Erschrocken wich ich zurück.

»Wo kommst du denn her?«, fragte ich.

Doch der Kleine sah mich nur mit großen blauen Augen an. Na gut, ich hatte seine Frage auch noch nicht beantwortet.

»Ich mache hier sauber, weil irgendjemand Gurken auf dem Boden verteilt hat«, erklärte ich.

Sein Blick wanderte von mir zu den Gurkenresten am Boden und wieder zurück zu mir.

Ich wandte mich wieder meiner Arbeit zu und schrak zusammen, als der Kleine plötzlich auf der anderen Seite vor mir auftauchte.

»Ist das deine spezielle Fähigkeit?«, fragte ich. »Aus dem Nichts aufzutauchen?«

Wieder schaute er mich einfach nur neugierig an, ohne etwas zu erwidern.

»Wo sind denn deine Eltern?«

»Meine Mama steht an die Kasse.«

»An der Kasse«, berichtigte ich ihn und bereute es sofort. Er war ein Kind. »Komm mal mit. Sie wird dich schon vermissen.« Ich bedeutete ihm mit einem Nicken, mir zu folgen, und ging voraus Richtung Kassen. Auf dem Weg dahin nahm ich einen Apfel vom Obststand und gab ihn dem Kleinen, sozusagen als Wiedergutmachung. »Den musst du aber erst abwaschen, bevor du ihn isst. Okay?«

Er nickte und nahm ihn.

»Yannick!«, rief eine Stimme. »Da bist du ja.« Eine Frau aus der Kassenschlange hatte sich zu uns gedreht und gestikulierte wild.

Der Kleine, Yannick, lief zu ihr und beachtete mich nicht mehr.

Seufzend drehte ich mich um, hörte aber noch, wie die Mutter ihn zurechtwies.

»Was soll denn der Apfel? Wir haben Kaugummi ausgemacht.«

Oh Mann!

 

***

 

Zu Hause ließ ich mich aufs Sofa fallen und tat, was ich so oft in den letzten Wochen getan hatte: Ich blätterte durch den Toskana-Reiseführer und las zum tausendsten Mal den Abschnitt über Florenz. Zum mindestens zweitausendsten Mal wünschte ich, ich wäre mit Steffen gefahren. Zwei Monate Fernbeziehung waren einfach zu lang. Aber ich würde zwei weitere brauchen, um das Geld für einen dreiwöchigen Trip zusammenzubekommen. Und das auch nur, wenn ich bis dahin nichts essen würde.

Vielleicht sollte ich mir dort doch einen Job suchen. Steffen machte schließlich auch keinen Urlaub, sondern eine Art Studienreise durch die Werkstätten. Als Bildhauer war er jobmäßig mindestens genauso eingeschränkt wie ich. Doch Florenz war sein Traum gewesen, dem ich nicht im Weg stehen wollte, nur weil ich mir nicht leisten konnte, ihn zu begleiten.

Italienisches Eis, Pizza und Pasta, eine wunderschöne Stadt und das milde Wetter der Toskana – lieber heute als morgen wäre ich dort. Stattdessen konnte ich mir jetzt wenigstens ein Bad in der Wanne gönnen und weiter von Urlaub in Italien träumen.

Das Handy riss mich aus meinen Gedanken. Ich hatte es am Badewannenrand bereitgelegt, falls Steffen anrief. In den letzten Tagen war er schwer erreichbar gewesen, und ich wollte ihn auf keinen Fall verpassen.

»Hey!«, hauchte ich ins Telefon. Er war es wirklich. Endlich!

»Hallo!«, sagte er.

»Ich vermisse dich.«

»Ja, okay.«

Was war denn das für eine Antwort? Ich setzte mich aufrecht hin.

»Stimmt was nicht?«, fragte ich.

»Was? Warum?«

»Du klingst merkwürdig.« Dieser Unterton in seiner Stimme gefiel mir nicht. Seine Antworten noch weniger.

»Kann sein. Es ist …«

»Was?«

»Hör zu, Grete! Ich werde hierbleiben. Eine der Werkstätten hat mir einen Job angeboten. Das ist genau das, was ich machen wollte.«

»Okay, das verstehe ich.« Was bedeutete das jetzt? Fragte er mich gleich, ob ich zu ihm kommen würde? Für länger? Florenz war bestimmt eine schöne Stadt. Lebenswert. Aber was würde ich als Journalistin dort tun? Weiter Regale einräumen? Eis verkaufen? Über alles einen Blog schreiben?

»Es tut mir leid!«, sagte er jetzt. »Ich wollte nicht, dass es so zu Ende geht.«

Zu Ende? Ich setzte mich noch aufrechter hin.

»Wie meinst du das?« , fragte ich. »Ich kann doch zu dir kommen. Inzwischen habe ich etwas Geld beisammen. Ich könnte dich besuchen … Und dann sehen wir weiter.« Bettelte ich jetzt etwa? Vielleicht wollte er etwas ganz anderes sagen.

»Nein.«

Ich wartete, ob noch etwas kam. Nein konnte doch nicht alles sein, was er zu sagen hatte.

»Steffen …«, begann ich. Aber danach fehlten mir die Worte.

»Es ist aus«, sagte er und bestätigte damit meine Befürchtung.

»Warum? Das muss doch nicht sein. Wir sind seit zwei Jahren zusammen, das können wir nicht einfach wegwerfen. Irgendwie schaffen wir das.«

»Ich werfe es nicht einfach weg. Die Dinge haben sich geändert.«

Ach ja? Eine Ahnung kämpfte sich in meinem Kopf empor, aber ich wagte nicht zu fragen.

»Ich habe jemanden kennengelernt.« Jetzt hatte er es doch gesagt.

»Nein«, flüsterte ich. »Nein!« Diesmal lauter. »Das ist nicht dein Ernst! Du hast mich betrogen?«

»Es ist kein Betrug, wenn ich jetzt mit dir Schluss mache. Ich habe mich verliebt, und ich werde hierbleiben.«

»Das kannst du nicht tun«, rief ich ins Telefon. »Du bist so ein Armleuchter! Warum tust du mir das an?«

»Es tut mir leid!«

Aufgelegt! Er hatte aufgelegt! Einfach so!

 

An der Bushaltestelle

 

Ich lag also in der Badewanne, als Steffen mir das Ende unserer Liebe verkündete. Weil er jemanden kennengelernt hatte.

»So ein Mistkerl!«, bestätigte Cara am anderen Ende des Telefons meine Gefühle nun. »Warum willst du noch zu ihm?«

»Ich muss ihn mir zurückholen. Daran ist nur die blöde räumliche Trennung schuld. Wenn ich früher gefahren wäre, hätte er sich nicht in die Arme einer anderen geflüchtet.«

»Ach, Grete!« Cara seufzte. »Kommst du allein klar? Ich würde mitkommen, aber ich kann derzeit nicht weg.«

»Das weiß ich doch. Ist schon gut. Du kannst dein Baby schlecht mitnehmen oder allein bei Mats lassen.«

»Wenn Mats Urlaub hätte, ginge es.«

Ich hörte förmlich, wie ihr Gehirn ratterte, weil sie mir natürlich beistehen wollte. Typisch! Wir kannten uns seit der Schulzeit, wohnten inzwischen in verschiedenen Städten – aber wenn ich sie brauchte, war sie immer für mich da. So wie ich auch für sie.

»Ich komm schon klar«, beruhigte ich sie. »Versprochen!«

»Melde dich, sobald du da bist. Ich kann dir aus der Ferne wenigstens moralische Unterstützung geben.«

»Danke! Der Bus kommt.«

2

Ein bisschen mehr Demut würde der Stadt nicht schaden

 

Was für eine verflixt schöne Stadt! Sie hatte mir Steffen genommen, aber nur eine Busfahrt reichte, um nachvollziehen zu können, was er an Florenz fand.

Der Fernbus hatte mich am späten Abend in der Nähe der Autobahn abgesetzt, und ich nahm einen Bus in die Innenstadt. Es ging über den Arno, vorbei an beeindruckenden Gebäuden, deren Namen ich hoffentlich bald wissen würde, und durch Straßen, die ich mir gut in einem Mittelalter-Film vorstellen konnte.

Ich hatte ein Zimmer in einer Pension gebucht. Dom, Uffizien, Palazzo Vecchio – alles war zu Fuß erreichbar. Steffen wohnte in der Nähe, auch seine Werkstatt war nicht weit entfernt. Früher oder später würde er mir begegnen. Ich musste nur regelmäßig die Wege ablaufen und überrascht tun. Oder? Das wäre wahrscheinlich zu offensichtlich. Ich sollte mir einen besseren Plan zurechtlegen.

Je weiter der Bus in die Stadt vordrang, desto mehr zweifelte ich an meinem Vorhaben. Wie sollte ich ihn jemals von hier wegbekommen? Wenn ich könnte, würde ich hier selbst sesshaft werden. Wenigstens über die Wintermonate. Wobei es jetzt auch toll war. Trotz der späten Stunde spürte ich noch die Restwärme des Tages. Laut Wetter-App musste ich mit neunundzwanzig Grad und prallem Sonnenschein rechnen. Noch etwas, was diese Stadt attraktiver erscheinen ließ als das kalte, nasse Deutschland.

Die Pension, oder wie man die Zimmervermietung nennen mochte, lag in einer kleinen Gasse. Ich musste einige Stockwerke hochlaufen und klingelte an einer großen Eingangstür. Eine ältere Dame öffnete mir und bat mich herein. Hier sollte eine Pension sein? Das wirkte eher wie eine Wohnung.

Doch ich irrte mich. Zwar glaubte ich immer noch, dass das hier mal eine Wohnung gewesen war, anscheinend jedoch eine für wohlhabende Florentiner. Es gab riesige Zimmer, in die im Nachhinein Bäder eingebaut worden waren, aber auch Treppen, die nach unten oder oben führten in kleinere Zimmer, die vielleicht mal Dienstbotenzimmer gewesen sein mochten. Ein Herrenhaus mitten in Florenz, versteckt hinter einer Wohnungstür, wie es sie zigfach in anderen Städten gab.

Die Dame zeigte mir den kleinen Frühstücksraum, und ich hoffte, ich würde mir den Weg mit den ganzen Abzweigungen merken, dann bekam ich mein Zimmer zugewiesen. Es hatte Holzparkett und eine drei Meter hohe Decke, unter die ein Tuch gespannt war, auf dem ein riesiges Gemälde mit Engeln abgebildet war. In einem im Nachhinein eingebauten Kubus befand sich das Badezimmer. Die Fenster boten einen Blick auf die andere Straßenseite und ein Gebäude namens Palazzo Pazzi. Das sagte mir gar nichts, klang aber beeindruckend.

Das war die perfekte Unterkunft für eine Städtetour. Wie hatte ich Steffen allein fahren lassen können? Diese Stadt schrie förmlich danach, sein altes Leben vergessen zu wollen.

Um diese Uhrzeit war nicht viel los auf den Straßen, und ich hatte gute Lust, gleich zumindest die nähere Umgebung zu erkunden. Der Dom war nicht weit weg, aber ich wusste nicht, wie sicher es hier abends für eine Frau ganz allein sein mochte. Außerdem war ich völlig erschlagen nach der langen Busfahrt. Dass Steffen um diese Zeit noch unterwegs war, bezweifelte ich außerdem. Lieber machte ich mich morgen frisch ausgeruht auf meine Mission.

 

***

 

Baugeräusche weckten mich am frühen Morgen. Schrecklich! Ich raffte mich auf und blickte aus dem Fenster, konnte aber nichts erkennen. Vermutlich war es auf meiner Straßenseite. Etwa zwei Stunden lang schaffte ich es, den Lärm so weit zu ignorieren, dass ich noch etwas dösen konnte, wenn auch sehr unruhig.

Nach einem kurzen Frühstück studierte ich in meinem Zimmer den Stadtplan. Dann buchte ich über mein Handy ein Fünf-Tage-Ticket für den Sightseeing-Bus, der auf zwei Linien und in regelmäßigen Abständen durch die Stadt und an sämtlichen Touristenattraktionen vorbeifuhr. Diesen Tipp hatte ich unterwegs bereits im Internet gefunden.

Als Nächstes stand ein kleines Shopping auf dem Plan. Shoppen, weil ich dringend dem Wetter angemessene Sachen brauchte. Klein, weil ich eigentlich kein Geld dafür hatte.

Kaum hatte ich die Straße betreten, erkannte ich die Quelle des Baulärms. Einige Meter entfernt wurde vor ein Restaurant eine Terrasse gebaut, mitten auf den Bürgersteig und einen Teil der Straße. Als ob es hier nicht schon eng genug war. Aber andere Terrassen derselben Art links und rechts zeigten, dass das hier wohl zur üblichen Ausstattung gehörte. Für mich zerstörten sie das Bild der mittelalterlichen Gasse, aber vielleicht diente das auch der Verkehrsberuhigung. Die schien dringend notwendig. In dem Moment, in dem ich über die Straße wollte, sauste nämlich ein Motorroller an mir vorbei und schlug einen Bogen um mich herum.

Ich wandte mich nach links und kam an der Rückseite des Doms auf dem Domplatz heraus. Überall tummelten sich Menschen. Touristen, die umherliefen oder Fotos machten. Händler, die Souvenirs anboten. Maler mit Staffeleien, die ihre Dienste für Porträts anpriesen.

Doch ich hatte keine Zeit für so etwas, sondern schlug mich einmal quer über den Platz durch. Vor dem Haupteingang des Doms warteten hunderte Menschen, um hineingelassen zu werden. Reisegruppen versperrten den Weg und versammelten sich vor dem Dom und einem Gebäude, das wie ein Minidom aussah, während sie sich von ihren Reiseführern Dinge erklären ließen. In der Gasse dahinter wurden es weniger Menschen, und ich konnte in Ruhe einige Geschäfte nach Schnäppchen durchstöbern.

Nach einer Stunde hatte ich drei Sommerkleider, die eigentlich überhaupt nicht mein Stil waren, und zwei Hot Pants geshoppt – eigentlich auch nichts, was ich sonst tragen würde, aber sie standen mir, und immerhin ging es um etwas.

Einer Eingebung folgend hatte ich außerdem einen großen weißen Sonnenhut und eine überdimensionale Sonnenbrille mitgenommen. Schließlich wollte ich nicht gleich erkannt werden, sobald ich Steffen gefunden hatte.

Tatsächlich war in meinem Kopf schon so etwas wie ein Plan entstanden. Ich wusste, wo er wohnte und wo die Werkstatt war, in der er jetzt arbeitete. Der Rest würde sich dann hoffentlich irgendwie ergeben. Mittags aß ich ein mit Schinken und Rucola belegtes Tramezzino, das ich in die Pension mitgenommen hatte, und entschied mich dann für das neue hellblaue Kleid, das mir bis über die Knie ging. Mit Sonnenhut und Brille sah ich nicht mehr aus wie ich selbst, aber auch nicht albern. Steffen würde mich in diesem Outfit auf keinen Fall auf Anhieb erkennen. Nur wenn ich es darauf anlegte, und das musste ich mir noch gründlich überlegen.

Wenn wir in den vergangenen Wochen telefoniert hatten, erwähnte er hin und wieder, bis zum frühen Abend zu arbeiten. Ich erkundete also den Nachmittag über die Stadt. Ein einziges Mal wagte ich mich auch schon zu seiner Werkstatt und ging in einer Touristengruppe getarnt daran vorbei. Ein Teil der Werkstätten war einsehbar, leider entdeckte ich Steffen dort nicht. Hoffentlich hatte er nicht inzwischen woanders angefangen oder war an einem anderen Standort. Vielleicht hingen die Werkstätten alle miteinander zusammen, schließlich war es irgendein gefördertes Projekt zur Restauration der Figuren, die auf dem Dom standen.

Die schaute ich mir dann auch gleich genauer an. Überall standen sie in kleinen Nischen in der Fassade, umsäumt von weißem, rotem und grünem Marmor. Unglaublich, dass sie alle nachgebildet wurden, damit die Originale erhalten blieben. Ein Traumjob für Steffen. Wenn ich ihn von hier wegholen wollte, musste ich sehr überzeugend sein.

Die kleinen Gassen mit den hohen Häusern versetzten mich in eine völlig andere Welt. Lediglich die modern gestalteten Geschäfte erinnerten daran, dass ich nicht im Mittelalter gelandet war. Hier drang auch nur wenig Sonne hin, sodass es angenehm kühl war, eine erholsame Abwechslung zu den sonnenüberfluteten Plätzen, auf denen sich mehr und mehr Touristen drängten.

Ich war so wütend auf diese Stadt. Sie war so schön, dass ich mir gut vorstellen konnte, dass sie der Hauptgrund für Steffen gewesen war, mich fallenzulassen. Ein bisschen mehr Demut würde der Stadt nicht schaden. Aber die vielen Touristen zwangen nicht gerade zu Bescheidenheit. Dass sie tagsüber so überfüllt war, empfand ich als Manko. Doch die Touristen schien es nicht zu stören.

Gestern Abend war es bei Weitem nicht so voll gewesen. Ich hätte doch noch einen Abendspaziergang unternehmen sollen. Doch das konnte ich ja nachholen. Heute noch. Vielleicht mit Steffen … nein, das war unrealistisch. Zunächst musste ich mir meine Konkurrentin ansehen, um einen Rückeroberungsplan entwerfen zu können.

 

***

 

Schmerzhaft knallte ich gegen die Hauswand. Verflixt! Ich hatte nicht aufgepasst und war Steffen zu dicht auf die Pelle gerückt. Er war um dreiviertel sechs aus der Werkstatt gekommen – es war die richtige gewesen – und hatte sich auf den Weg sonst wohin gemacht. Sein Zimmer lag woanders, so viel wusste ich. Bestimmt ging er zu ihr, und ich hatte Mühe, an ihm dranzubleiben, ohne dass er es bemerkte. Eben hatte er sich plötzlich umgeschaut, sodass ich hinter die nächste Straßenecke gesprungen war. Dabei streifte meine Schulter die Hauswand. So ein Mist! Wäre ich cool stehengeblieben, hätte er mich vielleicht gesehen, aber in meinem Aufzug auf keinen Fall erkannt. Meine langen dunklen Haare hatte ich vollständig unter dem Hut versteckt. Ich war nur eine Frau in blauem Sommerkleid mit einem großen weißen Sonnenhut und einer riesigen Sonnenbrille im Gesicht. Mein Stuntsprung war viel geeigneter gewesen, mich zu verraten.

Vorsichtig lugte ich hinter der Ecke hervor. Steffen war längst weitergegangen. Wer weiß, wonach er sich umgesehen hatte?

Ich beschleunigte meine Schritte, blieb aber hin und wieder vor einem Laden stehen.

»Signorina«, rief jemand, und ich zuckte zusammen.

Vor mir stand ein großer, gutaussehender Mann mit funkelnden braunen Augen und einem breiten Lächeln.

»Entri pure!« Er verbeugte sich und bedeutete mir, durch die Tür hinter ihm zu treten.

Verflixt! Ich hatte mich vor das Fenster eines Restaurants gestellt und die Gäste durch die Scheibe angestarrt. Vor lauter unauffälligem Verhalten wirkte ich nun wie eine Irre.

»Grazie, no.« Ich lächelte und ging schnell weiter.

Steffen hatte wieder einen deutlichen Vorsprung und verschwand aus meinem Sichtfeld, als er auf einen großen Platz hinaustrat.

Ich erkannte die David-Statue vor dem Palazzo Vecchio, daneben war ein Arkadenbau mit weiteren Statuen. Gerne hätte ich mir alles näher angesehen, aber ich hatte eine Mission.

Der Platz war sehr belebt, Leute liefen in Gruppen umher. Die Cafés waren gut besucht. In einem davon musste Steffen sein. Es war der perfekte Ort für ein romantisches Treffen. Ich schlenderte weiter und checkte jeden Tisch in jedem Café und Restaurant. Dann sah ich sie.

Zuerst fiel mir tatsächlich die Frau auf – lange dunkle Haare, klein und zierlich, ein Gesicht wie gemalt, mit großen hellbraunen Augen, einem vollen Mund und einer kleinen Nase. Dass Steffen der Mann war, der neben ihr saß, überraschte mich dann nicht mehr. Obwohl sie so hübsch war, hatte sie nichts von einem Püppchen an sich. Sie redete sehr laut – ich hörte sie deutlich heraus und hätte jedes Wort verstanden, wenn ich der italienischen Sprache mächtig gewesen wäre – und lachte immer wieder dabei, wobei sie tadellos weiße Zähne entblößte. Die pure italienische Lebensfreude. Jedenfalls so, wie ich sie mir vorstellte. Steffen hing an ihren Lippen und sog jedes Wort und jede ihrer Bewegungen in sich auf. Hatte er mich jemals so angesehen? Seine dunklen Haare wirkten etwas verwuschelter als sonst, obwohl er immer sehr darauf achtete, dass seine Frisur saß. Ob das auch ihr zu verdanken war?

Ein Tisch in meiner Nähe wurde in diesem Moment frei. Schnell sicherte ich mir einen Platz mit dem Rücken zu ihnen, doch sie hätten mich ohnehin nicht bemerkt. Zum einen, weil sie so sehr miteinander beschäftigt schienen, zum anderen, weil sich zwischen uns ein Pfosten befand, auf dem sich das Sonnendach über dem Außenbereich abstützte. Zwei große Pflanzen rechts und links neben dem Pfosten ließen mich fast komplett aus ihrem Sichtfeld verschwinden.

Was jetzt? Gleich aufgeben? Konfrontation? Zufall vortäuschen?

Ich zog mein Handy heraus, drehte die Kamera in den Selfiemodus und hielt es seitlich so neben mich, dass ich die beiden weiter beobachten konnte. Doch mit der Sonnenbrille erkannte ich kaum etwas, sodass ich sie auf die Nasenspitze rückte. Ich zoomte nah ran, betrachtete erst meine Rivalin genauer, dann Steffen. Wie toll er aussah! Sonnengebräunt, sodass seine blauen Augen noch mehr hervorleuchteten. Sein enges Shirt unterstrich seine athletische Figur. Mann, ich würde ihm am liebsten um den Hals fallen – wenn er nicht hier mit einer anderen Frau sitzen würde.