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Abb. 1: Farblithographie von Wilhelm Riefstahl (Frontispiz) der illustrierten Separatausgabe (5. Auflage 1857).

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EDITIONEN AUS DEM STORM-HAUS 9

Nach einer Zeichnung von Ludwig Pietsch aus dem Jahre 1856

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© eBook: Boyens Buchverlag GmbH & Co. KG, Heide 2013

ISBN Printausgabe: 978-3-8042-0829-2

Vorwort

Mit der Novelle „Immensee“ wurde Theodor Storm schlagartig der literarisch interessierten Öffentlichkeit im deutschen Sprachraum bekannt. Mit dieser Erzählung erreichte er 1852 den Durchbruch, obgleich sie erst den Anfang seiner Entwicklung zu einem der bedeutendsten Novellisten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts markiert. „Immensee“ ist bis auf den heutigen Tag neben dem letzten Meisterwerk „Der Schimmelreiter“ (1888) die meist gelesene Novelle des Husumer Dichters geblieben. Zu seinen Lebzeiten war „Immensee“ zugleich die erfolgreichste Erzählung; allein die Separatausgabe erreichte in Storms Todesjahr die 30. Auflage.

Die gesellschaftskritischen Hintergründe seiner Erzählkunst hat man lange Zeit übersehen, wohl auch deshalb, weil Storms Leser vor allem Frauen aus bürgerlichen Kreisen waren. Die Abgelegenheit des fiktiven Ortes „Immensee“ galt lange als ländlicher Gegenpol zur geschäftigen Welt der Städte, wobei unbeachtet blieb, daß Reinhardts Gegenspieler Erich gerade dort eine moderne Fabrik zur Destillation von Sprit errichtet und mit Erfolg betreibt. Neuere Analysen der Novelle zeigen, wie sehr die von Storm gestalteten Motive aktuelle Probleme seiner Zeit aufgreifen, wie modern er Fragen der neuen Sicht von Liebe und Ehe, von künstlerischer Verschrobenheit und praktischer Lebensbejahung, von Resignation und Vita aktiva thematisiert. Es lohnt sich also, Storms „Immensee“ vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse von 1848 bis 1852 neu zu lesen.

Zweimal wurde die Novelle von bedeutenden zeitgenössischen Künstlern illustriert. Die Arbeit an der ersten dieser beiden Ausgaben begründete 1856 die lebenslange Freundschaft Storms mit dem Illustrator, Journalisten und Schriftsteller Ludwig Pietsch, der die Zeichnungen für den Großteil der Abbildungen anfertigte. Die zweite war eine Ehrengabe zum 70. Geburtstag, eine typische Prachtausgabe des 19. Jahrhunderts, für die die neu entwickelte Reproduktionstechnik der Photogravüre genutzt wurde. Holzstich, Chromlithographie und Heliogravüre sind die drei wichtigsten Drucktechniken der Storm-Zeit, und sie repräsentieren zugleich die drei verbreitetsten Druckverfahren: den Hochdruck, den Flachdruck und den Tiefdruck. Durch die Verbindung dieser drei Drucktechniken mit der bekannten Storm-Novelle zu zwei Buchprojekten, die zum Zeitpunkt ihres Erscheinens auch aus herstellungstechnischen Gründen Aufmerksamkeit erregt haben, wird die Bedeutung des literarischen Schaffens Storms von seiten des Buchmarkts in ein neues Licht gerückt. Im Anhang der vorliegenden Ausgabe der „Immensee“-Novelle in der Reihe „Editionen aus dem Storm-Haus“ werden deshalb die Illustrationen der beiden Ausgaben von 1857 und 1887 ausführlich kommentiert. Die Dokumentation ihrer Entstehung zeigt uns, daß der Dichter von „Immensee“ die aktuellen technologischen Entwicklungen seiner Zeit mit großem Interesse wahrgenommen hat. Auch hierin war Storm ein typisches Kind seiner Zeit und damit weit von dem Bild entfernt, das eine spätere Zeit von dem vermeintlichen Heimatdichter und Idylliker zu zeichnen versucht hat. Im Gegenteil: Die große Aufmerksamkeit, die Storm den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen seiner Zeit und gleichermaßen der optimalen Vermarktung seiner Werke widmete, offenbart uns einen im Leben stehenden Menschen, der über die Felder der Familie, seines juristischen Brotberufs und seiner empfindsamen Dichtkunst hinaus blickte und der die technischen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts nicht nur interessiert wahrnahm, sondern auch für seine Interessen optimal zu nutzen suchte.

Zugleich aber leisten die idyllisch verniedlichenden Illustrationen einer Aufnahme der Novelle Vorschub, die Storm sehr früh schon als Heimatdichter und „Goldschnittpoeten“ verkleinerte. Seine positive Reaktion auf die Zeichnungen Ludwig Pietschs, in denen der gesellschaftskritische Ansatz der Erzählung konsequent ausgeblendet wird, hat diese einseitige Sichtweise auf das erzählerische Frühwerk Storms verstärkt. Bild und Text erscheinen in der ersten illustrierten Ausgabe von 1857 in einem eigentümlichen Widerspruch, der auch die Prachtausgabe von 1887 bestimmt. Hier wird – wie oft in literarischen Zeugnissen des 19. Jahrhunderts – eine Diskrepanz zwischen einer auf die Moderne vorausweisenden Erzählkunst und einer Tendenz zur zeitlosen Idylle sichtbar.

Mein Dank gilt allen Mitarbeitern des Storm-Hauses, die meine Arbeit bei der Beschaffung von Materialien, beim Korrekturlesen und mit vielfältigen Hinweisen unterstützt haben; ein besonderer Dank gebührt Karl Ernst Laage, der auch diese Arbeit mit kritischen Ratschlägen begleitet hat.

Dank gilt auch den Mitarbeitern der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek Kiel, die mir den Abdruck von Dokumenten aus dem Storm-Nachlaß erlaubt haben.

Eckart Pastor aus Liège (Belgien) hat durch freundschaftliche Begleitung der Arbeit vor allem meinen kritischen Blick auf die Illustrationen geschärft.

 

Husum, im August 1998Gerd Eversberg

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Immensee

Der Alte

An einem Spätherbstnachmittage ging ein alter wohlgekleideter Mann langsam die Straße hinab. Er schien von einem Spaziergange nach Hause zurückzukehren; denn seine Schnallenschuhe, die einer vorübergegangenen Mode angehörten, waren bestäubt. Den langen Rohrstock mit goldenem Knopf trug er unter dem Arm; mit seinen dunklen Augen, in welche sich die ganze verlorene Jugend gerettet zu haben schien, und welche eigentümlich von den schneeweißen Haaren abstachen, sah er ruhig umher oder in die Stadt hinab, welche im Abendsonnendufte vor ihm lag. – Er schien fast ein Fremder; denn von den Vorübergehenden grüßten ihn nur Wenige, obgleich Mancher unwillkürlich in diese ernsten Augen zu sehen gezwungen wurde. Endlich stand er vor einem hohen Giebelhause still, sah noch einmal in die Stadt hinaus und trat dann in die Hausdiele. Bei dem Schall der Türglocke wurde drinnen in der Stube von einem Guckfenster, welches nach der Diele hinausging, der grüne Vorhang weggeschoben und das Gesicht einer alten Frau dahinter sichtbar. Der Mann winkte ihr mit seinem Rohrstock.„Noch kein Licht!“sagte er in einem etwas südlichen Akzent; und die Haushälterin ließ den Vorhang wieder fallen. Der Alte ging nun über die weite Hausdiele, dann durch einen Pesel, wo große Eichschränke mit Porzellanvasen an den Wänden standen; durch die gegenüberstehende Tür trat er in einen kleinen Flur, von wo aus eine enge Treppe zu den oberen Zimmern des Hinterhauses führte. Er stieg sie langsam hinauf, schloß oben eine Tür auf, und trat dann in ein mäßig großes Zimmer. Hier war es heimlich und still; die eine Wand war fast mit Repositorien und Bücherschränken bedeckt; an der andern hingen Bilder von Menschen und Gegenden; vor einem Tische mit grüner Decke, auf dem einzelne aufgeschlagene Bücher umherlagen, stand ein schwerfälliger Lehnstuhl mit rotem Sammetkissen. – Nachdem der Alte Hut und Stock in die Ecke gestellt hatte, setzte er sich in den Lehnstuhl und schien mit gefalteten Händen von seinem Spaziergange auszuruhen. – Wie er so saß, wurde es allmählich dunkler; endlich fiel ein Mondstrahl durch die Fensterscheiben auf die Gemälde an der Wand, und wie der helle Streif langsam weiter rückte, folgten die Augen des Mannes unwillkürlich. Nun trat er über ein kleines Bild in schlichtem schwarzen Rahmen. „Elisabeth!“ sagte der Alte leise; und wie er das Wort gesprochen, war die Zeit verwandelt; e r   w a r   i n   s e i n e r   J u g e n d.

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Die Kinder

Bald trat die anmutige Gestalt eines kleinen Mädchens zu ihm. Sie hieß Elisabeth und mochte fünf Jahre zählen; er selbst war doppelt so alt. Um den Hals trug sie ein rotseidenes Tüchelchen; das ließ ihr hübsch zu den braunen Augen.

„Reinhardt!“ rief sie, „wir haben frei, frei! den ganzen Tag keine Schule, und morgen auch nicht.“

Reinhardt stellte die Rechentafel, die er schon unterm Arm hatte, flink hinter die Haustür, und dann liefen beide Kinder durch’s Haus in den Garten, und durch die Gartenpforte hinaus auf die Wiese. Die unverhofften Ferien kamen ihnen herrlich zu Statten. Reinhardt hatte hier mit Elisabeths Hülfe ein Haus aus Rasenstücken aufgeführt; darin wollten sie die Sommerabende wohnen; aber es fehlte noch die Bank. Nun ging er gleich an die Arbeit; Nägel, Hammer und die nötigen Bretter lagen schon bereit. Während dessen ging Elisabeth an dem Wall entlang und sammelte den ringförmigen Samen der wilden Malve in ihre Schürze; davon wollte sie sich Ketten und Halsbänder machen; und als Reinhardt endlich trotz manches krumm geschlagenen Nagels seine Bank dennoch zu Stande gebracht hatte und nun wieder in die Sonne hinaustrat, ging sie schon weit davon am andern Ende der Wiese.

„Elisabeth!“ rief er, „Elisabeth!“ und da kam sie, und ihre Locken flogen. „Komm“, sagte er, „nun ist unser Haus fertig. Du bist ja ganz heiß geworden; komm herein, wir wollen uns auf die neue Bank setzen. Ich erzähl’ Dir etwas.“

Dann gingen sie beide hinein und setzten sich auf die neue Bank. Elisabeth nahm ihre Ringelchen aus der Schürze und zog sie auf lange Bindfäden; Reinhardt fing an zu erzählen: „Es waren einmal drei Spinnfrauen – –“

„Ach“, sagte Elisabeth, „das weiß ich ja auswendig; Du mußt auch nicht immer dasselbe erzählen.“

Da mußte Reinhardt die Geschichte von den drei Spinnfrauen stecken lassen, und statt dessen erzählte er die Geschichte von dem armen Mann, der in die Löwengrube geworfen war. „Nun war es Nacht“, sagte er, „weißt Du? ganz finstere, und die Löwen schliefen. Mitunter aber gähnten sie im Schlaf und reckten die roten Zungen aus; dann schauderte der Mann und meinte, daß der Morgen komme. Da warf es um ihn her auf einmal einen hellen Schein, und als er aufsah, stand ein Engel vor ihm. Der winkte ihm mit der Hand und ging dann gerade in die Felsen hinein.“

Elisabeth hatte aufmerksam zugehört. „Ein Engel?“ sagte sie. „Hatte er denn Flügel?“

„Es ist nur so eine Geschichte;“ antwortete Reinhardt „es gibt ja gar keine Engel.“

„O pfui, Reinhardt!“ sagte sie und sah ihm starr in’s Gesicht. Als er sie aber finster anblickte, fragte sie ihn zweifelnd: „Warum sagen sie es denn immer? Mutter und Tante und auch in der Schule?“

„Das weiß ich nicht“, antwortete er.

„Aber Du“, sagte Elisabeth, „gibt es denn auch keine Löwen?“

„Löwen? Ob es Löwen gibt! In Indien; da spannen die Götzenpriester sie vor den Wagen und fahren mit ihnen durch die Wüste. Wenn ich groß bin, will ich einmal selber hin. Da ist es viel tausendmal schöner als hier bei uns; da gibt es gar keinen Winter. Du mußt auch mit mir. Willst Du?“

„Ja“, sagte Elisabeth; „aber Mutter muß dann auch mit, und Deine Mutter auch.“

„Nein“, sagte Reinhardt, „die sind dann zu alt, die können nicht mit.“

„Ich darf aber nicht allein.“

„Du sollst schon dürfen; Du wirst dann wirklich meine Frau, und dann haben die Andern Dir nichts zu befehlen.“

„Aber meine Mutter wird weinen.“

„Wir kommen ja wieder“, sagte Reinhardt heftig; „sag es nur gerade heraus, willst Du mit mir reisen? Sonst geh ich allein; und dann komme ich nimmer wieder.“

Der Kleinen kam das Weinen nahe. „Mach nur nicht so böse Augen“, sagte sie; „ich will ja mit nach Indien.“

Reinhardt faßte sie mit ausgelassener Freude bei beiden Händen und zog sie hinaus auf die Wiese. „Nach Indien, nach Indien!“ sang er und schwenkte sich mit ihr im Kreise, daß ihr das rote Tüchelchen vom Halse flog. Dann aber ließ er sie plötzlich los und sagte ernst: „Es wird doch nichts daraus werden; Du hast keine Courage.“

– – „Elisabeth! Reinhardt!“ rief es jetzt von der Gartenpforte. „Hier! Hier!“ antworteten die Kinder und sprangen Hand in Hand nach Hause.

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Im Walde

 

So lebten die Kinder zusammen; sie war ihm oft zu still, er war ihr oft zu heftig, aber sie ließen deshalb nicht von einander; fast alle Freistunden teilten sie, Winters in den beschränkten Zimmern ihrer Mütter; Sommers in Busch und Feld. – Als Elisabeth einmal in Reinhardts Gegenwart von dem Schullehrer gescholten wurde, stieß er seine Tafel zornig auf den Tisch, um den Eifer des Mannes auf sich zu lenken. Es wurde nicht bemerkt. Aber Reinhardt verlor alle Aufmerksamkeit an den geographischen Vorträgen; statt dessen verfaßte er ein langes Gedicht; darin verglich er sich selbst mit einem jungen Adler, den Schulmeister mit einer grauen Krähe, Elisabeth war die weiße Taube; der Adler gelobte an der grauen Krähe Rache zu nehmen, sobald ihm die Flügel gewachsen sein würden. Dem jungen Dichter standen die Tränen in den Augen; er kam sich sehr erhaben vor. Als er nach Hause gekommen war, wußte er sich einen kleinen Pergamentband mit vielen weißen Blättern zu verschaffen; auf die ersten Seiten schrieb er mit sorgsamer Hand sein erstes Gedicht. – Bald darauf kam er in eine andere Schule; hier schloß er manche neue Kameradschaft mit Knaben seines Alters; aber sein Verkehr mit Elisabeth wurde dadurch nicht gestört. Von den Märchen, welche er ihr sonst erzählt und wieder erzählt hatte, fing er jetzt an, die, welche ihr am besten gefallen hatten, aufzuschreiben; dabei wandelte ihn oft die Lust an, etwas von seinen eigenen Gedanken hineinzudichten; aber, er wußte nicht weshalb, er konnte immer nicht dazu gelangen. So schrieb er sie genau auf, wie er sie selber gehört hatte. Dann gab er die Blätter an Elisabeth, die sie in einem Schubfach ihrer Schatulle sorgfältig aufbewahrte; und es gewährte ihm eine anmutige Befriedigung, wenn er sie mitunter Abends diese Geschichten in seiner Gegenwart aus den von ihm geschriebenen Heften ihrer Mutter vorlesen hörte.

Sieben Jahre waren vorüber. Reinhardt sollte zu seiner weiteren Ausbildung die Stadt verlassen. Elisabeth konnte sich nicht in den Gedanken finden, daß es nun eine Zeit ganz ohne Reinhardt geben werde. Es freute sie, als er ihr eines Tages sagte, er werde, wie sonst, Märchen für sie aufschreiben; er wolle sie ihr mit den Briefen an seine Mutter schicken; sie müsse ihm dann wieder schreiben, wie sie ihr gefallen hätten. Die Abreise rückte heran; vorher aber kam noch mancher Reim in den Pergamentband. Das allein war für Elisabeth ein Geheimnis, obgleich sie die Veranlassung zu dem ganzen Buche und zu den meisten Liedern war, welche nach und nach fast die Hälfte der weißen Blätter gefüllt hatten.