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© eBook: Boyens Buchverlag GmbH & Co. KG, Heide 2013

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Übersichtskarte: Die Nordseeküste zwischen Sylt und Eiderstedt mit den vorgelagerten Inseln und Halligen

Die nordfriesische Halligwelt

Wie es „einst“, vor etwa 750 Jahren, vor der Küste des heutigen Nordfriesland ausgesehen hat, das deutet Storm im ersten Absatz seiner Novelle „Eine Halligfahrt“ an (S. 37). Er spricht von „großen Eichenwäldern an unserer Küste“, die es den Eichhörnchen ermöglichten „meilenweit von Ast zu Ast zu springen“ ohne den Boden zu berühren. Der Husumer Kartograph J. Mejer hat den damaligen Zustand (er datiert auf das Jahr 1240) nach alten Überlieferungen rekonstruiert (vgl. die Karte). Wenn man diese Karte mit dem heutigen Zustand (vgl. die Übersichtskarte auf dem inneren Buchdeckel) vergleicht, wird deutlich, wieviel Land in den letzten Jahrhunderten untergegangen ist. Durch große Sturmfluten ist – wie Storm es in seiner Novelle formuliert – das Küstenvorland „in diese Inselbrocken zerrissen“ worden (S. 45).

Eine der größten Sturmfluten war die sogenannte „Manndränke“ (das ,Menschenertrinken‘) von 1362; sie hat den Ort Rungholt zusammen mit 30 Kirchen und Kirchspielen vernichtet. Die beiden sog. „Allerheiligen-Fluten“ von 1436 und 1570 haben große Teile der Insel ,Strand‘ überflutet. Verheerende Folgen hatte auch die „Zweite Manndränke“ von 1634: Die große Insel ,Strand‘ wurde auseinandergerissen, übrig blieben die heutigen Inseln Pellworm und Nordstrand. Mehr als 10 000 Menschen sollen – nach Heimreich – damals ertrunken sein.

Die Sturmflut von 1825, die der Dichter Storm in Jugendjahren miterlebt hat, war besonders für die Halligen verheerend; darüber haben wir gesicherte statistische Angaben: 74 Menschen sind damals auf den Halligen ertrunken, und 134 Menschen mußten die Halligen verlassen, weil sie ihre Existenz verloren hatten1.

Daß die Menschen auf den Halligen dauernd mit Landverlusten rechnen mussten, dokumentieren Vermessungsprotokolle (Hektarzahlen abgerundet): Die Hallig Hooge verlor zwischen 1873/4 und 1882 rund 138 Hektar Land, Langeneß 80, die kleineren Halligen Süderoog 27, Oland 17 und Habel 18 Hektar! Mit ersten Sicherungsmaßnahmen begann man in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, aber erst nach der Sturmflut von 1962 hat man sich intensiver um die Befestigung der Halligkanten gekümmert und sturmflutsichere Schutzräume mit Betonpfosten und Verstrebungen in die Hallighäuser eingebaut (vgl. Abb. 3 und 4).

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Abb. 1: Nordfriesland um 1240 mit den später untergegangenen Landteilen vor der heutigen Küste (Karte von Johannes Mejer, rekonstruiert um 1649). Vgl. bei Storm den Anfang der Novelle: „Einst waren große Eichenwälder vor unserer Küste …“

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Abb. 2: Zustand der Küste, der Insel- und Halligwelt westlich von Husum nach der ersten „Manndränke“ 1362 mit der großen Insel „Strand“ ( Reste davon: Pellworm und Nordstrand, dazwischen das untergegangene „Rungholt“). (Ausschnitt aus einer Karte von Johannes Mejer 1649)

Das Leben der Halligleute war in den vergangenen Jahrhunderten nicht nur gefährlich, sondern auch arbeits- und entbehrungsreich. Man lebte in ständiger Angst vor dem, was hierzulande „landunter“ genannt wird; bei hoher Flut ragen dann zuletzt nur noch die Warften aus dem Wasser; da galt es, das Vieh rechtzeitig von den Weiden auf die Warft zu treiben.

Im Allgemeinen ernährten sich die Halligbewohner von der Landwirtschaft, vom Fischfang und von der Jagd. Vornehm-lich lebte man von der Schafzucht oder nahm im Sommer Marschvieh vom Festland in Pension. Das Halligheu galt als salzhaltig und besonders wertvoll; es durfte vom Johannistag an (24. Juni) und musste vor den Herbststürmen gemäht werden; sorgfältig gebündelt (vgl. die Abb.) wurde es auf dem Dachboden der Hallighäuser gestapelt.

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Abb. 3: Modernes Hallighaus (Querschnitt) mit sturmflutsicherem Schutzraum (dunkelfarbig: Stahlbetonskelett)

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Abb. 4: Heuernte auf der Hallig (Foto: Heinrich Knittel um 1915)

Unentbehrlich für die Hausfrauen waren die Krabben (Plattdeutsch: Porren). Sie wurden in großen Mengen mit der „Glieb“ (Handnetz, vgl. Abb. 5 und 6) gefangen, dann gekocht, von der Schale befreit („gepult“), in einer Krabbensuppe und als Krabbenfrikadelle verzehrt oder „in sauer“ konserviert.

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Abb. 5: Halligbewohner beim Krabbenfischen mit der „Glieb“ (Zeichnung von Julius Fürst um 1896)

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Abb. 6: „Glieb“, Krabbennetz (Zeichnung von Julius Fürst um 1896)

Die Jagd auf Vögel (Enten, Regenpfeifer und Austernfischer) und auf Robben, die heute verboten ist, wurde als ein Erwerbszweig angesehen, der zur Existenzsicherung notwendig war. Ähnlich war es mit dem Eiersammeln. Das Halligvorland und die Halligkante waren bevorzugte Nistplätze für Möwen und Kiebitze, so dass sich das Einsammeln der Eier für die Halligbewohner lohnte. Ab 1870 wurden Schonzeiten eingeführt, und Storms Erzählung von den aufgeschreckten und ihre Nester verteidigenden Möwen (S. 59) erscheint vor diesem Hintergrund als Plädoyer für solche Maßnahmen.

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, als allmählich Leuchttürme und Baken auf den nordfriesischen Inseln und Halligen aufgestellt wurden, ist es dort häufig zu Schiffsstrandungen gekommen. Das Bergen von Strandgut wurde von den Halligbewohnern ursprünglich als ein zusätzlicher Erwerbszweig angesehen. Später wurden Strandvögte eingesetzt, die für die Bergung und den Verkauf des Strandguts zuständig waren (der Besitzer von Süderoog z. B. hatte zu Storms Zeit dieses Amt inne). Gelegentlich hat es auch öffentliche Versteigerungen von ganzen Schiffsladungen gegeben.

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Abb. 7: Kirchwarft auf Hallig Hooge (Foto: Heinrich Knittel um 1915)

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Abb. 8: Frühere Trinkwasserversorgung auf der Hallig durch „Fething“ (A) und „Sood“ (B)

Der Tourismus spielte bis ins vorige Jahrhundert hinein keine Rolle. Natürlich gab es Verbindungen vom Festland zu den Inseln. Theodor Storm hat ja selbst 1869 eine solche Fahrt von Husum nach Süderoog unternommen (s. weiter unten). Aber er beschreibt auch die „Meereseinsamkeit“, in der die Hallig liegt. Deshalb hatten – und haben z. T. heute noch – die größeren Halligen ihr eigenes Schulhaus und ihre eigene Kirche (vgl. die Abb.).

Elektrizität und Leitungswasser haben die Halligen erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts erhalten. Früher sammelte man das Trinkwasser im „Sood“ (Zisterne für die Menschen) und im „Fething“ (Teich für das Vieh) (vgl. die Abb.), saß abends bei der Öllampe und heizte mit „Ditten“ (in der Sonne getrockneter Stallmist, aus dem mit einem Holzspaten entsprechende Stücke herausgeschnitten wurden).

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Abb. 9: Das Hallighaus auf Süderoog um 1930

Heute sind einige Halligen, z. B. Norder- und Süderoog, auch Habel, als Naturschutzgebiete ausgewiesen (Schutzzone 1 im Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer). Das Schicksal einer kleinen Hallig wird beispielhaft anschaulich am Schicksal der Hallig Süderoog, die der Schauplatz der Stormschen Novelle „Eine Halligfahrt“ ist. Süderoog hatte 1874 einen Umfang von 100, heute nur noch von ca. 60 Hektar. Mehrere hundert Jahre haben hier Mitglieder der Familie Paulsen Landwirtschaft betrieben4. Die hohe Warft mit dem schönen Hallighaus (vgl. Abb. 9) hat allen Sturmfluten getrotzt. Storm hat den damaligen Besitzer Paul Andreas Paulsen (1814–1891) dort noch besucht. Aber da die Landwirtschaft sich auf der kleinen Hallig zuletzt nicht mehr lohnte, hat Hermann Neuton Paulsen (1898–1951)5, der Enkel des Obengenannten, die Landwirtschaft aufgegeben und unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs, dann auch nach dem Zweiten Weltkrieg, auf Süderoog „Nordsee-Ferienlager“ betrieben. Nach seinen Vorstellungen sollte hier die Jugend Europas zueinander finden, „alles Trennende beiseiteschieben“ und sich „zur Lösung gemeinsamer Probleme zusammenschließen“6. Nach dem Tode von Hermann Neuton Paulsen 1951 haben ehemalige Jugendleiter die Ferienlager bis etwa 1970 weitergeführt.

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Abb. 10: Hallig Oland (Zeichnung von Fritz Stoltenberg um 1896)

Auf Veranlassung von Frau Paulsen als Erbin der Hallig wurde zur Unterstützung der Arbeit 1960 die Stiftung Hallig Süderoog ins Leben gerufen, der u.a. der damalige Landrat Borzikowsky und der Lübecker Oberbürgermeister Wartemann angehörten.

Am 1. April 1971 verkaufte Frau Paulsen die Hallig an das Land Schleswig-Holstein.

Als Naturschutzgebiet ist sie heute nicht mehr Ziel von „Halligfahrten“.

Die Halligen Hooge, Langeness, Gröde und Oland (vgl. die Abb.) erfreuen sich bei den heutigen Besuchern steigender Beliebtheit, offenbar, weil hier eine faszinierende Landschaft und eine einmalige „kleine Welt“ erhalten ist.

Die Halligwelt als „poetische“ Landschaft

Dass die Halliglandschaft vor der Nordseeküste eine besondere, eine faszinierende ist, hat schon der römische Historiker Plinius der Ältere (23 vor bis 79 nach Christi) empfunden. Er beschreibt sie in seiner „Naturalis historia“ (Buch XVI,1 – Übersetzung aus dem Lateinischen, K. E. L.) als ein Gebiet, „von dem ungewiß ist, ob es zum Festland gehört oder ein Teil des Meeres ist“ und deren Bewohner „nach den Erfahrungen der höchsten Flut“ „hohe Hügel“ errichtet haben. Für das, was wir heute „landunter“ nennen, findet Plinius ein charakteristisches Bild: „wenn das Wasser die ganze Umgebung bedeckt, ähneln sie in ihren Häusern auf den Warften Schiffern“, „wenn die Flut zurückgegangen ist, Schiffbrüchigen“. Selbst das bis in unsere Zeit gebräuchliche Heizmaterial, die „Ditten“ (lat.: lutum, Kot), und ebenso die „Fethinge“ erwähnt Plinius („Zum Trinken haben sie nur Regenwasser, das in Gruben vor dem Haus aufbewahrt wird“).

In der Folgezeit, und zwar über Jahrhunderte hinweg, ist die besondere Situation auf den Halligen, also auf den Eilanden, die nicht durch Deiche geschützt sind (wie sie Plinius beschrieben hat) unbeachtet geblieben. Wenn Historiker wie z. B. Saxo Grammaticus in seiner „Historia Danica“ (Frankfurt 1565) oder Chronisten wie Johannes Petreus (1540–1603) und August von Baggesen (1795–1865) auf die Halligen an der Nordseeküste zu sprechen kommen, nennen sie höchstens die Namen der Halligen oder die betreffende Küstenregion, aber die besondere Situation und Eigenart der Halligen wird nicht erkannt und nicht beschrieben. Das erfolgt erst sehr viel später.