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Heinz Jürgen Schneider

Tod in der Ballnacht

Kriminalroman

Boyens Buchverlag
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Das angsterfüllte Gebrüll der Tiere war zuerst zu hören.

Später folgte dann das Sturmläuten der Kirchenglocke, um die Feuerwehrmänner zu rufen. Dann ebbte der Lärm nicht mehr ab. Das Prasseln der Flammen. Die Kommandos für das Löschen. Der Wasserstrahl, der auf die Glut trifft. Die Tritte auf dem vereisten Grund. Das Einstürzen des Stallgebäudes. Das Durcheinanderschreien vieler Stimmen. Das leise Wehklagen.

Erst als die Leiche in der abgebrannten Ruine gefunden wurde, breitete sich in der kalten und dunklen Märznacht Stille aus.

1

Bettruhe hat der Hausarzt Kommissar Mock verordnet. Mit Erkältung und leichter Temperatur sei in seinem Alter nicht zu spaßen. Doch der Leiter der Itzehoer Kriminalpolizei ist ein pflichttreuer Beamter, auch in den letzten Monaten vor der Pensionierung. Wochenendbereitschaft ist Wochenendbereitschaft. Gegen den leisen Protest seiner Ehefrau bestellt er, nach dem Anruf am frühen Sonntagmorgen, den Dienstwagen zu seiner Privatwohnung.

Jetzt sitzt er neben Wachtmeister Braun auf dem Beifahrersitz und schnäuzt in sein Taschentuch. Im Fonds des Wagens hat Kriminalassistent Wagner seinen Platz, ein neuer, junger, schneidiger, aber schweigsamer Mitarbeiter auf der Dienststelle. Nur zur Untersuchung eines Brandes wären sie nicht ausgerückt. Aber der kurze, fernmündlich durchgegebene Rapport des Landjägerpostens Schenefeld war eindeutig. Nach einem Brand wurde eine Leiche entdeckt. Und nach den geschilderten Umständen war das Opfer nicht den Flammentod gestorben.

Die Landstraße und die Wege im Dorf sind vereist. Der Winter hält das Land noch gefangen. Ein wenig Sonne gibt es aber auch, an diesem frühen Vormittag. Passend zum Festtag des erwachenden Deutschland, von dem seit Wochen die Rede ist, der Reichstagswahl am 5. März 1933.

Eine schwarz-weiß-rote Fahne flattert, gegenüber der Kirche, aus einem Haus. An der Litfaßsäule am Markt hängt ein Plakat, das auch in Itzehoe und überall zu sehen ist. Ganz in rot gehalten, mit einem weißen Hakenkreuz und der Beschriftung „Liste 1 – Hitler“.

Wachtmeister Braun hat sich von den Dorfpolizisten den Weg beschreiben lassen und steuert den Wagen vorsichtig an ihr Ziel. Die Ruine des niedergebrannten Stalls ist deutlich zu sehen. Einige Uniformierte und auch andere Personen stehen in der Einfahrt zu einem Bauerngehöft mit mehreren Gebäuden.

Mock steigt langsam aus und muss sich schon wieder schnäuzen. Es ist bitterkalt. Brandgeruch liegt in der Luft. Brennt jetzt oft in Deutschland, denkt der Kommissar, erst letzten Montag der Reichstag in Berlin. Die Kommunisten sollen ihn angesteckt haben.

Beide Landjäger salutieren und werden von den Kriminalisten mit Kopfnicken begrüßt. Dann führt man sie über den viereckigen Hofplatz zu der Brandstelle: ein Kuhstall, heruntergebrannt bis auf die Grundmauern. Die angrenzenden Hofgebäude sind kein Raub der Flammen geworden, Fensterscheiben waren aber zerbrochen und notdürftig durch Säcke ersetzt. Teile des Reetdaches weisen sichtbare Brandspuren auf.

Als die Männer das Hofgelände betreten, schlägt der Hund an und will sich erst gar nicht wieder beruhigen. Vorsichtig gehen die Polizisten im Gänsemarsch vorwärts. Aus dem Löschwasser hat sich eine dicke Eiskruste gebildet. „Wir haben einen kleinen Weg mit Herdasche gestreut“, sagt der ältere Landjäger. „Im Durcheinander letzte Nacht sind einige Leute schlimm gestürzt. Is bannich glatt.

So kommen sie zur Ruine. Leicht stinkt es noch nach verbranntem Fleisch, stärker nach Ruß. In der Verwüstung aus pechschwarz verfärbten Grundmauern, Asche, verkohlten Balken und einem Kuhkadaver sieht Mock ein vertrautes Gesicht. Das ist Obermedizinalrat Dr. Schmidt-Kamphaus. Der Amtsarzt war also auch alarmiert worden.

„Morgen, Doktor“, sagt der Kommissar. „Guten Tag, Herr Mock. Einen schöneren Sonntag hätten wir alle uns gewünscht. Bei ihrer geröteten Nase würde ich Bettruhe anraten. Haben Sie auch Temperatur?“ Ärzte, denkt Mock, erwidert aber nichts.

Dann wird Schmidt-Kamphaus dienstlich. „Wir haben hier eine männliche Leiche. Viele Stunden tot, genauer Zeitpunkt später. Natürlich mit starken Brandspuren am ganzen Körper. Verbrennung ist aber sehr wahrscheinlich nicht die Todesursache. Der Mann soll erstochen worden sein, was auch zu den Verletzungen in Brust und am Hals passt, soweit diese, unter diesen Bedingungen, begutachtet werden können. Damit erstochen, wurde mir berichtet.“ Jetzt weist der Amtsarzt neben sich.

Die drei Kriminalbeamten erblicken am Boden die vier Zinken einer Forke, mit scharfen Spitzen. Der Holzstil ist aber fast restlos verbrannt.

Assistent Wagner beginnt, Photos zu machen. Danach ist es seine Aufgabe, den Tatort abzusuchen und für die Ermittlung bedeutsame Gegenstände in Tüten zu packen. Sie sind Asservate und werden später ausgewertet.

„Damit erstochen?“ Mock blickt den Arzt an.

„Darf ich …?“, fragt der ältere Landjäger. Mock nickt ihm mit leicht gerunzelter Stirn zu.

„Als Mitglied der freiwilligen Feuerwehr war ich in der Nacht persönlich am Löschen beteiligt. Was heißt löschen. Wir konnten nur noch das Vieh retten. Bis auf die Kuh, die von einem herab fallenden Balken erschlagen wurde. Hauptsächlich schützten wir das Wohngebäude. Es gab viel Funkenflug, aber es gelang, grad so eben noch.“

„Der Leichnam war nicht aufgefallen?“, fragt Kriminalwachtmeister Braun.

„Erst nicht. Sie können sich das Durcheinander vielleicht vorstellen. Erst nach Stunden gab es eine Begehung des Brandortes, nach dem Löschen. Wie es vorgeschrieben ist. Da wurde Fritz entdeckt.“

„Fritz?“, fragen Mock und Braun gleichzeitig.

Nun nickt der Landjäger. „Ja, der Tote, das ist zweifelsfrei Fritz, also Friedrich Cornelsen. Der Sohn, hier vom Hof.“

Mock blickt vom Dorfpolizisten zum verkohlten Körper und wieder zurück.

„Na ja, der Fritz ist nicht da. Aber ein altes Koppelschloss, von seinem Bruder, das er immer am Gürtel trug, aus dem Weltkrieg, das ist nicht verbrannt. Von der Statur her kann das auch stimmen. Auch wenn man sein Gesicht ja nur noch sehr schwer …“.

„Das Zahnbild wird letzte Gewissheit geben“, fügt der Amtsarzt hinzu.

„Und was ist mit der Forke?“ Braun hat die Frage gestellt.

„Ich habe es selbst gesehen.“ Der Landjäger seufzt einmal tief. „Ich war ja auch noch vor Ort. Die Zinken steckten im Hals, also in der Kehle, kann man wohl sagen. Es war ein großer Schock. Denken sie nur an die Familie. Ich konnte nicht verhindern …“, nun fuchtelt der Landjäger mit den Händen, „… dass die Forke rausgezogen wurde, ich glaube vom eigenen Vater. Aber sie ist ja noch da, und die Leiche selbst wurde nicht bewegt. Dafür habe ich gesorgt. Wir haben uns mit der Bewachung abgewechselt, und dann verfasste ich noch in der Nacht meinen Rapport und telefonierte ihn durch.“ Der jüngere Polizist nickt dazu.

„Gut gemacht“, sagt Mock. „War ja auch eine ganz schöne Schweinerei das Ganze und mitten in der Nacht. Noch gar nicht im Bett gewesen, was?“ Die Landjäger nicken.

Der Amtsarzt verabschiedet sich. Es könnte diesmal mit der Leichenschau aber etwas dauern. Der Abtransport ist organisiert.

„Ein Fritz Cornelsen also, erstochen mit einer Mistforke und anschließend verbrannt. Habt ihr noch was?“ Die Frage gilt Mocks Mitarbeitern.

„Erkenntnisse zur Brandursache?“, fragt Braun daraufhin.

„Die Brandermittler sind angefordert, jetzt, wo es einen Toten gegeben hat. Eine Petroleumlaterne aus Blech wurde neben dem Toten gefunden, die ist vom Hof. Brennen tut es natürlich sofort, viel Heu und Stroh und das Dach aus Holz.“ Der ältere Landjäger zuckt die Schultern.

„Ich würde jetzt gerne mit der Familie sprechen“, sagt der Kommissar.

Der Landjäger setzt ein kleines, beflissenes Lächeln auf. „Das ist selbstverständlich möglich. Es gibt auch einen Zeugen.“

Einen Zeugen, wofür, denkt Mock. „Einen Zeugen, wofür?“, fragt Braun.

„Die Herren werden sich selbst ein Bild machen können.“ Der Landjäger geht auf dem aschebestreuten Pfad über das Glatteis voran Richtung Bauernhaus. Die Kriminalbeamten folgen. Der jüngere Dorfpolizist bewacht weiter die Leiche. Wagner ermittelt am Tatort.

Immer noch stehen einige Menschen in der Hofauffahrt. Den einen kennt der Kommissar, auch wenn er einen unförmigen Ledermantel und einen bräunlichen Schal trägt. Das ist doch der Redakteur Nolte von der Zeitung, hat sicherlich wieder einen Tipp bekommen. Immer gerne da, wo was los ist. Dann betreten sie das Bauernhaus.

Arno Nolte hat Mock natürlich auch erkannt. Er ist seit Jahren Redakteur der Itzehoer Nachrichten und mit dem Kommissar ganz gut vertraut. Zuständig für Lokales, aber auch für Berichte aus der Umgebung der Stadt. Er hat eine echte Reporternase und seine Quellen.

Heute früh gab es den Anruf eines Polizeibeamten, den er kennt und gelegentlich mit einem Bier oder ein bisschen Geld versorgt, weil eine Hand die andere wäscht. Der Polizist hatte ihm gesteckt, dass es einen Brand in Schenefeld gab, mit einem Leichenfund. Das hätte Nolte noch nicht zu einer Motorradfahrt über eisglatte Straßen veranlasst. Aber die Quelle wusste noch mehr. Wachtmeister Braun und der Kommissar persönlich würden dort hinfahren. Das gab den Ausschlag.

Nolte überlegte sich drei Dinge. Für eine einfache Brandleiche fährt der Chef der Kriminalpolizei nicht aufs Dorf. Er selbst könnte mal wieder eine gute Geschichte gebrauchen, die ihn, in dieser Zeit des allgemeinen Umbruchs, beim Schriftleiter der Zeitung gut da stehen lässt. Auch war in der Redaktion Sonntag früh nicht viel zu tun. Da ist er abkömmlich.

Von den beiden Dorfbewohnern an der Hofeinfahrt erfuhr er schon einiges zum Brand und dessen verzweifelter Bekämpfung. Der ganze Ort nahm natürlich Anteil. Auch den Namen des Toten kannte er nun schon. Aber warum war Mock hier, ein Verbrechen oder ein tragischer Unglücksfall? Der Obermedizinalrat kommt an ihm vorbei und geht zu seinem vornehmen Automobil. Zu dem hat Nolte nicht so einen Draht. Aber einen Einfall hat er immer und setzt ihn gleich um.

Mit seinem Photoapparat geht er über den Hof und auf die Brandstelle zu. Den jungen Dorfpolizisten hat er natürlich gesehen. Der will nur richtig angesprochen werden. „Guten Tag, Herr Wachtmeister, Nolte mein Name, von den Itzehoer Nachrichten. Gestatten Sie, dass ich einige Photos der Brandstelle mache, für meine Leserschaft?“

Das wirkt. Der junge Uniformierte fühlt sich respektiert. Die Bilder sind schnell gemacht und auf einem könnte, als schwarzes Etwas, auch die Leiche zu sehen sein. Halb überdeckt von einem Tuch. Doch ausreichend ist das noch nicht. Nolte will mehr.

„Würden Sie, als Vertreter der Obrigkeit sozusagen, noch eine Stellungnahme abgeben, für die Presse?“ Doch diese Schmeichelei kommt nicht recht an. Der Landjäger murmelt etwas, bei dem Nolte nur das Wort „Kommissar“ versteht. Da kann ein gewiefter Redakteur doch drauf aufbauen.

„Na, bei Mordsachen sollte man wirklich den Leiter befragen“, fügt er dann generös und gezielt hinzu. Und registriert, dass ihm zustimmend zugenickt wird. Eine Mordsache also. Da hat er mal wieder jemanden überrumpelt.

Nolte verabschiedet sich freundlich und strebt dem Gasthof am Markt zu. Die Gottesdienstbesucher sind schon aus der Kirche gekommen. Nun werden einige aus dem Dorf einen Frühschoppen nehmen. Sein Publikum, um der Sache weiter auf den Grund zu gehen. Oder geht man erst zum Wählen und dann zum Bier. Das Wahllokal befindet sich ja auch in der Gastwirtschaft.

Er selbst machte sein Kreuz schon früh am Tag, bei sich zu Hause am Langen Peter in Itzehoe. Liste 5. Kampffront Schwarz-Weiß-Rot. Ein Parteienbündnis unter Einschluss der Deutschnationalen. Das ist seine Partei. Die saßen schon seit Januar mit im Kabinett, als Hitler Reichskanzler geworden war. Neuer Schwung für Deutschland. Ganz in seinem Sinne. Aber nur Hitler allein in der Reichsregierung, das wäre für Arno Nolte doch etwas zu viel des Guten.

Viel los ist in der Gaststube noch nicht. Nolte will erst mal eine Tasse Kaffee und in aller Ruhe, vom Tresenplatz aus, die Lage peilen. Er muss warten können. Auch wenn Redaktionsschluss am Sonntag schon um 4 Uhr 30 nachmittags ist. Das wird er grade so schaffen. Viele Pfennige ergeben eine Mark. Das ist auch heute seine Devise.

Die Stellungnahme der Kriminalpolizei kann er später am Telefon abfragen. Mock würde ihm schon Auskunft geben. Wie immer.

Obwohl der in der guten Stube der Cornelsens trauernden Eltern gegenüber sitzt, die Mutter kränklich und in Decken gehüllt, ist Kommissar Mock innerlich guter Stimmung.

Sein kriminalistisches Jagdfieber packt ihn. Es gab einiges zu erfahren. Die Zeugin war mehr als ordentlich. Die hatte wirklich was zu sagen. Mit der muss sofort, noch hier auf dem Revier der Landjäger, eine schriftliche Aussage gemacht werden. Wenn das durch die Ermittlungen der nächsten Tage bestätigt wird, sind sie rasch am Ziel.

Er muss erneut schniefen und hätte gern etwas Warmes getrunken. Aber es wird nichts angeboten. Nicht mal von der Schwester des Toten. Die macht nun wirklich keinen trauernden Eindruck und ihr Ehemann schon gar nicht. Nur den Eltern stehen die Tränen in den Augen. Stattdessen sitzen sie alle um den großen Tisch, und er hört viel von einem Bauernkrieg, der seit Generationen zwischen zwei Familien im Dorf toben soll. Jetzt mit einem blutigen Opfer.

Endlich kann man sich verabschieden.

Die Zeugin will nicht im Auto fahren, das ist ihr zu neumodisch. Deshalb schickt Mock sie zu Fuß, mit den Landjägern, zur Dienststelle, durch Eis und Kälte. Die drei Kriminalbeamten nehmen ihren Wagen.

Das kann mal fix gehen, denkt Mock zufrieden beim Einsteigen. Ganz fix.

2

Aus den Itzehoer Nachrichten vom 6. März 33

Schenefeld: Feuertoter Opfer eines Verbrechens?

In der Nacht auf den gestrigen Sonntag kam es zu einem großen Brand in der Gemeinde Schenefeld. Der Kuhstall des Bauern Cornelsen wurde ein Raub der Flammen und brannte vollständig nieder. Das Vieh konnte gerettet werden, aber der Sachschaden ist beträchtlich.

Nach den Löscharbeiten machten die Feuerwehrmänner einen grausigen Fund. Sie entdeckten eine Männerleiche. Wie unsere Zeitung erfuhr, soll es sich bei dem Toten um den Jungbauern Friedrich Cornelsen junior handeln. Wie er genau zu Tode kam, ist noch ungeklärt. Die kriminalpolizeilichen Ermittlungen haben begonnen. Verschiedene Umstände deuten darauf hin, dass er nicht einem tragischen Unglücksfall zum Opfer fiel, sondern einem Verbrechen. Näheres ist noch nicht bekannt. Am Ort des Geschehens waren der Leiter der zuständigen Kriminalpolizei, Kommissar Mock, und Obermedizinalrat Dr. Schmidt-Kamphaus, der für die Leichenuntersuchung zuständige Amtsarzt. Eine offizielle Stellungnahme der Polizei konnte gestern bei Redaktionsschluss noch nicht eingeholt werden.

Der Brandausbruch, kurz vor Mitternacht, traf die Schenefelder Wehr zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. In Boyens` Gasthof fand der traditionelle Feuerwehrball statt. Schon seit Stunden hatten sich die Männer der freiwilligen Feuerwehr, ihre Familienangehörigen und andere Dorfbewohner unbeschwert vergnügt. Eine Kapelle spielte zum Tanz. Gastwirt und Ehrenwehrführer Hans Boyens sorgte für das leibliche Wohl seiner Gäste mit Speisen und Getränken, denen lebhaft zugesprochen wurde. Gerade als die Tombola, mit Preisen ortsansässiger Geschäfte, eröffnet werden sollte, kam die Nachricht vom Brand. Kurze Zeit später gab auch die Kirchenglocke Alarm.

Mit äußerster Disziplin rückten die Männer aus. Die starken Frosttemperaturen gestalteten die Löscharbeiten schwierig. Es verging einige Zeit, bis das Kommando „Wasser marsch“ gegeben werden konnte. Neben der Rettung des Viehbestandes gelang es in einem mehrstündigen Einsatz aber, das Feuer von dem benachbarten Wohngebäude des Hofes und einer Scheune abzuwehren.

3

„Herzlich willkommen“, sagt Pastor Lorenzen, „von aller seelsorgerischer Arbeit im Dienste des Herren sind mir die Trauungsgespräche mit den Verlobten doch mit die liebsten Pflichten.“

An der Tür des Pastorats nimmt er einen Mann und eine Frau in Empfang und bittet sie, an der Flurgarderobe Mäntel, Schals und Kopfbedeckungen abzulegen. Dann geht es in das Arbeitszimmer des Geistlichen, hinter dessen Schreibtisch ein großes Kreuz prangt. Kleiner ist ein Bild von Martin Luther neben einem prall gefüllten Bücherschrank. Man setzt sich an den großen, eichenen Tisch mit sechs Stühlen drum herum.

Die Frau trägt ein blaues Kleid und eine silberne Kette. Sie hat kurze blonde Haare, von der Kälte gerötete Wangen und lächelt erwartungsfroh. Der Mann lächelt nicht. Er trägt einen einfachen grauen Anzug, hat schwarze Haare mit geradem Seitenscheitel, eine Brille und einen Schnurbart mit ersten grauen Haaren. Das Paar will vom Pastor getraut werden, und der Weg dazu führt über das heutige Gespräch. Pünktlich um drei Uhr haben sie geklingelt.

„Nehmt euch, meine Lieben“, bietet der Pastor Gebäck an und schenkt aus einer großen Kanne Kaffee aus. Die stellt er dann wieder auf ein Stövchen.

„Was für ein großes Glück ist es immer, vor Gott und seiner Gemeinde den Bund der Ehe einzugehen. Einen Bund für das ganze Leben, für die guten, aber auch die schweren Tage.“ Sanft berühren seine Finger den Ring an der rechten Hand. „34 Jahre hält mein Glück auf Erden nun schon“, sagt er versonnen lächelnd. „Eures soll bald beginnen.“

Dann hält Lorenzen einen kleinen Vortrag über die Ehe im Evangelium und dass gegenseitige Zuneigung und Treue ihre Grundfesten sind. Wie sie Geleit und Rahmen des weiteren Lebens der Ehegatten wird, eine Quelle von Ermutigung, Schutz, Trost und Freude. Dass das Eheversprechen heilig und die Formel „bis der Tod euch scheidet“ wörtlich zu verstehen ist.

„Eure vorbeigebrachten Kirchendokumente habe ich schon gelesen. Nun will ich die Verlobten aber besser kennenlernen. Dazu war bisher noch wenig Gelegenheit.“

Beim letzten Satz nimmt er die Beiden etwas fester in Augenschein. Diese sehen sich betreten an. Am kirchlichen Leben, oder auch nur dem Sonntagsgottesdienst, hatten Agnes Nissen und Johannes Blum tatsächlich nur sehr spärlich teilgenommen. Genaugenommen, musste Blum im Stillen einräumen, seit der Taufe der Tochter seines besten Freundes, letzten September, eigentlich gar nicht.

Lorenzen hat einige Schriftstücke zur Hand genommen und liest langsam daraus vor.

„Eine Agnes, von der rauen Insel Sylt. Geboren 1905, konfirmiert 1920, in schwerer Zeit, in der Dorfkirche zu Morsum. Ein Johannes, mit biblischem Vornamen, geboren 1897, konfirmiert 1913, hier in dieser Kirche, von meinem Vorgänger, den der Herr nun auch schon lange zu sich gerufen hat.“

Dann blickt er wieder auf und bittet, mehr von sich zu erzählen. Darauf lehnt er sich zurück und schiebt ein Gebäckstück in den Mund.

Agnes berichtet von ihrer Fischerfamilie und ihrer Liebe zur Kunst, zum Zeichnen und Malen, als Kind schon, gefördert in der Schule und dann von ihrem Studium an der Kieler Kunstakademie. Seit fast drei Jahren unterrichtet sie Kinder an der Höheren Töchterschule in der Stadt, malt weiter Bilder und gibt Malkurse für Laien. Dann erzählt sie auch gleich noch die Geschichte, wie sie ihren Verlobten kennenlernte. Er überließ ihr die leerstehende, alte Tischlerwerkstatt seines verstorbenen Vaters als Malatelier, und so kamen sie sich mit der Zeit näher.

Sie strahlt beide Männer an und beantwortet einige Fragen des Pastors nach ihren Bildermotiven und zum Itzehoer Kunstverein. Dort arbeitet sie mit, und Lorenzen war gelegentlich auf Ausstellungen im Prinzesshof.

Dann ist Johannes Blum dran. Er erzählt von seiner Kindheit an der Stör, der Kaiser-Karl-Schule, seinem Gymnasium, dem Studium in der großen Stadt Berlin, dem recht frühen Tod der Eltern und seiner heutigen Arbeit als Rechtsanwalt, nachdem er vor Jahren zurück gekommen war. Vom Weltkrieg, zu dem er sich 1916, von der Schulbank weg, freiwillig gemeldet hatte, erzählt er nicht. In den Schützengräben und nach der schweren Verwundung, im Lazarett, war Gott fern gewesen.

„Der Jurist, der nicht mehr ist als ein Jurist, ist ein arm Ding, hat Luther ja gesagt“, meint der alte Pastor mit einem Schmunzeln. Und der Advokat gibt ihm gerne recht. Es geht nie nur um Paragraphen, immer um den Menschen. Und die Welt ist viel größer als ein Gesetzbuch. Da sind sie sich einig. Von dem einmal gelesenen Satz, der Mensch habe zwei Überzeugungen. Eine wenn es ihm gut geht, und eine wenn es ihm schlecht geht, die letztere heißt Religion, schweigt Blum aber.

Der Pastor bietet noch Kaffee an, mit dem Hinweis, dass es natürlich kein Pharisäer ist, wie seine Gäste schon gemerkt haben. Blum kennt die Geschichte dazu nicht und bekommt sie erzählt.

Wie im letzten Jahrhundert ein besonders frommer Pastor auf die Insel Nordstrand versetzt wurde und seinen Schäflein den Genuss von Alkohol als gottlos verbietet. Ein schwerer Schlag für die trinkfesten Insulaner. Auch auf einer Taufe wurde im Beisein des Geistlichen deshalb nur Kaffee getrunken. Von den Inselbewohnern aber mit einem ordentlichen Schuss Rum versetzt, dessen Aroma von einem Sahnehäuptchen verdeckt wurde. Als ihr Hirte den Schummel bemerkte, soll er ausgerufen haben: Ihr seid mir schöne Pharisäer! Und mit dem Hinweis auf die biblischen Scheinheiligen erhielt das Getränk seinen Namen, und es wird im ganzen Norden bis heute gern getrunken.

Nach der Geschichte wird über die Hochzeitsvorbereitungen des Paares geplaudert und der gewünschte Tag festgelegt. Dann holt Lorenzen vom Schreibtisch seinen Kalender. „Wer den Sonnabend um 11 Uhr als Trautermin möchte, muss sich noch etwas gedulden. Ein beliebter Tag. Aber hier ist Platz für euch. Sonnabend, der 29. April, dann ist die Hochzeit.“ Er schreibt den Termin in das Buch.

Agnes und Johannes sehen sich glücklich an. Dann gibt es noch den Hinweis, dass viele kleine Fragen, zur Sitzordnung, zum Blumenschmuck und zum Organisten, direkt mit dem Küster besprochen werden können. Der Kirchendiener ist erfahren in diesen Dingen.

Nun fragt der Pastor nach dem Trauspruch, ob es einen besonderen Wunsch gibt. Etwas aus der Heiligen Schrift, worauf er seine Predigt aufbauen soll.

Doch diese Verlobten haben noch keinen Bibeltext ausgewählt und blicken sich etwas ratlos an. Lorenzen ist das wohl gewohnt und er schiebt ihnen ein Blatt Paper zu.

Agnes liest: Ihr, die ihr mich liebhabt, seht nicht auf das Leben, das ich beende, sondern auf das Leben, das ich beginne. Und darunter steht: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt. Noch mehr Sprüche folgen.

Ihre Stirn ist jetzt sehr gefurcht und ihr Blick fragend. Dann schiebt sie das Blatt wieder zurück. Lorenzen blickt darauf.

„Vergebt mir. Das ist natürlich das Blatt mit Vorschlägen für die Beerdigungen.“ Der Pastor ist ein ganz bisschen verlegen.

Dann bekommen sie ein neues Blatt mit Vorschlägen, und die passen. Gott ist die Liebe klingt sehr schön. Aber am Ende ist es dann der Spruch aus dem 1. Buch Johannes, Kapitel 3, Vers 18. Lasset uns nicht lieben mit Worten noch mit der Zunge, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit.

„Wir sehen uns dann spätestens wieder Ende April und gerne auch vorher an den Sonntagen, die alle Paare auf den großen Tag vorbereiten werden“, sagt Lorenzen. „Außerdem heiratet ihr ja so, wie es unseren überlieferten Gebräuchen entspricht. Nicht im Geist der neuen Zeit.“

Als Johannes und Agnes fragend gucken, erzählt er von dem vorgestern geäußerten Wunsch eines Bräutigams, in SA-Uniform vor den Altar zu treten, und danach, vor der Kirche durch ein Spalier seiner Kameraden hinaus zu gehen. Auch das war ihm aber gewährt worden.

Im Flur gibt es einen festen und herzlichen Händedruck und zum Abschied, für die Zukunft, augenzwinkernd, einen Hinweis auf das ungeschriebene 11. Gebot. Seid fruchtbar und mehret euch.

Beißende Kälte empfängt das Paar vor der Tür. Agnes hat schon nachgerechnet, dass es noch 51 Tage bis zur Hochzeit sind. Blum kann seine Handschuhe erst anziehen, nachdem er eine Sanoussi, aus der Zigarettendose mit dem Kamel und dem Orientalen drauf, angezündet hat.

Hand in Hand gehen sie und haben, für kurze Zeit, noch einen gemeinsamen Weg. Agnes muss in die Straße Hinterm Sandberg gehen. Zu ihrem Haus, das Blum von seinen Eltern geerbt hat. Dort, wo sie leben werden. Sie haben schon viel getan, um es wohnlicher und schöner zu machen. Blum muss noch zu Klientengesprächen in sein Büro, schräg gegenüber von Gericht und Gefängnis.

Nun kann die Hochzeit wirklich vorbereitet werden. Der Ort der Feier, die Musik, das Essen, die Gästeliste, das Kleid, die Kinder zum Blumenstreuen, so vieles ist zu bedenken.

Blum wird einen Termin beim Standesamt organisieren. Seinen Trauzeugen sieht er morgen Mittag. Der könnte ihn auch in Kleidungsfragen beraten. Auch müssen sie noch zu Möbel Rusch. Der Gang war bisher aufgeschoben worden.

Mit einem langen Kuss verabschiedet das Paar sich am Sedan-Platz.

Blum hat noch einen kurzen weiteren Weg. In der Paaschburg sind zwei Automobile auf der eisigen Fahrbahn ineinander gefahren. Die Fahrer streiten lautstark. Einige Passanten bleiben kurz stehen.

Mit dem Handschuh reibt er über den Bart, in den die Nase läuft. Die äußere Kälte spürt er nicht. Innerlich ist ihm warm.

Was ist das für ein Glück in dieser Zeit, die sich selbst so verfinstert.

4

Der nächste Tag beginnt für Rechtsanwalt Blum im kleinen Sitzungssaal des Itzehoer Amtsgerichts.

Bei Amtsgerichtsrat Michaelis wird eine Gaststättenschlägerei verhandelt. Auf gemeinschaftliche Körperverletzung lautet die Anklage. Auf der Anklagebank sitzen zwei Männer mittleren Alters, von denen Blum den einen und ein Anwalt aus Glückstadt den anderen verteidigt.

Die Männer, beide Viehhändler, die am fraglichen Tag in der Schweinemarkthalle schon früh ihre Geschäfte abgewickelt hatten, weisen alle Schuld von sich. Unflätig beschimpft worden seien sie von einem Stänkerer, der habe sie mit Bier übergossen und zuerst geschlagen. An den Anlass des Disputs erinnern sie sich nicht mehr. Einige Köm und Bier, auf einen guten Geschäftsabschluss, hatten sie schon getrunken, als es in der Mittagszeit passierte.

Dann kommen die Zeugen. Das Opfer ist ein stämmiger Mann, mit der roten Nase des Alkoholfreundes. Mit breiten Hosenträgern über einem Arbeitshemd steht er vor dem Richtertisch, Abdecker in der Schweinemarkthalle gibt er als Beruf an, lange ist er schon arbeitslos. Friedlich habe er an seinem Stammplatz am Tresen der Marktstube gestanden. An das Schimpfwort Dösbaddel kann er sich erinnern und an einen Schlag ins Gesicht, der ihn zu Boden streckte. Den Anlass, und wer genau geschlagen hat, das ist ihm nicht mehr so klar am heutigen Tag.

Auch ein Polizeibeamter bringt keine Klarheit. Er kam ja erst später, da standen alle Beteiligten wieder. Er nahm nur Personalien und eine Anzeige auf. Zwei Gäste der Marktstube erinnern auch nur, dass heftig wechselseitig gepöbelt wurde, als der Niedergeschlagene schon wieder stand. Sie saßen etwas abseits.

Blum denkt, den besten und nüchternsten Blick dürfte der Gastwirt gehabt haben. Doch der steht nicht auf der Zeugenliste. Er bittet deshalb ums Wort und macht erst Ausführungen, dass doch wohl Aussage gegen Aussage steht und keine Verurteilung erfolgen kann. Als Michaelis aber seinen Richterkopf bedächtig hin und her bewegt, fordert er die Vorladung des Gastwirtes. Und so geschieht es. Die Sitzung wird vertagt. Man verabschiedet sich, und es ist nun schon Mittagszeit.

Durch die Stadt, die der Frost auch heute wieder im eisigen Griff hat, geht der Anwalt zum Mittagstisch in das Gasthaus Laage am Sandberg.

Wie immer erwarten ihn eine freundliche Begrüßung durch Fräulein Gerda, die Serviererin, das Tagesgericht und am hinteren Fenstertisch sein Freund Brixen.

Johannes Blum und Peter von Brixen sind enge Freunde, seit sie, von der Sexta an, alle Klassen der Kaiser-Karl-Schule gemeinsam besucht haben. Seit vielen Jahren arbeiten beide als Rechtsanwälte in ihrer Geburtsstadt und sind nun auch schon Mitte dreißig.

Die Unterschiedlichkeit ist die Basis ihrer jahrzehntelangen Freundschaft. Brixen stammt aus verarmtem Adel, hat aber reich in eine Zuckerfabrikantenfamilie eingeheiratet. Mit seiner Frau Margaretha hat er zwei Söhne und eine Tochter. Blum ist ein Handwerkersohn ohne großes Vermögen. Brixen liebte auf der Schule Latein und Blum Geschichte. Blum zog als Freiwilliger in den Krieg des Kaisers und kam verwundet und desillusioniert zurück. Brixen war wegen seines Gelenkleidens für den Weltkrieg untauglich und blieb zu Hause. Der eine ist seit der Schulzeit „Blumi“ und der andere wegen seines Hinkens „Ente“.

Unterschiedlich ist auch ihre berufliche Tätigkeit. Blum arbeitet als Strafverteidiger, wie heute Vormittag. Er vertritt Klienten, die wegen kleinerer oder größerer Straftaten vor Gericht stehen. Brixen hat durch seine Frau Zugang zu den höheren Kreisen, arbeitet für Firmen und ist ein gesuchter Anwalt in Ehescheidungsprozessen.

Zu ihren Gemeinsamkeiten gehört aber der Mittagstisch bei Laage.

Beim Blick auf die Tageskarte kommen Blum plötzlich Matjes in den Sinn, sein Lieblingsfischgericht. Doch darauf muss noch bis Ende Mai gewartet werden. Deshalb nimmt auch er das heutige Menü. Rouladen mit Wurzelgemüse und Salzkartoffeln.

„Wie war es?“, fragt Brixen gleich nach der Bestellung.

„Du meinst meinen heutigen Prozess?“

„Ich meine natürlich die letzte Etappe, auf dem Weg in den Hafen der Ehe.“

Um seinen Freund noch ein allerletztes Mal auf die Folter zu spannen, entzündet Blum erst mal eine Sanoussi und bläst den Rauch aus. Brixen hatte ihn seit Jahren zur Heirat gedrängt, mit Empfehlungen versorgt und sich einmal auch, gemeinsam mit seiner Frau, als Kuppler versucht, wenn auch erfolglos. Als Trauzeuge steht er schon lange fest.

„Ich möchte Dich und Margaretha bitten, euch am 29. April nichts vorzunehmen. Dann läuten die Glocken. Vorher muss Du mit aufs Standesamt.“

„Es ist vollbracht.“ Brixen faltet theatralisch die Hände, als gerade das Essen serviert wird.

„Zweifeltest Du noch?“