cover
cover

 

Prolog

Januar 1987

Der gusseiserne, auf den ersten Blick filigran wirkende Kerzenständer traf mit Schwung seinen Hinterkopf und erzeugte dabei einen dumpfen Laut. Und ein leises Knacken.

Er sagte nichts mehr, stöhnte nur kurz auf.

Seine Beine knickten ein, als hätte der Schlag auf magische Weise sämtliche Knochen aus seinen Gliedmaßen entfernt. Lautlos sackte er in sich zusammen und landete auf dem Perserteppich.

War endlich still.

Der Kerzenständer glitt aus der kraftlos gewordenen Hand. Er landete nicht weit entfernt von dem leblosen Körper auf dem Teppich, der auch diesen zweiten Aufprall dämpfte.

Ein dicker, teurer Teppich. Ein leiser Tod.

Aus der Wunde am Kopf sickerte ein wenig Blut. Es verschmolz mit dem roten Muster, war im schummrigen Schein der Stehlampe kaum zu erkennen.

Wenig später erlosch das Licht. Die Wohnungstür öffnete sich einen Spalt breit. Im finsteren Treppenhaus war es ruhig. Aus der Wohnung nebenan war eine Melodie zu hören. Der Fernseher. Die Sesamstraße war zu Ende.

Schüchtern klackte die Tür ins Schloss. Schritte eilten lautlos die Stufen hinunter und verharrten wenige Herzschläge später draußen auf dem Eingangspodest. Das Geräusch der von allein zufallenden Haustür klang in der Stille lauter, als es eigentlich war.

Kleine, hastige Atemwölkchen erschienen und lösten sich in Sekunden auf, als hätte es sie nie gegeben. Ein kurzer Blick in beide Richtungen, erleichtertes Aufatmen. Kaum jemand war unterwegs bei dieser Kälte. Nur an der Straßenecke, rechts vom Haus, führte ein Mann seinen Rauhaardackel spazieren.

Der kleine Hund hob sein Bein an einem Parkverbotsschild. Sein Herrchen bemerkte nicht, dass jemand aus dem Haus trat, mit gesenktem Kopf in die andere Richtung ging und mit der Schwärze des sterbenden Tages verschmolz.

Kapitel 1

Kriminaloberkommissar Carsten Andresen sah von den Unterlagen auf, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen, als sein junger Kollege „Na, das ist ja super“ brummte und seinen Becher mit Ingwertee abstellte.

„Was denn?“, fragte er, mehr pflichtschuldig als neugierig.

Kriminalkommissar Lutz Weichert schlug mit der flachen Hand auf den Bericht der Toxikologie. „Auf den Weingläsern befinden sich DNA-Spuren, doch in der Datenbank gibt es keine Übereinstimmung.“

„Alles andere wäre ja auch zu schön gewesen. Welcher Fall?“

„Alexander Hoffmann, 1987.“

Andresen sah auf die Uhr. In einer knappen halben Stunde war er mit seiner Tochter Desirée in dem italienischen Restaurant „San Marco“ in der Flensburger Innenstadt verabredet. Sie hatte große Neuigkeiten angekündigt.

Er lehnte sich zurück. „Alexander Hoffmann? Sagt mir nichts, erzählen Sie mal. Aber fassen Sie sich kurz, ich hab noch was vor.“

Weichert nickte. „Verstehe. Also, der Mann wurde am sechzehnten Januar in seiner eigenen Wohnung von hinten mit einem gusseisernen Kerzenleuchter erschlagen. Die Nachbarn haben nichts gesehen oder gehört, es gab weder Streit noch Kampfgeräusche. In der Wohnung wurden auch kaum Spuren gefunden. Bis auf die beiden Weingläser. Auf beiden waren ausschließlich die Fingerabdrücke des Opfers, auf einem jedoch waren sie verwischt und nur schwer zu identifizieren. Ich habe die Gläser aus der Asservatenkammer holen und toxikologisch untersuchen lassen. Die Kollegen fanden auch tatsächlich DNA-Spuren. Sie konnten aber, wie gesagt, nicht zugeordnet werden.“

Andresen runzelte nachdenklich die hohe Stirn. „Gab es Verdächtige?“

Weichert schüttelte den Kopf. „Das war das größte Problem. Der Mann war friedlich geschieden, allseits beliebt, und auch mit seinen Kollegen verstand er sich ausgezeichnet. Mit einer Dame aus seinem Betrieb war er seit einiger Zeit liiert, laut ihrer Aussage gab es zwischen ihr und dem Opfer keinerlei Probleme. Das wurde von den anderen Kollegen bestätigt. Auch mit den Nachbarn kam er offenbar gut aus. Dennoch muss er seinen Mörder gekannt haben, denn Hoffmann hat ihn nach derzeitigem Kenntnisstand selbst in die Wohnung gelassen.“ Weichert lehnte sich ausatmend in seinem Sessel zurück und verschränkte die schlaksigen Arme. „Der Fall ist eine verdammte Sackgasse.“

„Hoppla, ich wusste gar nicht, dass Sie fluchen können“, amüsierte sich Andresen, dann wurde er wieder ernst und beugte sich vor. „Er war geschieden? Was ist mit der Exfrau?“

Weichert schüttelte den Kopf. „Sie hatte ein Alibi und kein Motiv. Die Scheidung war einvernehmlich, bereits mehrere Monate her, und zwischen den beiden war die Stimmung freundschaftlich. Das wurde ebenfalls von mehreren Kollegen des Opfers bestätigt.“

„Sie können vielleicht erwirken, dass die Personen, mit denen dieser …“

„Alexander Hoffmann.“

„Richtig. Also, dass alle Kollegen, Nachbarn, Freunde und so weiter aufgefordert werden, eine Speichelprobe abzugeben. Möglicherweise ist der Mörder doch unter ihnen.“

Weichert schnalzte mit der Zunge. „Ich habe so meine Zweifel, dass das bewilligt wird.“

„Sie können die Untersuchung ja auf diejenigen beschränken, die kein hundertprozentiges Alibi hatten“, schlug Andresen vor.

„Versuchen kann ich es.“ Sein Kollege nahm sich ein Blatt Papier und einen Stift. „Danke für den Rat.“

„Nicht dafür.“

Auf Weicherts Schreibtisch klingelte das Telefon. Er legte den Stift wieder zur Seite und hob den Hörer ans Ohr. „Kriminalpolizei Flensburg, Weichert. Ach, du bist es. Morgen Abend? Ja, das passt mir. Ich koche uns etwas Schönes. Gegen acht? … Schatz, sei mir nicht böse, aber ich habe zu tun. Du kannst mir alle Neuigkeiten aus dem Reitstall doch auch morgen erzählen. Was wir machen? Ach, wir überprüfen alte, ungelöste Fälle darauf, ob die seinerzeit gefunden Spuren aufgrund der fortgeschrittenen Technik auf DNA-Rückstände geprüft und entsprechend neu ausgewertet werden können … Wie bitte? Was heißt hier geschwollenes Polizistengebrabbel? Entschuldige, aber du hast schließlich gefragt. Ja, bis morgen. Tschüs.“ Er legte auf. „Das war Verena.“

„Um das zu kombinieren, muss ich nicht einmal Kommissar sein“, brummte Andresen.

Er schaltete seinen Computer aus und stand auf. „Ich mache dann mal Feierabend. Bei mir gibt’s heute italienisch.“

„Mal wieder ein kulinarisches Zusammensein mit dem Töchterchen?“

„Richtig geraten. Schönen Abend noch!“ Andresen schnappte sich seine Jacke vom Garderobenhaken und verließ das Büro.

Er beschloss, die kurze Strecke zu Fuß zurückzulegen, schließlich zeigte sich das Wetter derzeit von seiner schönsten Seite, obwohl bereits der September vor der Tür stand. Abgesehen davon war es fast unmöglich, in der Nähe des Restaurants einen kostenfreien Parkplatz zu ergattern. Eine entsprechende Suche würde mindestens so lange dauern wie der kurze Spaziergang.

Die Polizeidirektion lag an den Norderhofenden. Von der Frontseite aus konnte man direkt zur Hafenspitze hinübersehen, die um diese Jahreszeit meist bevölkert war. Kinder tobten auf dem Spielplatz, junge Leute saßen in oft ausgelassener Stimmung auf den Treppen direkt am Wasser, die etwas älteren bummelten an der Uferpromenade entlang oder genossen ein maritimes Abendessen auf den Sonnenterassen der dort befindlichen Restaurants.

Andresen hätte auch gern dort gegessen, doch Desirée bevorzugte italienische Küche. Also bog er bei dem vor kurzem eröffneten Hotel ‚Alte Post‘ rechts ab in die Rathausstraße. Genau hier, an dieser Ecke und in luftiger Höhe im ersten Stock erinnerte eine Hermes-Statue, so wusste Andresen, an den ursprünglichen Zweck dieses herrschaftlichen und imposanten Gebäudes. Der Götterbote war als Briefträger ausgestattet, samt Umhängetasche und zuzustellenden Päckchen.

Eigentlich müsste er umgekleidet werden, dachte Andresen schmunzelnd. Er bräuchte nun die Livree eines Hotelpagen.

Auf dem groben Kopfsteinpflaster rumpelten die Autos an Andresen vorbei. Beim traditionsreichen Spielzeuggeschäft Brüning bog er rechts in die Große Straße ein, wo es gleich etwas ruhiger war. Dieser Teil der Flensburger Einkaufsstraße kam bisher ohne große Kaufhäuser oder Passagen aus. Es dominierten kleine Läden, Fachgeschäfte und Bistros, was die Große Straße gemütlicher und weniger hektisch erscheinen ließ als den stärker frequentierten Holm, der links von der Rathausstraße abging.

Das von Desirée ausgesuchte Restaurant befand sich nicht weit entfernt vom Nordermarkt, der in der warmen Jahreszeit beinahe südeuropäisches Flair ausstrahlte. Das sommerliche Wetter lockte die Menschen in die umliegenden Staßencafés, um bei einem Bier oder einem Glas Wein den Tag ausklingen zu lassen und die letzten Sonnenstrahlen zu genießen.

Sein erstes Bier hatte Andresen bereits fast ausgetrunken, als Desirée endlich in der Tür des „San Marco“ erschien und auf ihn zukam. Andresen stand auf, nahm sie in den Arm und ließ sich einen schnellen Kuss auf die Wange hauchen.

„Boah, du kratzt ja heute wieder mächtig, Paps. Rasier dich bloß mal.“

„Bei Gelegenheit.“

Sie hängte ihre knallrote dünne Jacke über die Stuhllehne und setzte sich. „Hast du mir schon was zu Trinken bestellt?“

„Ich wusste doch nicht, was du möchtest.“

„Na hör mal, ich nehme doch jedes Mal Cola, wenn wir hier sind.“

„Wirklich? War es nicht letztes Mal eine Spezi?“

„Bestimmt nicht.“ Desirée griff nach der Karte und ließ ihren Blick über die Menüauswahl schweifen. „Ich glaube, heute nehme ich eine Hawaii-Pizza.“

Andresen winkte nach dem Kellner, der Sekunden später mit gezücktem Block neben ihrem Tisch stand.

„Wir hätten gern eine Hawaii-Pizza für die junge Dame und eine Funghi für mich. Außerdem noch ein großes Bier und eine Co…“

„Und eine Spezi“, unterbrach ihn Desirée.

Andresen hob eine Augenbraue. „Ach was!“

Seine Tochter grinste nur.

Als sie wieder allein waren, lehnte Andresen sich bequem zurück. „Also, was gibt es für Neuigkeiten?“

„Versprich mir erst, dass du nicht ausflippst, Papa.“

Alarmiert sah er sie an. „Bist du etwa schwanger?“

„Nein, Blödsinn!“ Sie schüttelte den Kopf. „Es ist was anderes.“

Er schwieg und wartete ab. Desirée holte tief Luft, dann verkündete sie entschlossen: „Ich mach Schluss mit der Schule.“

Andresens Stirn runzelte sich. „Was meinst du damit?“

„Ich will abgehen. Ende, aus, Mickymaus.“

Abrupt setzte er sich auf. „Jetzt? Bist du verrückt geworden? Das Schuljahr hat gerade angefangen. Du hast ja noch nicht mal die mittlere Reife.“

„Das weiß ich auch. Dieses Jahr mache ich vielleicht noch zu Ende, dann hab ich meinen Abschluss. Aber danach ist finito.“

Andresen atmete erst auf, doch dann wurden seine Augen schmal, und er fixierte das hübsche, blondgelockte Mädchen, das ihm gegenübersaß und dessen Finger mit einem Bierdeckel spielten. „Du machst das Jahr vielleicht noch zu Ende? Was soll das heißen?“

„Ich habe ein tolles Angebot für eine Ausbildung“, berichtete Desirée stolz. „Wenn ich will, kann ich bereits im Januar anfangen. Oder eben im nächsten Sommer, wenn mir das lieber ist. Aber sie würde mich auch mit Hauptschulabschluss nehmen.“

Der Kellner brachte das frische Bier und die Spezi. Andresen führte das fast leere erste Glas zum Mund und trank es aus. Anschließend nahm er das neue und trank noch einen Schluck.

„Nochmal langsam und zum Mitschreiben“, sagte er und wischte sich den Schaum von den Lippen. „Was ist das für eine Lehrstelle und wer ist ‚Sie‘?“

Sie heißt Andrea und hat einen eigenen Friseursalon. Dort kann ich eine Ausbildung und anschließend meinen Meister machen. Wenn ich das geschafft habe, nimmt sie mich vielleicht – halt dich fest! – als Teilhaberin.“ Desirée strahlte und wartete gespannt auf die Reaktion ihres Vaters.

Der sagte erst einmal gar nichts, sondern verdaute das eben Gehörte.

„Und? Was sagst du dazu? Ist doch irre, oder?“

Er nickte langsam. „Ja, das Wort passt ganz gut. Was sagt deine Mutter dazu?“

„Die ist natürlich dagegen“, maulte Desirée. „Ich soll das Abi machen, sagt sie, sonst würde ich das ewig bereuen. Bla bla bla.“ Sie beugte sich nach vorn und sah ihren Vater mit großen blauen Kulleraugen an. „Ich habe keinen Bock mehr auf Schule, Paps. Das Abi schaffe ich sowieso nicht. Außerdem habe ich total Lust, Friseurin zu werden.“

Sie setzte den Blick auf, mit dem sie ihren Vater während der letzten sechzehn Jahre regelmäßig um den Finger gewickelt hatte. „Kannst du nicht mal mit Mama reden? Du bist doch viel cooler als sie.“

Er unterdrückte ein Schmunzeln. Desirée zog wahrlich alle Register – jedoch ohne das von ihr gewünschte Ergebnis. Andresen holte tief Luft. „Ich weiß, das willst du jetzt nicht hören, Schätzchen, aber deine Mutter hat völlig recht.“

Empört setzte Desirée sich gerade hin. „Hat sie nicht!“

„Weißt du eigentlich, was für einen Job du dir da ausgesucht hast? Acht Stunden täglich auf den Beinen, die Hände ständig im Kontakt mit chemischen Substanzen, Kunden mit fettigen Haaren, denen du den Kopf waschen und deren Probleme oder Beschwerden du dir dann auch noch anhören darfst …“

„Papa, ich …“

Er hob gebieterisch eine Hand. „Moment, ich war noch nicht fertig. Abgesehen von den anstrengenden Arbeitsbedingungen musst du auch für diesen Beruf büffeln, und das nicht zu knapp. Da wirst du noch mit den Ohren schlackern, glaub mir. Doch mit Abitur stehen dir ganz andere Möglichkeiten offen. Wenn Friseurin dein Traumjob ist, kannst du ihn dir auch nach dem Abi erfüllen. Nur hast du dann noch einen Trumpf in der Hinterhand, falls du deine Meinung ändern solltest. Mit der mittleren Reife oder gar dem Hauptschulabschluss findest du dich unter Umständen an der Fleischtheke im Supermarkt wieder, als Putzfrau oder Kellnerin.“

In diesem Moment trat der Kellner mit den Pizzen an ihren Tisch und stellte die Teller vor ihnen ab, eine Augenbraue süffisant angehoben.

Andresen wäre am liebsten im Boden versunken.

„Einmal Hawaii, einmal Funghi. Guten Appetit, die Herrschaften.“

Dem Tonfall nach klang es wie: ‚Möge euch die Pizza im Halse stecken bleiben!‘

Andresen lächelte gequält. „Vielen Dank.“

Kaum war der Kellner weitergegangen, nahm Desirée ihr Besteck auf und wisperte mit einem frechen Grinsen: „Ich fürchte, du musst das Trinkgeld erhöhen, Paps.“

****

Klirrend fielen Prof. Dr. Harald Christen Messer und Gabel aus der Hand. Das Besteck landete auf dem Teller neben Filet Mignon und Zucchini-Kartoffel-Auflauf. Mit unheilvoll zusammengezogenen Augenbrauen fixierte er seine Tochter.

„Wie war das?“, erkundigte er sich mit gefährlich ruhiger Stimme. „Was hast du gesagt?“

Verena schluckte. „Na ja, es ist ein tolles Angebot, und Tessa ist nicht mehr die Jüngste, also dachte ich …“

„Vergiss es!“, donnerte ihr Vater. Seine Hände hatten sich zu Fäusten geballt. „Das kommt überhaupt nicht in Frage! Verdien gefälligst endlich dein eigenes Geld, mein Fräulein, dann kannst du es von mir aus für einen weiteren Gaul ausgeben. Ich hab die Nase voll davon, dass du immer nur die Hand aufhältst.“

„Aber …“

„Nichts aber! Du bist sechsundzwanzig und hast absolut nichts vorzuweisen bis auf ein im zweiten Semester abgebrochenes Medizinstudium. Du kannst doch nicht erwarten, dass wir für den Rest deines Lebens für dein Pferd und alles andere aufkommen, während du die Zeit damit zubringst, durch die Gegend zu reiten, shoppen zu gehen oder dich beim Yoga zu verbiegen.“ Sein Ton klang verächtlich.

„So oft gehe ich gar nicht shoppen …“, wagte Verena einzuwenden, doch ihr Vater fiel ihr ins Wort. „Jetzt ist jedenfalls Schluss damit! Du wirst mir bis morgen Abend einen detaillierten Plan darüber vorlegen, wie du dir deine Zukunft vorstellst. Und nur, wenn mir dieser Plan zusagt, werde ich dich weiterhin so lange unterstützen, bis du allein für dich sorgen kannst. Hast du verstanden?“

Verena presste die Lippen zusammen und schwieg. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und türenknallend nach oben verschwunden, doch ein solches Verhalten war im Hause Christen verpönt. Einmal, erinnerte sich Verena, hatte sie dagegen verstoßen. Mit sechzehn. Den Grund wusste sie nicht mehr, aber die Strafe war ihr im Gedächtnis geblieben: Eine Woche Hausarrest und Taschengeldentzug. Seitdem hatte sie nicht mehr gewagt, die Mahlzeit auf diese Weise vorzeitig zu beenden.

Verstohlen musterte sie ihren Vater. Was war bloß mit dem Alten los? Es war so ungerecht, dass sie seine schlechte Laune ausbaden musste. Als ob es ihn schmerzen würde, wenn sie noch ein Pferd bekam. Seine Leidenschaft für Golf war bestimmt teurer. Mitgliedsbeitrag im exklusiven Glücksburger Club, Golfausrüstung, Urlaube an der Algarve in Portugal oder in der Karibik … Immer nur das Beste, das war doch das Motto des Herrn Chefarztes.

Wahrscheinlich wollte er ein Exempel statuieren. Ihr klarmachen, dass alles so geschah, wie er es für richtig hielt. Als wäre er der liebe Gott.

Verena sah hilfesuchend zu ihrer Mutter, doch Amelie Christen deutete nur ein bedauerndes Schulterzucken an. ‚Tut mir leid, da kann ich nichts machen‘, sollte das wohl heißen.

Verena war zutiefst enttäuscht. Mit gesenktem Kopf stocherte sie in ihrem Essen herum. Der Appetit war ihr so was von vergangen. Als das Essen beendet war, stand sie sofort auf.

„Gute Nacht!“, sagte sie in einem ‚Fahrt-zur-Hölle!‘-Tonfall.

„Gute Nacht, mein Schatz“, erwiderte Amelie Christen und lächelte ihr zu. „Schlaf gut.“

Ihr Vater lächelte nicht.

„Du brauchst gar nicht so bockig zu sein, meine Liebe“, Harald Christen tupfte sich den Mund mit einer gestärkten Stoffserviette ab. „Irgendwann wirst du mir dankbar sein, glaub mir. Und vergiss nicht: Morgen Abend erwarte ich eine Antwort.“

Verena antwortete nicht, sondern verließ stocksauer den Raum und stürmte die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Krachend fiel hinter ihr die Tür zu.

Dankbar? Sie schnaubte. Eher fror die Hölle zu.

„Schultern weg von den Ohren“, ordnete eine kräftige weibliche Stimme an. „Beckenboden aktivieren, Bauchdecke nach innen ziehen. Achtet auf eure Atmung. Noch vier!“

Verenas Körper befolgte automatisch die Anweisungen der Pilates-Trainerin. Sie hatte daher Gelegenheit, ihre Gedanken schweifen zu lassen. Der Tag war fast um. Wenn sie nach Hause kam, erwartete ihr Vater eine Entscheidung.

Das Problem war: Sie hatte null Ahnung, was sie beruflich tun sollte. Im Grunde mochte sie ihr Leben so, wie es war.

Sie seufzte und begann noch einmal, die Möglichkeiten zu überdenken.

Studieren fiel flach. Sie hatte absolut keine Lust, erneut jahrelang die Schulbank zu drücken und sich die Nächte mit Lernen um die Ohren zu schlagen. Ob sie Marita, die Inhaberin des Fitness-Studios, fragen sollte, ob sie bei ihr als Trainerin anfangen könnte?

Verena verwarf den Gedanken sofort wieder, denn sie ahnte, wie ihr Vater darauf reagieren würde. („Fitness-Trainerin?? Weißt du, was du da verdienst? Peanuts! Das kann man nebenbei als Job machen, aber doch nicht als Hauptberuf. Und schon gar nicht bis zur Rente.“)

Dasselbe würde er sagen, wenn sie sich entschließen würde, Pferdewirtin zu werden und Reitstunden zu geben. Aber etwas anderes konnte sie nun einmal nicht.

„Und jetzt die ‚Hundred‘!“, rief die Trainerin.

„Boah, die hasse ich!“, stöhnte Rebecca auf der Matte neben Verena. Sie trafen sich jeden Freitag zum gemeinsamen Training und gingen hinterher manchmal eine Kleinigkeit essen.

„Also, ich mag die Übung.“ Während Verena die Beine gerade nach oben streckte, mit angespannten Bauchmuskeln den Kopf anhob und mit den langen Armen Pumpbewegungen machte, ging sie weitere Berufe durch. Bürojob? Langweilig! Einzelhandel? Stupide. Beides wurde obendrein grottenschlecht bezahlt, kam also schon deshalb nicht in Frage.

Krankenschwester? Nee, danke! Kein Job im Krankenhaus. Ihr Vater lebte dafür, aber sie war nun einmal anders. Die zwei Semester Medizin hatten ihr das ausreichend klargemacht. Nur ihm zuliebe hatte sie es überhaupt versucht.

Was gab es denn noch? Vielleicht eine Bankausbildung? Dafür war sie in Mathe immer viel zu schlecht gewesen. Abgesehen davon reizte sie auch dieser Beruf nicht.

Kindergärtnerin? Dutzende kreischende Kleinkinder mit laufenden Nasen, mit denen sie Osterhasen aus Pappe bastelte und Kinderlieder trällerte? Verena schnaubte. Niemals!

Reisebüro? Das war doch im Grunde ein Bürojob mit Palmenpostern im Hintergrund. Als Kind hatte sie Stewardess werden wollen, fiel Verena ein. Das klang so hübsch, und man kam in der Welt herum. Inzwischen hieß es ‚Flugbegleiterin‘ und bedeutete nichts anderes, als in zehntausend Meter Höhe und auf engstem Raum Tomatensaft an schlecht gelaunte Passagiere auszuschenken. Viel mehr als verschiedene Flughäfen und Hotels sah man auch nicht. Als Bonus gab es regelmäßigen Jetlag. Nein, das war definitiv nicht das, was sie unter einem befriedigenden Beruf verstand.

Was Handwerkliches? Himmel, nur das nicht! Sie bekam nicht mal einen Nagel gerade in die Wand, um ein Bild aufzuhängen.

„Uuuund lockern. Single leg stretch! Beim Einatmen Powerhouse aktivieren, beim Ausatmen schön dehnen. Und eins …“

Verena hielt ihr rechtes gestrecktes Bein am Knöchel fest, ließ das andere knapp über dem Boden schweben, genoss die Dehnung und wechselte dann mit dem Ausatmen. Linkes Bein hoch, rechtes runter. Die Bauchspannung halten.

Vielleicht sollte sie zur Polizei gehen. Lutz könnte ihr dabei helfen. Verena lächelte. Das wäre doch eine ausbaufähige Idee! Sie würden gemeinsam auf Verbrecherjagd gehen. Dagegen konnte selbst ihr Vater nichts einwenden.

Der Gedanke beflügelte Verena bis zum Ende der Pilatesstunde.

Unter der Dusche dachte sie allerdings darüber nach, was eine Polizei-Ausbildung vermutlich bedeutete: Schichtdienst, Knöllchen schreiben, Protokolle aufnehmen, von Besoffenen beleidigt und von Demonstranten bespuckt werden … Lutz hatte ihr wahre Schauermärchen erzählt, und sie zweifelte nicht daran, dass es für Frauen noch um einiges härter war.

Während das Wasser ihr den Duschschaum vom Körper spülte und das Rauschen, das von den gekachelten Wänden widerhallte, in ihren Ohren dröhnte, verabschiedete sie sich von einer polizeilichen Karriere.

„Trinken wir gleich noch was zusammen?“, fragte Rebecca, die neben Verena ihre langen schwarzen Haare einschäumte.

Verena nickte ihr zu und drehte die Dusche ab. „Gern. Ich gehe mich schon mal anziehen.“

„Okay, bis gleich.“ Rebecca zwinkerte ihr zu und hielt dann mit geschlossenen Augen ihren schaumigen Kopf unter den Wasserstrahl.

Während Verena auf ihre Freundin wartete, trank sie einen Eiweißdrink und blätterte in dem Programm der Flensburger Volkshochschule, das auf dem Tisch lag. Vielleicht fand sie darin eine Idee. Sie überflog die verschiedenen Angebote: Töpfern, Acrylmalerei – kam nicht in Frage, sie konnte bestenfalls Strichmännchen zeichnen –, EDV-Kurse, Dänisch für Anfänger, Spanisch für Fortgeschrittene, Business-Englisch, Orientalischer Tanz, Nähkurse …

Nähen? Verena überlegte. Vielleicht konnte sie irgendwas mit Mode machen. Mit Klamotten kannte sie sich zumindest aus. Gab Guido Maria Kretschmer Kurse für Modedesign? Sie dachte an ihre Zeichenkünste, grinste schief und blätterte weiter. Aber eine Schneiderlehre könnte sie im Hinterkopf behalten.

„Autoren-Workshop-Woche, Schwerpunkt Regional-Krimi“, las sie.

Das klang interessant. Sie spüre ihr Herz plötzlich schneller schlagen. Die wenigen Worte brachten eine verstaubte Saite in ihr zum Klingen. Während der Schulzeit hatten ihre Lehrer ihre Phantasie gelobt und die Art, wie sie sich ausdrücken konnte. Damals schrieb sie heimlich kleine Geschichten und verewigte schmalzige Gedichte in ihrem Tagebuch. Das Schreiben war ihr damals sehr wichtig gewesen. Warum hatte sie überhaupt damit aufgehört?

Möglicherweise, überlegte Verena, war es an der Zeit, wieder anzufangen.

Aufgeregt vertiefte sie sich in die Kursbeschreibung.

„Regionalkrimis erfreuen sich seit Jahren großer Beliebtheit. Machen Sie Ihr Hobby zum Beruf. Lernen Sie in einer intensiven Woche alles Wichtige über das Schreiben mit Schwerpunkt auf dem Genre Krimi: Spannungsbogen, Perspektiven, Erzählzeiten, Dialoge, Charaktergestaltung, Story-Plot. Dieser Crash-Kurs hilft Ihnen, die grundlegenden Kenntnisse des Schreibens zu erlernen, zu erweitern und anzuwenden.“

Verenas Augen leuchteten. Das war es! Schriftstellerin war der Beruf, der für sie in Frage kam. Dagegen konnte ihr Vater nichts sagen. Sicher war es ein Wink des Schicksals, dass sie ausgerechnet heute von diesem Kurs erfuhr.

Schon entwickelte sich die Idee für eine Kriminalgeschichte in Verenas Kopf. Ein Mord auf dem Reiterhof. Der attraktive Reitlehrer wird tot in einer Box aufgefunden, neben sich das wildeste Pferd im Stall, das aufgeregt wiehernd, verschwitzt und mit den Augen rollend die Hufe gegen die Boxenwand krachen lässt und …

„Verena? Hallo-ho!“

Sie sah hoch. Rebecca stand vor ihr und musterte sie besorgt. „Ist alles okay mit dir? Du warst ja völlig weggetreten.“

Verena blinzelte. „Danke, es geht mir super.“

„Na, dann bin ich ja beruhigt.“ Rebecca ließ sich auf den Stuhl ihr gegenüber fallen, sah das aufgeschlagen Programmheft vor ihrer Freundin liegen und zog es zu sich heran. „Was gibt es denn da so Interessantes?“ Sie überflog die Angebote.

„Das hier klingt ganz gut.“ Verenas Zeigefinger tippte auf den Absatz mit dem Krimi-Crashkurs.

„Leitung: Thomas Kuhl“, las Rebecca. „Was für ein witziger Name. Echt cool!“ Sie zog das Wort in die Länge, so dass auch Verena der gleiche Klang auffiel.

„Klingt, als wäre er ein cooler Lehrer“, grinste sie. „Ich glaube, ich melde mich dort an.“

„Echt?! Ich wusste gar nicht, dass du schreibst.“

„Hab ich auch lange nicht mehr gemacht. Aber jetzt hätte ich Lust, wieder damit anzufangen. Wann beginnt der Kurs?“

Rebecca sah nach. „Am siebten September.“

„Ui, das ist ja schon in ein paar Tagen. Hoffentlich ist noch ein Platz frei.“

Rebecca zog ihr iPad aus der Trainingstasche, schaltete es ein und schob es zu Verena hinüber. „Sieh nach. Ich hole mir inzwischen einen Drink.“

Wenig später kam sie mit einem rosafarbenen Eiweißgetränk zurück. „Und?“

„Es sind noch zwei Plätze frei. Willst du vielleicht mitmachen?“

„Ich? Ich kann nicht schreiben. Und ich will auch nicht. Nee, nee, das mach man hübsch alleine. Ich wünsche dir viel Spaß.“

Verena zuckte mit den Schultern. „Na gut.“ Sie öffnete ein Anmeldeformular, gab ihre Daten ein und drückte schließlich auf Enter.

„Das war’s“, sagte sie, sah Rebecca mit leuchtenden Augen an und hob ihr Glas. „Nun ist es offiziell. Ich werde Krimi-Autorin.“

Rebecca stieß lachend mit ihr an. „Das ist ja echt wahnsinnig coooool!“

Krimi-Autorin?“ Harald Christen starrte Verena entsetzt an. „Was Verrückteres ist dir nicht eingefallen?“

Kaum zurück von ihrer Pilates-Stunde und noch völlig elektrisiert von ihrer Idee, war sie in das Arbeitszimmer ihres Vaters geplatzt, der an dem wuchtigen alten Schreibtisch vor seinem Computer saß. Sie hatte geahnt, dass ihre Entscheidung Überraschung hervorrufen würde, doch diese verletzende väterliche Reaktion enttäuschte sie schon.

Sie hob das Kinn und hielt seinem Blick stand. „Ich weiß, dass es das Richtige für mich ist.“

„Ach wirklich? Weißt du denn auch, wie viele Schriftsteller von dem leben können, was sie mit dem Schreiben verdienen?“

Verena schluckte. „Nein, keine Ahnung“, gab sie zu.

„Die wenigsten. Ein verschwindend geringer Bruchteil. Du weißt doch nicht einmal, ob du das Zeug dazu hast.“

„Das werde ich während der Kurswoche schon herausfinden.“

„Und diesen Kurs soll ich finanzieren, ja? Was kostet der Spaß überhaupt?“

Verena sagte es ihm.

„Geht ja noch“, brummte Harald. „Aber vermutlich ist diese Investition so sinnvoll wie das Ausfüllen eines Lottoscheins am Freitag, dem 13.“

„Danke fürs Mut machen, Papa.“ Verena verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.

„Ich versuche nur, dich mit der Realität vertraut zu machen.“

„Das ist nett von dir, ändert aber nichts daran, dass ich es versuchen möchte. Unterstützt du mich nun dabei oder nicht?“

Ihr Vater ging zum Fenster, sah eine Weile nachdenklich hinaus in den gepflegten Garten, drehte sich um und kam zurück. Dann wies er mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf seine Tochter. „Also schön. Immerhin machst du dann zur Abwechslung mal etwas Sinnvolles. Aber wenn du vorzeitig abbrichst oder den Berufswunsch wieder fallen lässt, wirst du dir innerhalb eines Monats etwas Reelles suchen und mir von deinem ersten Gehalt den ausgelegten Betrag zurückzahlen.“

Nun zögerte Verena. Dann nickte sie. „Einverstanden. Das ist fair.“

„Und für den unwahrscheinlichen Fall, dass du tatsächlich ein Buch veröffentlichst“, fuhr ihr Vater mit einem angedeuteten Schmunzeln fort, „möchte ich, dass du es mir widmest. Als dem Menschen, ohne dessen Hilfe das Werk niemals entstanden wäre.“

Ungläubig sah sie ihn an. „Ist das dein Ernst?“

„Aber natürlich.“

Sie seufzte. „Also gut.“

Sie besiegelten die Abmachung mit einem Händedruck.

Wenig später machte sich Verena auf den Weg zu Lutz. Sie war gespannt, wie er auf die Neuigkeit, dass sie Schriftstellerin werden wollte, reagieren würde. Weil sie zu lange hin und her überlegt hatte, was sie anziehen sollte und ihre Haare nicht so wollten wie sie, klingelte Verena erst zehn Minuten nach der vereinbarten Zeit an Lutz’ Wohnungstür.

Die Tür ging auf. „Hi!“, sagte er mit einem zärtlichen Lächeln.

Sie trat auf ihn zu und legte die Arme um seinen Hals. „Hi. Ich hab dich vermisst.“

„Ich dich auch.“ Er gab ihr einen langen Kuss, dann zog er sie in die Wohnung. „Komm, das Essen ist in fünf Minuten fertig. Ich ahnte ja schon, dass du etwas später kommst.“

Sie funkelte ihn an. „Wieso?“

„Du bist doch nie pünktlich.“ Er grinste. „Guck nicht so grimmig. Was wahr ist, muss wahr bleiben. Möchtest du ein Glas Wein?“

Sie war zu gut gelaunt, um weiter zu schmollen. „Gern.“

„Kommt sofort. Geh schon mal ins Wohnzimmer.“

Mit diesen Worten verschwand Lutz in der Küche. Verena ging weiter und setzte sich an den gedeckten Esstisch. Da kam Lutz auch schon und reichte ihr ein mit Weißwein gefülltes Glas. Sie stießen an.

„Danke für die Einladung“, sagte Verena lächelnd.

„Gern. Auf uns.“ Sie tranken, dann stellte Lutz sein Glas ab. „Ich hole eben das Essen, und dann erzählst du mir die spannenden Neuigkeiten aus dem Reitstall.“

„Höre ich da Ironie?“

Er lachte nur und verschwand Richtung Küche.

Als er zurückkam, servierte er Tortellini mit Käsesauce und Feldsalat.

„Guten Appetit.“

„Danke“. Verena probierte und verdrehte genüsslich die Augen. „Lecker. Die Soße ist fantastisch.“

„Der Koch dankt. Also, was gibt es Neues?“

Sie schluckte den Bissen hinunter, ließ die Gabel sinken und holte tief Luft. „Ich habe mich zu einem Schreibkurs angemeldet“, sagte sie feierlich. „Ab kommenden Montag werde ich lernen, wie man Krimis schreibt.“

Lutz’ Augenbrauen rutschten ein Stück nach oben, sein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. „Echt? Wieso das denn?“

„Zum einen, weil ich glaube, dass mir das liegt. Und zum anderen, weil mein reizender Vater mir ein Ultimatum gesetzt hat.“

„Was für ein Ultimatum?“ Lutz schob sich eine Gabel voll Feldsalat in den Mund.

Genervt winkte Verena ab. „Ich solle endlich konkrete Pläne bezüglich meiner Zukunft machen, meinte er. Er hat ein Riesenfass aufgemacht, nur weil ich ihn gefragt habe, ob ich noch ein Pferd kaufen könne. Es war ein Super-Angebot. Evita ist erst zwei Jahre alt und ihre Eltern sind …“

„Warte mal!“ Lutz, der gerade einen Tortellino aufgespießt hatte, hielt inne. „Du willst dir noch ein Pferd kaufen? Mal abgesehen von der Zeit, die dafür draufgeht – sowas kostet doch ein Vermögen.“

„Quatsch, ich sagte doch, das Angebot war der Hammer. Außerdem …“

„Ich meinte nicht die Anschaffung, meine Süße, sondern die laufenden Unterhaltungskosten. Stallmiete, Futter, Tierarzt … Das geht ganz hübsch ins Geld. Wovon willst du das denn bezahlen?“

Verena griff nach ihrem Weinglas und trank schweigend.

Lutz nickte verstehend. „Schon klar, der liebe Herr Papa soll es richten. Na, da wundert es mich nicht, dass sich seine Begeisterung in Grenzen hielt.“

„Ist ja gut, ich habe verstanden“, schmollte Verena. „Kein zweites Pferd.“

„Jedenfalls wohl nicht zur Zeit“, bestätigte Lutz. „Aber wenn du erst einen Bestseller geschrieben hast, kannst du dir von deinem eigenen Geld eines kaufen.“

Sie musterte ihn mit schmalen Augen. „Du machst dich lustig über mich, hm?“

„Ehrlich gesagt, ein bisschen schon.“ Er hob eine Hand und strich ihr sanft über die Wange.

Sie bog den Kopf zurück. „Das kann ich jetzt echt nicht brauchen.“ Sie schob ihren Stuhl zurück und stand auf. „Ich glaube, ich fahre nach Hause. Vielen Dank fürs Essen.“

„Verena, warte.“ Zerknirscht griff er nach ihrer Hand. „Bleib hier, bitte. Es tut mir leid. Du hast nie erwähnt, dass du schreiben willst. Ich war einfach überrascht.“

Sie schwieg, setzte sich aber wieder hin.

Lutz fuhr fort. „Wenn es dir wirklich ernst ist, bin ich neugierig, was bei dieser Autoren-Sache herauskommt. Sollte das dein Plan für die Zukunft sein, werde ich mich nicht mehr darüber lustig machen, sondern dich unterstützen. Versprochen.“

Prüfend sah sie ihn an und gab schließlich nach. „Also schön, ich vergebe dir“, sagte sie großmütig.

Er grinste und trank einen Schluck Wein.

„Und ich zähle auf dich“, fügte sie hinzu und griff wieder zur Gabel. „Bestimmt werde ich dich mit Fragen bombardieren, was die Polizeiarbeit betrifft. Ich meine, mit dir an meiner Seite habe ich den anderen Schreiberlingen gegenüber doch einen Riesenvorteil.“

„Frag was und so viel du willst.“

„Gern – wenn es soweit ist. Jetzt fällt mir gerade nichts ein. Und nach dem Essen …“, sie warf ihm ein zärtliches Lächeln zu, „… gibt es erst einmal Dessert.“

Lutz grinste, nahm die Serviette und tupfte sich den Mund ab. „Das hättest du nicht sagen dürfen.“

„Wieso nicht?“

„Weil ich nun keine Lust mehr aufs Hauptgericht habe.“ Er stand auf und zog die lachende Verena hinter sich her ins Schlafzimmer.

****

Marianne Andresen hatte zur Familienkonferenz geladen. Ort der Versammlung: Der Esstisch in ihrer Küche, auf dem frisches Brot, Butter, Käse, verschiedene Wurstsorten, Tomaten, Gurken und dampfendes Rührei mit Schnittlauch zu einer geselligen Mahlzeit einluden. Für ihren Exmann hatte sie ein Bier im Kühlschrank, sie selbst bevorzugte Tee zum Abendbrot.

Als Carsten Andresen eintraf, saß Desirée bereits mit langem Gesicht auf ihrem Platz.

Er ignorierte ihren zur Schau gestellten Widerstand und musterte stattdessen den liebevoll gedeckten Tisch. „Ah, das sieht ja köstlich aus. Da bekommt man richtig Appetit.“ Er lächelte seiner Exfrau zu. „Danke, dass ich mit euch essen darf.“

„Gern. Ich weiß ja, dass du dich hauptsächlich von Dosengerichten und Currywurst ernährst. Und irgendwie fühle ich mich immer noch ein bisschen für dich verantwortlich. Setz dich.“

Er gehorchte und wandte sich an seine bockende Tochter. „Hallo, Schätzchen. Alles klar?“

Als Antwort zog sie eine Grimasse. „Witzig!“

Marianne holte das Bier und füllte es in ein Glas. Dann goss sie ihrer Tochter Milch und sich selbst heißen Tee ein. Anschließend ließ sie sich auf dem dritten Stuhl nieder.

„Wollen wir erst essen?“, fragte sie. „Oder sollen wir gleich zum Thema kommen?“

„Ich bin dafür, dass wir uns erst diesen Köstlichkeiten widmen“, sagte Andresen. „Solange das Rührei heiß und die Stimmung relativ friedlich ist.“

Seine Exfrau lächelte ihm zu und reichte ihm den Brotkorb. „Klingt vernünftig. Guten Appetit.“

Andresen schmierte Butter auf die Scheibe Brot und häufte dann das Ei darauf. Genüsslich schob er sich einen Bissen in den Mund. Er liebte Rührei, bereitete sich selbst allerdings fast nie welches zu. Vermutlich, weil Marianne das viel besser konnte als er. Und weil er zu faul war, gab er sich selbst gegenüber zu.

„Schätzchen, möchtest du gar nichts essen?“, fragte Marianne mit einem Seitenblick auf Desirée, die sich mit verschränkten Armen zurückgelehnt und eine Mauer des Schweigens um sich herum aufgebaut hatte.

„Kein Hunger.“

Ihre Mutter hob die Schultern. „Dann eben nicht. Erzähl mal, Carsten, gibt es Neuigkeiten bei dir?“

„Meinst du privat? Nein, eigentlich nicht.“

„Du arbeitest immer noch so viel, hm?“

Seine unkonventionellen Arbeitszeiten waren der Hauptgrund für ihre Scheidung gewesen. Marianne hatte irgendwann beschlossen, dass das Leben mehr zu bieten haben musste, als die Ehe mit einem Mann, der praktisch nie da war – weder für sie noch für die gemeinsame Tochter.

„Ist halt viel zu tun“, brummte er unwillig, obwohl das gar nicht stimmte. Er hielt sich lieber in seinem Büro als in der ruhigen Wohnung auf. Doch das musste er seiner Exfrau ja nicht unbedingt auf die Nase binden.

„Ich frage mich, ob du kein Privatleben hast, weil du so viel arbeitest, oder ob du so viel arbeitest, weil du kein Privatleben hast“, sinnierte Marianne treffsicher, während sie Schinken auf ihrem Brot drapierte. „Ist ja schließlich ein Unterschied.“

„Hab noch nicht darüber nachgedacht“, muffelte Andresen mit vollem Mund. Das Thema behagte ihm nicht. „Was ist mit dir? Ein neuer Mann am Horizont?“

„Nein, niemand Bestimmtes. Ich arbeite in einer Damenboutique, wie du weißt. Die einzigen Männer, die mir dort über den Weg laufen, sind entweder schlecht gelaunte Lieferanten oder Tüten tragende Ehemänner.“

Andresen trank einen Schluck Bier und grinste schadenfroh. „Du Ärmste!“

„Vielleicht ändert sich das ja nächste Woche.“ Marianne biss von ihrem Schinkenbrot ab, registrierte den verwunderten Blick ihres Exmannes und fragte, sobald sie den Bissen hinuntergeschluckt hatte: „Du hast doch noch auf dem Plan, dass Desirée demnächst für zwei Wochen bei dir wohnt, weil ich mit meiner Freundin nach Mallorca fliege?“

Andresen erstarrte für eine Schrecksekunde, hatte sich aber sofort wieder im Griff. „Natürlich weiß ich das noch“, versicherte er. „Ab Sonntag, richtig?“

„Samstagabend“, berichtigte Marianne.

„Da geh ich auf eine Party und penne bei Sophie“, widersprach Desirée und griff in den Brotkorb. Offenbar musste sie ihrem knurrenden Magen zuliebe ihren Hungerstreik vorerst aufgeben.

„Das ist noch nicht entschieden“, erinnerte Marianne sie streng. „Dein Verhalten in den letzten Tagen spricht eindeutig dagegen.“

„Jetzt halt mal die Luft an!“, zickte Desirée. „Ich bin sechzehneinhalb und nicht mehr neun. Du behandelst mich immer wie ein Wickelbaby.“

„Achte auf deine Wortwahl, junge Dame!“ Andresens tiefe Stimme klang bedrohlich. „So redest du nicht mit deiner Mutter, verstanden?“

„Wenn du wüsstest“, seufzte Marianne und nippte an ihrem Tee.

„Ihr könnt mich mal!“ Desirée schmiss ihr Brot auf den Teller und machte Anstalten, aufzuspringen und aus dem Raum zu stürmen, doch Andresens gewaltige Pranke legte sich um ihren Unterarm und hielt ihn fest.

„Du bleibst hier. Wir haben noch gar nicht das eigentliche Thema angeschnitten, nämlich deinen bescheuerten Plan, die Schule abzubrechen.“

Desirée biss die Zähne zusammen und funkelte ihn an. „Ich hab keinen Bock mehr auf die Scheiß-Schule!“, zischte sie.

„Und ich bin sicher, die Schule hat keinen Bock mehr auf dich“, konterte Andresen. „Dein Benehmen ist unter aller Sau. Doch solange du nicht volljährig bist, sind wir für dich verantwortlich und darum wirst du weiterhin zur Schule gehen. Friseurjob hin oder her.“

„Paps, die Ausbildung ist die perfekte Chance für mich!“, rief Desirée aufgebracht. „Meine Noten sind total im Keller. Damit kriege ich weder einen Studienplatz noch eine Lehrstelle.“

An dieser Stelle nickte Marianne mit düsterem Blick.

„Andrea nimmt mich trotzdem“, fuhr Desirée fort. „Und ich habe viel mehr Lust, zu arbeiten und Geld zu verdienen, als weiter zu büffeln. Das Abi wird sowieso überbewertet.“

Andresen runzelte die Stirn. „Wo hast du denn den Blödsinn her?“

Sie winkte ab. „Ist doch egal.“

Während der nächsten halben Stunde redeten sie sich die Köpfe heiß. Doch Andresen und Marianne blieben stur. Erst ein vernünftiger Abschluss, dann eine Ausbildung. Und die Party am Samstag könne sie vergessen, so wie sie sich aufführe.

Heulend verschwand Desirée in ihrem Zimmer.

Marianne sah ihr bedrückt hinterher. „Tun wir das Richtige, Carsten?“

„Ganz bestimmt. Jetzt ist sie stinksauer und hasst uns wie der Teufel, doch irgendwann wird sie einsehen, dass wir recht hatten, und uns dankbar sein.“

„Dein Wort in Gottes Gehörgang.“ Seufzend stand Marianne auf und begann, den Tisch abzuräumen. „Möchtest du noch ein Bier?“

„Gern.“ Er erhob sich und half ihr beim Abräumen. „War irgendwie ganz schön, mal wieder ein Team mit dir zu bilden.“

Marianne räumte Salz- und Pfefferstreuer in den Küchenschrank. Dabei lachte sie leise. „Stimmt. Ist lange her, dass wir uns so einig waren.“ Sie drehte sich um und plötzlich standen sie sich gegenüber, nur wenige Zentimeter voneinander entfernt.

Marianne sah ihn an, und Andresens Herz schlug unvermittelt schneller. Er fühlte sich an früher erinnert, als sie frisch verliebt gewesen waren und kaum die Hände voneinander lassen konnten. Dieser Moment war ein knisterndes Déjà-vu.

Mariannes große Augen schauten zu ihm auf. Ihre blonden Locken kringelten sich widerspenstig in ihrer Stirn. Sie schien nervös, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schluckte. Andresen überlegte, ob er sie küssen sollte. Ob sie es von ihm erwartete. Und ob er es überhaupt wollte.

Ja, dachte er. Ja, ich möchte sie küssen. Sie ist trotz Scheidung nach wie vor meine Frau, die Mutter meiner Tochter, die einzige Person auf der Welt, die mich oft besser zu kennen scheint, als ich mich selbst kenne.

Außerdem war sie noch immer verdammt hübsch, trotz der etwas runderen Hüften und der leichten Krähenfüße um ihre Augen. Ja, er würde sie küssen, sie in den Armen halten und … wer konnte wissen, wie es sich dann entwickeln würde? Er war für alles offen. Zu lange schon lebte er allein und sehnte sich danach, mal wieder menschliche Wärme zu spüren, einen weichen, weiblichen, sinnlichen Körper, der wunderbar duftete und sich an ihn schmiegte …

Er wollte gerade seine Arme um ihre Taille legen und sich zu ihr hinunter beugen, da wandte sie sich ab und begann, das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine zu räumen.

„Ich bringe dir Desirée dann am späten Samstagnachmittag“, sagte sie, als wäre gar nichts gewesen.

Andresen stand da wie ein begossener Pudel. „Ist gut“, murmelte er und ging zur Küchentür. „Ich … ich gehe dann jetzt.“

„Ich dachte, du wolltest noch ein Bier?“

Er antwortete nicht, sondern verließ ohne ein weiteres Wort die Wohnung.

Kapitel 2

Der Golden Retriever-Labrador-Mix ließ sein jämmerlichstes Jaulen ertönen, setzte sich neben den Schreibtischstuhl und schlug seinen wedelnden Schwanz rhythmisch auf den Dielenboden. Thomas Kuhl, der dabei war, den Unterricht für den Krimi-Workshop vorzubereiten, reagierte ungeduldig. „Wir gehen ja gleich. Gib mir noch zwanzig Minuten, Hexe, ja?“

Das Jaulen, das auf diese Bitte folgte, war lang gezogen und tieftraurig.

Thomas registrierte den flehenden Blick aus warmen braunen Augen, seufzte und schob seinen Stuhl zurück. „Also gut, aber nur eine kleine Runde.“

Hexe bellte zufrieden, sprang auf und eilte zur Tür. Als Thomas ihr nachfolgte, kam er an dem leeren Zimmer vorbei. Er vermisste Max schon jetzt, obwohl der erst vor wenigen Tagen ausgezogen war. Nun lebte er mit seiner Freundin zusammen.

Thomas verstand seinen Kumpel, doch die Tatsache machte ihn auch traurig. Er würde Max in Zukunft deutlich seltener sehen. Zu selten.

Ob der neue Mitbewohner ebenfalls gern Action-Filme a là James Bond sah und die Augen morgens erst nach der zweiten Tasse Kaffee aufbekam, so wie Max und er selbst?

Thomas und Hexe gingen die Dorotheenstraße hinauf und überquerten wenig später die Flurstraße Richtung Marienhölzungsweg. Hier befand sich eine alte Villengegend mit vielen Bäumen, was Hexe gut gefiel. Sie passierten den Peter-Christian-Hansen-Weg, ließen den Tennis-Verein des DGF hinter sich und erreichten schließlich die kleine Brücke, die die B 200 überspannte. Am anderen Ende der Brücke lag die Marienhölzung, ein Waldgebiet mit Restaurant, Wildschweingatter und kleinen Seen. Thomas schloss den Reißverschluss seiner Windjacke. Der Sommer schien sich endgültig verabschiedet zu haben. Ein scharfer Ostwind wehte ihm ins Gesicht. Er sah zum Himmel hinauf. Dort türmten sich Wolkenberge. Von Regen hatte er nichts gehört, doch man konnte ja nie wissen. Die Wetterfritzen wussten auch nicht alles und irrten sich schließlich immer wieder. „Hexe, komm, wir drehen um“, rief er. Die Hündin sah auf, spitzte die Ohren und kam zurück.

Auf dem Rückweg sah Thomas auf die Uhr. Fast fünf. In einer guten halben Stunde kam der erste Bewerber für das Zimmer. Insgesamt hatten sich drei potentielle Mitbewohner angemeldet, zwei Männer und eine Frau. Am Telefon hatten sie allesamt sympathisch geklungen, doch das musste nichts heißen. Zumindest hatte keiner von ihnen ein Problem mit Hexe. Das wäre auch ein sofortiges Ausschluss-Kriterium. Allergiker oder Hundegegner gingen gar nicht. Thomas tendierte gefühlsmäßig mehr zu einem männlichen Mitbewohner. Mit einer Frau zusammenzuleben bedeutete Hormonschwankungen, lange Haare im Waschbecken, endlose Telefonate mit kichernden Freundinnen und und und. Aber er wollte dieser Nina zumindest eine Chance geben.

Um Punkt halb sechs klingelte es. Thomas registrierte das zufrieden. Pünktlich hieß meist auch zuverlässig. Ein Pluspunkt. Er betätigte den Summer und öffnete die Wohnungstür. Ein junger, schlaksiger Kerl kam die Treppe herauf gerannt, er nahm immer gleich drei Stufen auf einmal.

„Hallo, ich bin Felix“, sagte er, nur leicht außer Atem, und reichte Thomas die Hand.

„Thomas. Komm rein. Das Zimmer ist das zweite auf der linken Seite.“

Felix betrat die Wohnung, sah sich flüchtig um und steuerte dann den angegebenen Raum an. „Groß ist das Zimmer ja“, sagte er und warf einen Blick aus dem Fenster. „Schön, dass es nicht zur Straße rausgeht. Ich habs gern ruhig, wenn ich arbeite.“

„Was machst du beruflich?“

„Ich studiere im vierten Semester Biologie und Sport auf Lehramt. Um was zu verdienen, arbeite ich nebenbei als Personal Trainer. Und du?“

„Hauptsächlich bin ich Werbetexter, außerdem schreibe ich, fast ausschließlich Krimis und Liebesgeschichten für Zeitschriften. Ach ja, und ich gebe Schreibkurse.“

„Oh, ein Kreativer! Cool!“

Thomas grinste. „Ja, das ist mein Name.“

Felix stutzte kurz, dann lachte er auf. „Stimmt ja!“

„Eine Frage noch: Warum musst du aus deiner jetzigen Bude raus?“

„Mein Mitbewohner zieht nach Hamburg“, erklärte Felix. „Ich habe erst überlegt, mir einen neuen zu suchen, aber umzuziehen gefällt mir besser. Die Busverbindung bei meiner Bude ist nämlich ätzend, außerdem sind die Wände so dünn, dass ich jeden Toilettengang meiner Nachbarn hören kann. Solche Sachen nerven auf Dauer.“

„Hier ist die Busverbindung gut, und die Wände sind auch nicht aus Papier“, beruhigte Thomas ihn.

„Prima.“ Der sportliche Student sah sich noch die anderen Räume an, streichelte Hexe und fand alles klasse. „Ja, von mir aus ginge das klar“, sagte er auf dem Weg nach draußen. „Das Zimmer gefällt mir. Aber ich würde es in einer anderen Farbe streichen. Weiß ist doch öde.“

„Das ginge klar“, sagte Thomas. „Du hast aber nichts Extravagantes im Sinn, oder? Schwarz oder rosa?“

Felix lachte. „Keine Panik. Bin weder der deprimierte noch der feminine Typ.“

„Dann bin ich ja beruhigt.“ Thomas öffnete die Wohnungstür. „Deine Chancen stehen gut, aber heute kommen noch zwei andere Bewerber. Ich rufe dich morgen an und sage dir Bescheid. Okay?“

Felix nickte. „Geht klar. Bis morgen dann.“ Er hob verabschiedend die Hand und sprintete die Treppe hinab.

Der nächste Bewerber war das komplette Gegenteil des agilen Felix. Der junge Mann kämpfte sein Übergewicht mühsam die Stufen hinauf. Seine bleiche, ungesunde Gesichtsfarbe zeugte davon, dass er kein Freund von frischer Luft und Bewegung war, sondern eher seine Zeit am Computer verbrachte. Die kurze Unterhaltung bestätigte diesen Eindruck. Obendrein schien dem Stubenhocker Hexe unheimlich zu sein. Thomas war froh, als er ging.

Als Letztes kam Nina Bender.