cover

Uwe Pörksen

Riß

durchs

Festland

 

Dieses Buch ist der in Jylland geborenen Birte Tscherning Pörksen und Sönke Peter Pörksen, seinerzeit Propst in Südtondern, gewidmet.
 
Ich danke Otto Langlo, Frank Lubowitz und Per Øhrgaard

Logo Boyens Buchverlag

 

Foto

 

Vorspiel

Es gibt nur das eine Foto

31. August 1930. 15 Uhr. Ein grauer Himmel über Eckernförde, leichter West Nord West. Vor dem Haus der Kieler Straße 73 hat ein Fotograf seine Voigtländer postiert, haben sich ein paar Gäste und Neugierige versammelt, steht an der Seite Schwester Emma Schlotter mit dreißig sonntäglich gekleideten Vorschülern.

Gold, Silber, Grün. Lornsens großer Familientag.

Gold zuerst. In der Reihenfolge, wie Menschenkinder über den Erdball wandern, kommen die drei Paare die Eingangstreppe herab. Bleiben stehen. Die beiden Alten auf der unteren Stufe halten nahe dem Rand. Der Wind drückt der Goldenen Braut den Schleier, als sie aus dem Schutz des Eingangs herausgetreten ist, an die rechte Wange und Schulter, ein goldener Myrtenblätterkranz auf ihrem Haar hält ihn fest, während er sich zur Seite des Bräutigams hinüber luftig bauscht. Aber Prahl! Hans Schlaikier Prahl ist eine Wucht, eine raumfüllende Erscheinung. Die Hände hat er auf dem Rücken wie stets, der Bauch wölbt sich vor dem geöffneten schwarzen Gehrock, als wolle er heute der Uhrkette besondere Gelegenheit geben, sich zur Geltung zu bringen. Am Revers trägt er sein goldenes Myrtengesteck, darunter zwei Ordenskreuze am Band. Ist der Danebrog dabei? Das große musikalische Ohr. In den zwei aus Tränensäcken und Brauen gebildeten dunklen Kreisen die halbgeöffneten Augen. Was hat er? Ist Herr Bartsch schuld, der unter einem Tuch verborgen den Blick auf seine graue Glasscheibe richtet, die herabgestiegenen Paare mit ausladenden Armen und launigen Worten dirigiert und postiert? Jetzt bittet er Prahls Frau, eine Stufe höher zu steigen: „damit Sie Ihrem Herrn Gemahl bis an die Schulter reichen. Und Frau Propst Lornsen bitte auch eine Stufe höher.“ Prahl sieht nicht zu dieser bemühten Person und den vergnügten Zuschauern herüber, sondern vor sich hin auf die Pflasterstraße in Richtung St. Nicolai, vielleicht auch ein wenig weiter.

An seiner Seite die Frau, von der nie gesprochen wird. Gönke Helene Prahl, geborene Hokkerup-Lorenzen. Klein, zusammengefaßt und fest steht sie da, eine feine ländliche Madonna, sieht in sich hinein und zurück. Sie hat den weißen Schleier über den rechten Arm gelegt und hält ihn mit ihrem Strauß fest, wartet, drängt nirgendhin. Ein Bild der Innigkeit. Ganz in Schwarz, wie immer seit 1916 und 1917, aber in einem schneeweiß gestärkten Kragen und Brustlatz. Die Haut dieser Gebärerin und Erzieherin von neun Kindern hat keine Runzel, ist glatt und schier. Und sie steht so gerade, daß die Kante des in rechteckigen Quadern aufsteigenden Eingangsportals sich unter ihrer hellen Stirn exakt in der Linie ihres Nasenrückens fortsetzt.

Unter Prahls Schuhspitze, die etwas von dem grauen Himmel spiegelt, liegt eine Blüte, die aus der Girlandenmitte über der Tür heruntergefallen ist. Kein sehr gemütliches Wetter, es stimmt nicht ganz zum Folgenden. Emma Schlotter tritt vor die feuchten Münder ihrer Vorschüler und gibt mit eckigen Ellenbogen den Einsatz. Die Diakonisse, kleine Haube, hat das Lied seit dem Frühjahr mit allen fünfzehn Strophen eingeübt, bis es zum Ohrwurm wurde, und jetzt singen die Kleinen es mit viel Schißlaweng: ,Geh aus, mein Herz, und suche Freud in dieser lieben Sommerzeit an deines Gottes Gaben.‘

Der Mann unter der Voigtländer taucht auf und bittet die Dirigentin, indem er die Hand auf den Mund legt und zwischen Daumen und Zeigefinger einen kleinen Zwischenraum läßt, um kurze Unterbrechung. Schwester Emma läßt weitersingen bis ,Narzissen und die Tulipan, die ziehen sich viel schöner an als Salomonis Seide‘, macht eine Bewegung, als ziehe sie ein Gummiband auseinander, das sie dann zusammenschnellen läßt. Es ist still, nur ein flachsblondes Stimmchen fährt fort. ,Die Lerche schwingt sich in die Luft das Täublein fliegt aus seiner Kluft und macht sich in die Wälder, die hochbegabte Nachtigall –‘‚ hier bricht es kleinlaut ab. Alles lacht, die Kleine mit.

Das Silberpaar muß auseinanderrücken, die Pröpstin Lornsen nach links, näher an die Säule, um ihre 21jährige grüne Tochter nicht zu verdecken, und Lornsen nach rechts, um den Blick auf den schmalen Grünen Bräutigam besser freizugeben. Lornsen ist etwas aus der Gold-Silber-Grünen Linie gerückt. An seiner Seite, aus dem Hintergrund, ist ein kleines Mädchen aufgetaucht, es trägt unter der großen Schmetterlingsschleife einen Blumenkranz im Haar und legt die Finger an den Mund. Prahl läßt sich nicht nochmal verrücken, er hört nicht mehr zu. Die Dominanz seines Hauptes ist nicht zu vermeiden. Der Fotograf taucht auf, nickt Emma Schlotter zu, Daumen und Zeigefinger geschlossen.

,Die unverdroßne Bienenschar fliegt hin und her sucht hier und da ihr edle Honigspeise‘ – noch ist keines der Vorschülerkehlchen auf der Strecke geblieben. ,Der Weizen wächset mit Gewalt,‘ – nicht mehr vom Vater verdeckt steht Hedwig Lornsen in der Mitte. Kein weißes Haar. Tatkräftig. Auf der Höhe des Lebens. Die Pröpstin lächelt ihr nach innen gekehrtes, nach außen gewandtes Lächeln, freundlich und skeptisch. Der Große Tag hat bis zu diesem Moment auf ihr gelegen. Um ihren Kopf tanzt der Schleier, den sie vor 25 Jahren mit weißen Blüten bestickt hat. Ihr volles Haar umrahmt die regelmäßigen Züge. Das Kleid hat sie von allen am wenigsten gekostet; sie hat es in wenigen Stunden zurecht geschnitten und gerattert, nach Gefühl und Wellenschlag. Weiß in Weiß. Mutter Hede kann tragen, was sie will. Es läßt ihr, wie die Eckernförder sagen. Und sie hat auch in 25jähriger Ehe das weiße Kleid nicht ausgezogen.

Rechts neben ihr der Ehemann, vor 28 Jahren in Hadersleben aufgetaucht als unsicher schwankendes Rohr, windschiefer Kandidat, aus katastrophaler Familiensituation stammend, gelehrt, der Spott von Hedwigs sechs Brüdern. Er hat nicht gerade sieben, aber doch drei Jahre um Prahls Älteste gedient – wer hätte ihm damals den Propsten zugetraut? Lornsen steht nicht zufällig etwas außerhalb, sehr aufrecht, und er schaut die Leute an, die winzigen Sänger, Bläser, neu Dazugekommenen, selbstbewußt und mit freundlich gekraustem Mund. In der Linken liegt die Predigtmappe – für alle Fälle. Er hat übermäßig zu tun gehabt, ist blaß und erschöpft, hat die Ansprache gestern nicht mehr memorieren können. Das kommt sonst nicht vor. Sorgfältiges Ausführen und handwerkliche Zuverlässigkeit sind sein Elixier. Das immer noch dunkle, krause Haar über der hohen, breiten Stirn, die gespitzten Ohren – der musikalische Propst, sagt man. Er hat es geschafft, man sieht es ihm an, aber auch, daß er es recht machen will.

Die zwitschernden Kinder haben den Zenith überschritten und befinden sich auf dem Weg in die höheren Sphären: ,Was will doch wohl nach dieser Welt dort in dem festen Himmelszelt und güldnen Schlosse werden!‘ ,O wär ich da! O stünd ich schon, liebreicher Gott, vor deinem Thron und trüge meine Palmen‘ singen die Vorkläßler des Lebens. Sie halten durch, wenn auch nicht mehr ganz vollzählig. Auf der obersten Treppenstufe steht vor dem Dunkel der Haustür das Grüne Paar. Wie jung! Der Bräutigam wirkt dennoch ganz wie ein gestandener Mann. Ein hoher schmaler Kopf, steht er in der Mitte der Tür, der Nasenrücken ein leuchtender Strich. Man könnte ihm sehr verschiedene Berufe zutrauen, den Politiker wie den Offizier wie den Schiffskapitän, nur nicht den Untergebenen. Er hat etwas Modernes. Ein starker Wille. Offen und zukünftig. Nichts Verkrampftes.

Schlossel, viel kleiner neben ihm, tatsächlich 21, schaut wie ein neugieriger junger Maulwurf herüber, nur der Kopf ist sichtbar, frei und offen lächelnd. Wer hat sich da wohl eingefunden? Ihr Mund ist halb geöffnet, man sieht ihre weißen Zähne. Schlossel weiß bereits, daß sie zwölf Kinder haben will. Sie trägt nur einen kleinen Schleier unter einem grünen Kranz, der mit Gänseblümchen besteckt ist. Mit Gänseblümchen? Ja. Sie liebt diese alltägliche Sonnenblume, seit sie Hans Christian Andersens Märchen kennt – „Ihr müßt es auf dänisch lesen!“ Schlossels Gesichtshaut ist vom Schleier kaum zu unterscheiden.

Die Kinder sind, wenn auch ein wenig schütter, bei der letzten Strophe angekommen, der Zug könnte aufbrechen und will sich in Bewegung setzen, da mischt sich Hede ein. Ihr habt so tapfer durchgehalten, so fein gesungen, können wir nicht die Mittelstrophe noch einmal mit Euch zusammen, – und schon stimmt sie an: ‚Ich selber kann und mag nicht ruhn; des großen Gottes großes Tun erweckt mir alle Sinnen‘, die drei Paare fallen ein, auch ein paar Umstehende, der Contrabaß des Patriarchen übernimmt die Führung und Mapeux setzt an einer Stelle mit so falschem Ton an, daß Schlossel zusammenzuckt und es im Parterre einen Lacher gibt: ,Ich singe mit, wenn alles singt …‘

Sie gehen jetzt in Nordrichtung, Gold, Silber, Grün, am Rand von den Kindern begleitet. Da kommt ihnen, ganz in Weiß, mit schwarzer, silbern bestickter Stola Senior Pohl entgegen, legt lächelnd die Hände unterm Kinn zusammen, geht voran und verschwindet hinter der Kirchentür.

Nein – Hede doch!

Efter at den gamle Præst

i gaar ved den tredobbelte

Familiefest havde talt med en

forunderlig Kraft, døde han i

Nat stille og roligt.

(Die HADERSLEV)

Am Morgen nach dem großen Tag, als Prahls Tochter hörte, daß ihr Vater in der Nacht gestorben sei, lachte sie laut und herzlich.

Ihre Mutter, die noch nie mit diesem Kind einverstanden gewesen war und mit rotgeweinten Augen am Tisch saß, legte beide Hände auf die Tischkante, als wolle sie aufbrechen.

„Hede, was tust du?“

„Ich freue mich. Was für ein Donnerschlag! In der Nacht nach der eigenen Goldenen Hochzeit zu sterben, am für ihn festlichsten Tag des ganzen Lebens, so etwas gelang doch nur den alten Patriarchen.“

„Bist du denn gar nicht traurig?“

„Vater ist da, wo er die Musik hört, nach der er sich immer gesehnt hat. Ich glaube, er hat sie in diesen Tagen bei uns schon einige Male gehört. Er hatte seine Elefantenohren seltsam aufgestellt.“

Sie stand am Frühstückstisch vor dem kleinen Trauerduo, zwischen ihrer siebzigjährigen Mutter und dem zwölfjährigen Sohn im weißen Kleid der Silberbraut, das sie ohne Schmuck und Schleier heute noch einmal tragen wollte. Unser lieber Vater! rief sie und lachte wieder.

Ihr Sohn sah sie an, als sei ein Laken auf sein Gesicht gefallen. Der Großvater tot, den er sieben Tage lang besucht hat, wann immer es sich machen ließ, und die Mutter hört es lachend? Er hatte die Nacht mit seinem Vetter aus Lübeck auf dem Dachboden kampiert und sich gewundert, warum der lange Kerl, der erst in der Morgendämmerung kam, so lange mit gewundenen Händen auf der Matratze gesessen hatte, leise betete, und sich erst dann hinlegte.

Alf war ein frühreifes Kind. Seine älteren Schwestern hatten ihm schon als er fünf war Schillers ,Taucher‘ vorgelesen, weil sie es so süß fanden, wenn bei der Schlußzeile ,Der Jüngling kam niemals wieder‘ unter den sanften Wimpern die Tränen hervorkullerten. Auch jetzt standen seine Augen unter Wasser. Er hatte noch seine Kindernase, die sich aber in letzter Zeit veränderte, das Gesicht bekam jetzt manchmal einen verschlossenen, trotzigen Zug.

„Willst du dich nicht zu uns setzen?“ sagten die klugen Augen. Die Mutter stand noch immer. Sie schüttelte den Kopf. „Es war sein Fest, wir anderen waren alle Statisten. Wie er in unserer prachtvoll geschmückten St. Nicolai – war es erst gestern? – Heinz und mich zum zweiten Mal einsegnete, ich meine, wie er geredet hat, war das nicht, was wir Vollmacht nennen? Standen unsere Füße nicht schon mit seinen in den Vorhöfen?“

Ihre Mutter, die Schwarz trug, seit ihr zwei Söhne im Weltkrieg gefallen waren, sah sie bekümmert an. Auch sie war blaß geworden.

„Mutter! War das kein Entrée in die Ewigkeit? Dein Mann ist unter den Lebendigen. Er braucht jetzt niemanden und nichts mehr anzuknurren!“

Die kleine Alte zuckte plötzlich am ganzen Oberkörper, rasselte und jiehnte wie ein luftziehender Blasebalg, keuchte, hustete und rang nach Atem. Ihre Arme zitterten. Sie litt unter schwerem Asthma. –

„Du schwärmst! – Wir haben unseren Vater verloren.“

Ihre Tochter hatte sich gesetzt und schüttelte den Kopf: „,Mein schönster Tag‘, hat er mir ins Ohr geflüstert, als ich um zwei Uhr nicht mehr konnte und ging. Meisterhaft! Liebster Vater, jetzt weiß ich, was du warst. Du warst ein Genie. Das macht dir keiner nach. – Nein doch!“

„Kind!“ Jetzt wurde die Mutter laut. „Wie du redest! Willst du denn gar nicht hören, was passiert ist!“

„Aber das weiß ich doch.“

„Wie! – Hier auf der Erde, fünf Minuten weg im Hotel, in unsrem Zimmer. Wie er uns verlassen hat!“

„Doch, Mutter, unbedingt will ich das hören. Obwohl – doch, Mutter.“

„Ihr wart schon gegangen. Vater wollte noch bleiben, er hat sich so wohl gefühlt und war nicht zu bewegen. Wir haben gesungen, wie in gamle Danmark doch immer am Ende jeden Festes. Seine Eichendorfflieder

Es schienen so golden die Sterne

Am Fenster ich einsam stand.“

– Ihre Stimme wurde unsicher. Hede sah sie verzückt an: „Weiter!“, bat sie, „sagst du es noch einmal? –“

„Und hörte aus weiter Ferne

ein Posthorn im stillen Land.

Das Herz mir im Leib entbrennte,

da hab ich mir heimlich gedacht:

ach, wer da mitreisen könnte

in der prächtigen Sommernacht.

Um drei ist er auf einmal müde geworden, wir gingen nach oben. Er hat sich nicht ausgezogen. Das tat er doch sonst in drei, vier Handgriffen, schmiß die Sachen über den Stuhl und ließ sich – was ich ihm immer noch austreiben wollte – nach hinten auf den Rücken ins Bett fallen. Er ist doch eigentlich zu schwer dafür!

Diesmal hat es mir gefehlt. Er setzte sich auf den Stuhl.

,Fehlt dir was?‘

Er nickte.

Ich habe deinen Bruder gerufen, Heie fühlte ihm den Puls, der ruhig ging.

,Das ist ja nett vom Puls‘, hat er gesagt. Dein Bruder wollte ihn zur Ader lassen, aber Vater bewegte seine beiden Finger seitwärts – du weißt schon, wie. Dann hat sich sein Gesicht verändert. Er sagte laut und deutlich: ,Gott sei mir Sünder gnädig!‘ nach einer Pause leiser ,und steh mir bei in meiner größten Not.‘ Dann –“ Hedes Augen hatten sich im Nu verdunkelt, sie sprang auf, lief zu ihrer Mutter, legte ihr Gesicht an das ihre und die Tränen sprangen ihr aus den Augen.

Dann ging sie zu Alf und streichelte seine Schulter, „Nimm doch noch etwas Brombeergelee“, und ging versonnen hinaus, schwebend, die schöne Pröpstin, wie sie in Eckernförde genannt wurde, drehte sich aber noch einmal um. „Heinz ist unterwegs. Er bietet dir sicher sein Studierzimmer an. Willst du nicht oben erst einmal räuchern, Mutter? – Wir kommen dann zu dir und gehen zusammen zu Vater.“

Alf war längst an ihr vorbei ins Freie gerannt. Sie schloß behutsam die Tür.

Jetzt saß die alte Witwe allein am Tisch, Gönke Helene Prahl, klein und schwer auf ihre Unterarme gestützt, schüttelte den Kopf und sagte halblaut vor sich hin, was ihr schon tausendmal zu dieser Tochter eingefallen war:

„Nein, Hede doch!“

Dann ging sie nach oben, um ihrem Atem Erleichterung zu verschaffen.

Erster Teil

Die Ankunft

Erstes Hauptstück

1. Schwarzer Freitag

Der Tag der Ankunft aus Hadersleben beginnt heikel. Alf erlebt ihn fast nur vorm Haus. Er sitzt auf den unteren Stufen des Treppeneingangs, die sich auf den Bürgersteig vorgewagt haben, den rechten Arm auf der Brüstung in der Sonne und liest, weil es auch der Favorit des Großvaters ist, das erste große Ausreißerbuch der vergangenen hundert Jahre, den ,Taugenichts‘. Er gefällt ihm über die Maßen, der Junge begegnet ihm genau im richtigen Augenblick. Wenn jetzt der Vater sich oben aus dem Fenster beugt und sagt wie dort der Müller: ,da sonnst du dich schon wieder, du moderner Faulenzer‘, dann mache ich ernst, sofort, stecke meine Geige ein und gehe über Gettorf und den Kaiser-Wilhelm-Kanal schnurstracks und aufs Geratewohl über die Alpen. Warum nicht nach Italien?

Er hat frisch geräucherte Sprotten einkaufen sollen für das Abendbrot mit den Gästen, in Mutters Portemonnaie ist nichts mehr, das kniepige Haushaltsgeld kann in einer festlichen Woche gar nicht reichen, und Mutter bittet ihn, natürlich ihn, den Schwächsten, ins Studierzimmer hinaufzugehen und Vater um Geld für Großvaters Empfang zu bitten. Sie hat schon den Auftrag mit unnatürlich natürlicher Stimme gegeben. „Wir brauchen mindestens ein Pfund Sprotten, besser eineinhalb. Und auch sonst noch einiges für die Küche. Roquefort … Erinnere Vater doch daran, was für ein guter Esser Großvater ist.“

Alf klopft, geht auf den Schreibtisch zu, sagt seinen Spruch auf: „Weißt du, es kommen ja heute zwei sehr gute Esser und Mutters Portemonnaie ist leer.“

Der Vater sitzt hinterm Schreibtisch und sieht ihn gar nicht an, sondern zur Seite, klaubt schmerzverzerrt – schmerzverzerrt! – seine Geldbörse aus der Hosentasche und gibt ihm ein Fünfmarkstück.

Als Alf es der Mutter in der Küche überreicht, es mit schmerzverzerrter Miene aus der Hosentasche zieht, springen ihr die Tränen aus den Augen. Sie verschwindet für einen Augenblick und Alf schämt sich zutiefst, daß er gemimt hat, setzt sich auf die Treppe und liest.

Die Mutter und Meike gehen an ihm vorbei, stadteinwärts. Er fängt noch einmal vorn an. „Mir war es wie ein ewiger Sonntag im Gemüte. – Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt.“ Nach einer Viertelstunde kommt die Mutter allein zurück, er bemerkt sie kaum.

Gegenüber tritt Alfs Zeichenlehrerin auf die Straße.

„Ich warte auf meinen Großvater aus Hadersleben!“ ruft er, ohne aufzusehen.

Sie nickt und bleibt stehen: Die Sonne beleuchtet ein Idyll. Der Junge da mit dem Buch in der Hauseingangsecke, sein Arm lässig auf dem Steingeländer, links und rechts ist das Straßenpflaster fast leer. Eine Katze, die in der Mitte gelegen hat, springt auf. Die Alte von Windeby mit ihrem Hund vorm Blockwagen holpert vorüber, wie jeden Tag, ob mit oder ohne Ziel.

„Was liest du?“ – Es klingt laut wie über einer Wasserfläche.

„Nichts!“ Alf sieht auf und lacht. „Ich tu nur so.“

„Ich fahre eine Woche nach Arnis.“

Er liest schon wieder, winkt, ohne aufzusehen. – Sie zögert, dann geht sie.

Das Mittagessen ist heute schweigsam. Der Vater blaß, die Mutter verstört. Meike fehlt. Wo ist sie? –

Als Alf wieder draußen sitzt, – er befindet sich gerade in einem italienischen Schloß, liegt noch wach, wo hinter der unabgeschlossenen Tapetentür ein schwarzlockiges Mädchen übernachtet, – stört die Mutter und bittet ihn, Meike zu suchen. Vielleicht sei sie am Strand. Such sie, bitte!

Meike sitzt in einem Strandkorb und führt Tagebuch; sie hat es monatelang vernachlässigt und will endlich nachtragen, was seit ihrem Abitur passiert ist. Der Strand scheint ganz leer, kein Wunder nach den drei Augustregenwochen, auf den Wällen der Sandburgen um sie herum und den Fußstapfen liegt eine feuchte Haut. Am Ufer streiten drei Lachmöwen.

Während sie an Alf denkt, hört sie hinterm Strandkorb stapfende Schritte, er stolpert durch den gekuhlten Sand an ihr vorbei aufs Ufer zu; sie ruft ihn, er zuckt zusammen, geht aber weiter, sie ruft wieder, er dreht sich um und sagt: Ich heiße nicht Elfi.“

„Entschuldige, lieber Bruder. Komm her! Was gibt es.“

„Mutter hat mir erzählt, was in der Stadt passiert ist, mit Tränen in den Augen, es tut ihr so leid. Du sollst bitte kommen! Kommst du?“

„Ja!“

„Mutter hat heute morgen schon zweimal geweint. An dem Tag, wo Großvater kommt!“ Er schildert die Szene im Studierzimmer und wie er in der Küche den Vater nachgeahmt hat. „Schmerzverzerrt!“

„Du bist ein Esel!“

„Du aber auch!“ –

Sie sitzen zusammen im Strandkorb und Meike erzählt. „Wir sind zu Thams gegangen, also gleich ins erste Damenmodegeschäft. Ich soll doch endlich das Festkleid bekommen, das Vater mir zum Abitur geschenkt hat. ,Na, Fru Propst?‘ Und Mutter sagt: ,Wir suchen etwas Bedecktes für unser kleines Ferkel‘. Hinterm Verkaufstisch steht meine Klassenkameradin Elke Thams, die das Haus einmal erbt, und weiß nicht, wohin sie sich verstecken soll. Ich hab mich auf der Stelle umgedreht und bin rausgerannt, durch die Stadt, ich weiß gar nicht, wo ich überall war. Komm, laß uns noch etwas am Wasser gehen.“

Sie war klein für ihr Alter, er beinahe untersetzt.

„Mutters Namen! ,Das kleine Ferkel‘, war das nicht noch auf Alsen? Wenn Mutter die Glocke läutete, kamst du klein und verschmiert an, hat Schlossel erzählt. Und alles mußte lachen.“

„Ja!“ sagt Meike. „Damals war ich drei. Dann kam ,mein Unterirdisches‘, weil ich so gerne unterm Tisch saß. Und dann, das hat was angerichtet, ,Zigeunerkind‘, weil ich so braun von der Sonne war und halbnackt herumlief. Sie hatte uns eine Geschichte von Johanna Spyri vorgelesen, in der ein armes Zigeunerkind von einer mitleidigen Familie angenommen wird. Und ich hab lange geglaubt, ich sei so ein angenommenes Kind.“

„Du auch?“ sagt Alf. „Ich auch – komisch. Ich hab auch gedacht, ich wäre angenommen. Und weißt du, warum? Du! Du überhaupt! Weil du mir immer die Geschichte von Genovefa vorgelesen hast und ich immer geweint habe, wenn ihr kleiner ,Schmerzenreich‘ vorkam, der von der weißen Hirschkuh gesäugt wurde. Ihr Biester habt mich sogar ,Schmerzenreich‘ genannt!“

Meike sieht ihn erschrocken an. Dann lacht sie.

„Jetzt weiß ich, warum es dich so nach den Möwenbergen zieht. Du glaubst, du wärst da aufgewachsen.“

„Dumme Kuh! Ich bin da aufgewachsen.“

„Liebster Bruder! Komm! Wir gehen noch ein Stück.“ – Sie hakt ihn unter.

Die Geschwister sprechen sich aus.

Unsre Eltern!

Meike beklagt sich, daß von ihrem Abitur so viel Gedöns gemacht wurde. Ich kann es nicht ertragen, wenn ich so gelobt werde. ,Meike ist so musikalisch, so klug, steht mit beiden Beinen so fest auf dem Boden‘ – was ich wohl tue! Und dann: unbedingt mußte ich gefeiert werden.“

„Du spinnst, Meike. Sie wollten sich mit dir freuen – und sich, sich selber auch, weil du durch bist, die vorletzte.

Die Eltern haben viel zu viel. Sie übernehmen sich, ich hab manchmal Angst.“

Sie sieht ihn an, verdutzt, mit vorgestülptem Mund, nachdenklich, erstaunt und amüsiert.

„Meike!“ ruft er. „Mutter wartet! Großvater ist vielleicht schon da! Wir haben uns verquatscht.“

„Lauf voraus!“ sagt sie. „Gruß und Kuß. Ich komme sofort nach.“

„Komm aber bald! Ich kaufe die elenden Sprotten, und zwar doppelt so viele, wie ich darf. Zwei Pfund!“

Sie nickt lachend, reckt die kleine Faust in die Höhe und singt ,Winterstürme wichen dem Wonnemond‘, die Zeile, die sie oft singt, seit sie im vergangenen Jahr eine Einladung nach Bayreuth gehabt hat. – Geht noch einmal ans Wasser, durch flaches Wasser auf eine kleine geriffelte Sandbank des Südstrands, hin und zurück, die Möwenberge leuchten nur noch matt. Sie sieht einen pelzig vertrockneten Seestern, zartblau, die Spuren von Vogelzehen im Sand. Der weiße, von Schritten gehöhlte Ufersand und die Wälle der Strandburgen mit den geflochtenen Körben in der Mitte sind von einer nassen Kruste überzogen, die gelblich scheint, so wie Steine bunt werden, wenn Wasser sie beleckt. Es ist diesig, matt und warm. Die See atmet kaum, liegt ruhig in den Armen der westlichen und östlichen Landzunge, kein Plätschern am Uferrand, draußen lautlos ein Schiff, nordwärts fahrend.

Es durchzuckt sie, sie rennt über den Exer, den einstigen Exerzierplatz, die Mutter hat sie vom Nähzimmer aus gesehen und läuft ihr mit offenen Armen entgegen. Dann stehen die beiden nebeneinander im Garten und klopfen den Teppich des Eßzimmers.

2. Die Ankunft

Alf liest schon wieder im Treppeneingang.

Ein staubbedecktes offenes Kabriolett, darin zwei staubbedeckte Männer mit blauer Sonnenbrille. Sie steigen aus und nehmen sie ab.

„Du funkelst ja!“ ruft er seinem Großvater entgegen.

„Das ist die reine Vorfreude, mein lieber Alfred“, lacht der Alte und drückt ihm kräftig die Hand.

Hede stürmt die Stufen herunter, umarmt ihren Vater, nimmt irritiert das Auto wahr, sieht die zersplitterte Windschutzscheibe, Glasgrus und Glasgries auf Polster und Wagenboden, zuckt zurück, als sie es auch auf den Anzügen sieht, umarmt aber unbeschwert ihren jungen Schwager Fuglsang und ruft zur Küche hinauf: „Handschaufel und Eule!“

Alf ist nur Auge. Der gewaltige Kopf! Und die großen Lauscher, die Tränensäcke. Was für ein Elefant kommt da ins Haus. Das Stärkste aber ist die braungoldene Jacke. Sie hat lauter Obertöne, glitzert prickelnd, ist wie durchwirkt von Lichtpunkten. Der Großvater ist felsenhauptaufwärts so kurz geschoren, daß der Kopf einfach nur wuchtig wirkt. Die braune Jacke aber steckt voller Goldknöpfchen und Silberspitzen.

Die Tochter nimmt seine Jacke über den Arm und führt ihn in einen großen Raum mit dem Blick zur Ostsee. „Dein Reich. Ab Mitte September wird es wieder das Zimmer der Konfirmanden, jetzt haben wir es für euch eingerichtet.“ Im Hintergrund zwei dunkle Holzbetten und der Waschtisch mit Marmorplatte und den Waschschüsseln, im Winkel vorne neben dem Fenster ein Sessel.

„Für meine Unabdingbarkeiten hast du gesorgt“, sagte Prahl und zeigte auf den Kaffeetisch, die aufgeschlagene ECKERNFÖRDER ZEITUNG. „Sogar ein Pfeifenständer und, was ist das – Zeitungsausschnitte?“ Sie liest fast nie Zeitung, aber seit ihr Vater im Anzug ist, hat sie täglich gelesen und ausgeschnitten, was ihn interessieren müßte.

„Ein Dossier zu eurem Klima hier?“ Er streicht ihr übers Haar und legt zwei Papiere aus seinem Koffer daneben, noch ohne mit ihr darüber zu sprechen: Seine erste am 2. September 1873 in Nordschleswig gehaltene Predigt und einen Aufsatz seines entfernten Vetters Erich Schlaikier, ,Papiere eines Einsamen‘, der vor kurzem in der HADERSLEBENER gestanden und für Aufsehen gesorgt hat. „Dieser Vetter hat schon vor 1914 Nordschleswig verlassen und lebt als Volksschullehrer, der zugleich schriftstellert, irgendwo in Ostholstein. Ihr kennt ihn wohl gar nicht?“

Die Herren ziehen sich um, Fuglsang, um danach über den Exer zum Strand zu gehen, Prahl, um das Neueste vom hiesigen Tage zur Hand zu nehmen, ohne mehr als nur einen Blick aus dem Fenster zu tun, wo Hede und Meike, beide recht klein und von gleich anziehender Figur, unter der Teppichstange schon die Anzüge der Gäste klopfen und bürsten. Er sieht über den Bretterzaun des Gartens auf den seit Kriegsende wieder begrünten Exerzierplatz, dahinter die von ein paar wandernden Baumstämmen und einem Strandcafé unterbrochene blaue Bucht.

Der erste Tag an einem neuen Ort ist der längste: es öffnet sich das Schauspiel einer neuen Welt. Prahl greift zur aufgeschlagenen Zeitung und versenkt sich mit ausgebreiteten Armen.

Er findet eine sachkundige Darstellung des Umbaus der Orgel von der Hand des Organisten, sehr detailliert, und nun freut es ihn doppelt, daß er sich zehn Tage vor dem Familienfest aufgemacht hat, um in St. Nicolai als erstes die Einweihung der neuen Orgel mitzuerleben. Drei Jahre hat sein Schwiegersohn den Plan hin und her gewendet, den Kenner Mahrenholz in Göttingen und den Lübecker Orgelbauer Kempper gewonnen, und dann haben sie’s gewagt, nicht nur gewagt, sondern geschafft, in zwei Jahren der lähmenden Finanzdürren einen solchen Orgelbau zuwege zu bringen … Respekt!

Wie klug Heinz aber auch das Ereignis als Fest der ganzen Gemeinde vorbereitet hat. Er weiß wie du, daß die Ankündigung eines Inhalts die Spannung nicht wegnimmt, sondern aufbaut, und hat schon am vergangenen Montag – der Ausschnitt lag bei Hedes Dossier obenauf – die Dramaturgie des Gottesdienstes verraten. „Viele werden gespannt sein, wie das von Grund auf umgebaute Werk klingt. So viel darf schon jetzt gesagt werden, es ist ein Werk klangvoller Schönheit, jede einzelne Stimme hat ihr eigenes charakteristisches Gepräge, manche sind voll und rund, nähern sich der menschlichen Stimme oder dem Klang einschmeichelnder Instrumente, andere wieder sind eigenartig herbe, aber gerade diese üben eine nachhaltigere Wirkung aus. Die Kirchenvertretung hat sich entschlossen, ein ganz modernes Werk zu bauen, das an die besten Traditionen Bachscher Zeit anknüpft. Unsere Orgel wird keine Dutzendorgel sein mit den bekannten das Orchester imitierenden Stimmen. Das Brummen und Summen, aus dem man schwer eine Melodie heraushören kann, ist Vergangenheit; unsere Orgel wird sich auszeichnen durch klare Melodienführung, und das wird auch dem Gemeindegesang zugute kommen.

Nach dem Orgelvorspiel wird unser Organist Maybaum, während die Gemeinde sich erhebt und zum ersten Mal von der neuen Orgel begleitet singen wird, das Lied anstimmen: ,Lobe den Herren, meine Seele, ich will ihn loben bis zum Tod‘.“

Wie Schwiegersohn Lornsen sich entwickelt hat! Du hättest ihm so etwas nicht vermacht, damals, als er bleich vom Examen bei uns auftauchte, gelehrt und – so linkisch! Er pipselt wieder, sagten die Söhne.

Ich habe etwas gutzumachen, sagte sich Prahl. Ich wollte ihm damals Hede, unsre blühende Wildnis mit dem blitzschnellen, praktischen Verstand lange Zeit nicht zutrauen und gönnen!

Unter dem Text des Organisten Maybaum, der in der gestrigen Nummer eine vollständige Erläuterung des gesamten Registers der Orgel hat folgen lassen, stößt Prahl jetzt in der gleichen Spalte auf eine schockierende Nachricht, auf einen Fall, der alle Welt vor einer Generation hat aufhorchen lassen. Er liest fasziniert; damals sollte er gerade seine letzte Stelle in Hadersleben antreten. Ein Schwede hatte versucht, mit einem Gasballon als erster den Nordpol zu erreichen, und war spurlos verschwunden.

„Nach 33 Jahren. Man findet Andrées Leiche. Oslo, 23. August 1930: Von einer norwegischen wissenschaftlichen Expedition ist auf White Island die Leiche des schwedischen Ingenieurs Andrée gefunden worden, der im Jahre 1897 mit zwei Begleitern auf Spitzbergen in einem Luftballon aufstieg, um den Nordpol zu erreichen und seither verschollen war. Es handelt sich um die auch Gillis-Land genannte weiße Insel, die einige Kilometer nördlich vom 80. Breitengrad zwischen Nordost-Spitzbergen und Franz Joseph-Land liegt. Das Lager befand sich etwa 750 Meter von der Küste entfernt. Man fand das Boot und einen Schlitten und in dem Boot die Überreste eines menschlichen Skeletts. Auch das Logbuch und einige Ausrüstungsgegenstände, die die Aufschrift ,Andrées Polarexpedition 1896‘ trugen, wurden aufgefunden. Wenige Meter von dem Boot entfernt lag die Leiche Andrées völlig im Eis eingefroren. Sie war völlig bekleidet und gut erhalten. In den Taschen fand man Andrées Tagebuch.“

Eisig verewigte Vergangenheit. Schaurig. Er blättert im Dossier und hört nach zwei Stunden nicht das Klopfen. Alf tritt zögernd ein und bittet ihn mit hellen Augen und Übereifer zum Abendbrot ins Eßzimmer.

3. Die neue Orgel

Lornsen steht am Kopfende des großen Tisches, zu seiner Linken warten Hede, Meike und Alf, ihm gegenüber Schwager Fuglsang, zu seiner Rechten nach einem freien für Prahl bestimmten Platz die Töchter Schlossel und Ruth.

„Vater, willst du mit uns beten?“ fragt Lornsen.

„Ich bin dein Gast“, sagt Prahl.

Lornsen stimmt einen Psalm an, ,Danket dem Herrn, wir danken dem Herrn‘, die anderen fallen ein, ,denn er ist freundlich, und seine Güte –‘ Prahls Stentorstimme dringt durch ,währet ewiglich‘, aber als sie am Ende, ,sie währet ewiglich, sie währet ewiglich‘, angekommen sind, nickt der Alte der Tischreihe gegenüber zu, beginnen Hede, Meike und Alf von vorn. Sie bringen den Kanon glockenrein zustande und setzen sich lachend.

„Das ist nun doch alles Mögliche“, sagt Hede. „Nein! Wir haben dich von nun an noch neun Tage bei uns. Das hat es in diesem Leben noch nicht gegeben. Und du hast ihn uns gebracht, Conrad!“

Der Tisch ist reich, farbig und glänzend gedeckt, auf einem nur an den höchsten Festtagen aufgelegten gestickten Tischtuch mit durchbrochener Borte. Das weißblaue Kopenhagener und die Silberbänke daneben. Zur Feier des Tages Fuglsangs Pilsener. Ovale Platten mit den von Schlossel kranzförmig gelegten goldenen Sprotten, die immer noch etwas warm sind. Sie stehen vor den beiden Gästen. Junge Wurzeln, zartrot, eigene Gartentomaten und krumme Gurken. Petersilie. Roher Schinken. Mit Schnittlauch angemachter Quark, löchriger Schweizer Käse und der von Lornsen und Schlossel geliebte französische Roquefort.

Sie lassen den Gästen Zeit. Schwager Fuglsang geht vorsichtig mit den Sprotten um, Prahl befördert sie bündelweise auf seinen Teller und ißt sie zünftig, mit Kopf und Schwanz. Meike und Alf blinzeln sich zu.

„Ich habe ein Wall gekauft“, flüstert er.

Sie versteht nicht.

„Drei Pfund.“

Das junge Mädchen bringt einen neuen Teller.

„Ist euch ein Stein in die Scheibe geflogen?“ fragt Lornsen.

„Kein Stein und keine lebensmüde Krähe“, sagt Fuglsang, „Nichts. Der Unfall ist unerklärlich. Für diesen Wagen habe ich extra stabiles Windschutzglas angefordert, ein Glas, das, wenn es zerspringt, zersplittert, so daß du sofort wieder freie Sicht hast. Aber warum ging es entzwei! Wir haben fünf Automobile getroffen und ein paar Erntefuhrwerke, aber als es passierte, war keins in der Nähe, nichts!“

„Ich war kurz eingenickt“, sagt Prahl, „und hörte ein Geräusch, wie wenn Leinen zerreißt; als ich die Augen aufmachte, sah ich, wie von meiner Ecke ein Splittern zu Conrad rüberwanderte, ein glitzernder regenbogenfarbener Riß, der sich plötzlich ausbreitete. Ein schöner Anblick, aber da hatten wir die Bescherung schon auf dem Schoß und dünnen Glasstaub auf Jackett und Gesicht. Zum Glück hatte Conrad uns Sonnenbrillen verpaßt. Wir sind vorsichtig ausgestiegen, haben uns ausgeschüttelt und abgeklopft; es ist ohne Kratzer abgegangen.“

Hede hatte während seines Erzählens kurz die Augen geschlossen. Ihr Vater hatte ein Wort gebraucht, das sonst nur vorkam, wenn er wußte, daß in seiner Gemeinde einer starb. Dann träumte oder hörte er nachts einen Kampf in der Luft und es klang, wie wenn ein Leichentuch zerrissen würde. Eine Ahnung, auf die er sich verlassen konnte.

Heinz sah sie an, sie schüttelte unmerklich den Kopf.

„Hast du schon einmal in unsere Zeitung geguckt?“

„Ich hab nichts anderes getan. Ihr habt ein besseres Blatt als wir mit unsrer HADERSLEV und einen beschlagenen Organisten: Mir wird immer wohl, wenn einer sein Handwerk versteht.“

„Auch schon einmal auf die heutige?“

Die lag noch hier im Eßzimmer. Auch heute stand etwas in der Zeitung, und der Hausvater wurde gebeten, es vorzulesen. „Mein Prinzip ist, wenn es dreimal in der Zeitung steht, ist die Kirche voll“, sagte er und las, las auch das Crescendo am Ende, wobei er etwas zweifelnd über den Brillenrand in die Runde blickte: „Der Schluß des Gottesdienstes wird sich dann dadurch noch besonders festlich gestalten, daß Herr Predigtamtskandidat Mapeux von Bischof D. Völkel ordiniert wird, um am 7. September sein Pfarramt in Angeln anzutreten.“ Er bemerkte, daß Schlossel, die Braut, zusammengezuckt war und den Mund auftun wollte, fuhr aber rasch fort: „Gott segne das große Fest der Orgelweihe. Pflügen wir ein Neues und hoffen, daß viele sich an den Klängen freuen werden, sich mitreißen lassen zu Lob und Dank, zu Buße und Bitte, zu Freude und Frieden. Welch erhebende Macht liegt nicht in solchen Tönen! So fällt in die schwere, dunkle Zeit, durch die wir hindurchmüssen, ein heller Sonnenstrahl der Freude.“

In einem evangelischen Pfarrhaus kann die direkte Berührung von Himmel und Erde die peinlichsten Augenblicke hervorbringen, einen abschirmenden Blick auf den Teller, wenn der Hausherr zwischen Gemeinde und Familienkreis zu unterscheiden vergißt. Dagegen war bei Lornsens vorgesorgt.

Meike, die jüngste Tochter, die im April ihr Abitur hinter sich gelassen hatte, quicklebendig, hochmusikalisch, achtzehnjährig, trat sofort die Flucht nach vorne an.

Sie habe ja gar nicht gewußt, daß ihr Vater so viel Poesie im Leibe habe.

Er lachte. „Wenn es um Musik geht, verläßt mich leider immer der Verstand.“

„Findest du? Finde ich gar nicht. Da entfaltet er sich erst und erlaubt sich zum Beispiel einen hellen Sonnenstrahl der Freude.“

Meike revanchierte sich. Sie wollte ihn auch einmal drillen, wie der Vater sein Hauptvergnügen mit einem dänischen Wort nannte. Meistens war nämlich er es, der sie aufzog, am liebsten mit ihrem Deutschlehrer, der in Knickerbockern, weißen Seidenstrümpfen und Schnallenschuhen durch die Küstenstadt wandelte und zu allem hinzu ein Dichter sein wollte. Er war seit langem Meikes Lieblingslehrer. Die Eltern ahnten aber nicht, daß sie sich bei der Abiturfeier ernsthaft in ihn verliebt hatte, und ihr Vater hatte erst vor kurzem wieder den ersten Satz seines Romanerstlings zitiert: „Der Tag kreischte in den Farben des Kakadu“, um den Kopf zu schütteln: „Schwögig.“

Hede freute sich, daß nicht nur Heinz die Jüngste, sondern auch einmal die Jüngste Heinz drillte, warf aber ein, diesmal tue Meike Vater Unrecht. Der helle Strahl der Freude sei gar nicht von ihm, sondern von ihr.

„Ja, mein Lieb“, sagte er, „das Helle ist von dir.“ Er habe geschrieben, was ja schon viel sei, ein Sonnenstrahl der Freude, aber die Mutter, ohne die ja kein Piepton aus diesem Schneckenhaus hinausgelange, habe ihn mit ihrer Oberstimme versehen.

„Das ist wahr“, sagte sie. „Und dann habe ich Vaters ersten Artikel in einen gefütterten Umschlag gesteckt und nach Hadersleben geschickt, wo er Wunder wirkte. Das hat es noch nicht gegeben“, sagt sie noch einmal leise.

„Euer Organist“, sagt Prahl

„Maybaum“

„er beschreibt genau, was das 19. Jahrhundert an der alten Orgel verändert hat.“

„Man könnte fast sagen ,verbrochen‘“, meint Lornsen.

„Vielleicht – Als ich so jung war wie Alfred heute, entstand die Meinung, hörst du, Alfred?, je leiser und säuselnder man auf einer Orgel spielen könne, je farbiger auf dem Hauptwerk in der Mitte, und andererseits je gewaltiger von den Seiten her, je grollender oder sieghafter mit der Trompete, umso schöner. Ich bin eine Zeitlang davon verzaubert gewesen. Unser Vater hat nach diesem Konzept die alte Orgel im Wetzlarer Dom umgerüstet und ich habe ganze Nachmittage auf der Orgelbank gesessen, um ein rollendes, grollendes Alpengewitter oder eine romantische Wiese mit Bach und Vogelwelt hinzukriegen. Wir nannten das die Konzertorgel. Noch in Mögeltondern haben wir so restauriert.“

„Wir meinen heute, daß das falsch war“, sagt Lornsen. „Der Klang dieser Orgel ist unklar und dick. Breiig. Ich liebe die Bratsche, Oboen, aber die Kirche ist kein Konzertsaal. Das Hauptwerk ist untergegangen, die Mittelstimmen nicht mehr erkennbar, zu unbestimmt geworden, und gerade da liegen doch bei Buxtehude, Pachelbel, Bach die größten Schönheiten verborgen.“

„Hör mal! Breiig?“ wirft Conrad Fuglsang ein. „Ich bin kein Fachmann für Kirchenmusik, aber auf meiner Hausorgel, wenn ich auf ihr spiele, kann ich hundert Farben anschlagen, die wunderbar klar zu unterscheiden sind. Die klingen höchstens breiig, wenn ich tagsüber mit zehn Kunden nacheinander jedesmal zwei Pilsener getrunken habe. Ich glaube, du willst uns Nordschleswigern einmal wieder unser romantisches Gefühl austreiben, unseren Grundtvig und Konsorten.“

„Gar nicht! Überhaupt nicht! Hör mal! Es gibt Lieder von Grundtvig, die ich liebe. Aber die Kirchenorgel ist im Barock etwas anderes gewesen, ich weiß nicht, umfassend! Mozart hat sie noch die Königin der Instrumente genannt. Ja! Sie war das Zentrum des Musiklebens, das ging dann über in den Musiksaal. Muß man daraus den Schluß ziehen, daß die Orgel mit dem Konzertsaal konkurrieren soll?“

„Jede Zeit hat ihren Stil“, sagt der Brauereibesitzer, „ihre Vorstellung von einem schönen Klang. Auch die Gregorianik war grande – eine Welt! Aber –. Du würdest dir doch auch keine Bachsche Perücke aufsetzen!“

Alf lacht. „Die würde Vater prima stehen. Soll ich eine vom Boden holen, aus unserer Theaterkiste?“

„Ja“, sagt Lornsen. „Hol sie!“ Er lacht. „Nein“, ruft Hede. „Heinz, was für eine Anwandlung! Bleib, Alf! Wir wollen heute doch keine Albernheit!“ Lornsen will ihr zustimmen, aber da sagt Prahl: „Findest du? ,Wir spielen alle!‘ habe ich neulich gelesen. ,Wir spielen alle. Wer es weiß, ist klug.‘ Mir würde es Spaß machen, deinen Mann mal in einer Bachperücke zu sehen.“

Seiner Tochter steht der Mund offen: „Vater, was ist mit dir! – Bei einem Gespräch über die Orgel?“

„Ja!“ sagt er. „Wenn Du wüßtest, wie ich mich manchmal im Bryggerivej 1 langweile! Seit ich vor sechs Wochen meinen Aufsatz über Haderslebens Ketzer Sinknecht abgeschlossen hab, liegt nichts mehr vor mir –.“

Alf kommt schon vom Dachboden; er hat die Perücke ausgeschüttelt und setzt sie seinem Vater auf – zum Erstaunen aller.

Die solltest du immer tragen, sagen Meike und Fuglsang wie aus einem Mund.

Lornsen sieht mit blitzenden Brillengläsern in die Runde, bewegt die Lippen, als rolle er eine Murmel. Sein feines Gesicht kommt verändert zur Geltung. Er redet unbefangen weiter über die Orgel, aber weil er wie ein Hofastrologe aussieht, klingt es man weiß nicht, wie. „Conrad, wir wollen uns nicht verhaken. Ich meine so etwas wie einen Grundklang.“

„Diesen Grundklang der norddeutschen Orgelbewegung habe ich auf dem Kieker. Er ist so erhaben, so verdammt herbe und unpersönlich, geradezu ungemütlich! Und sowas meinst du?“

Lornsen seufzt. „Warte! Nicht so schnell! Die Orgel ist im Ursprung kein Begleitinstrument, sondern das große Gegenüber des Altars. Ein selbständiger Ort der Liturgie. Dankopfer. Darum steht über den Orgeln SOLI DEO GLORIA, und auf ihren Flügeln und Säulen blasen Engel die Posaune. Ein Himmelsinstrument, das die Erdenklöße nicht tragen und einlullen soll, sondern erheben. Entschuldige, Conrad, daß ich hier so aushole.“

„– Nur zu! Nur zu! –“

„Jetzt weiß ich, wie ich mich erklären kann, aber ich glaube –“ er sieht in die Runde.

„Man los!“ sagt Fuglsang. „Raus mit der Ewigkeit!“

„Wir haben seit drei Jahren einen Orgelzirkel in Eckernförde, da hat uns ein Orgelforscher eine Geschichte aus dem Mittelalter erzählt. Bevor es die Erde gab, war der Herr der Himmel von zehn Engelchören umgeben, die nichts als Lob und Dank sangen, bis es einem, dem Anführer des zehnten Chors, zu viel wurde, Luzifer, und er mitsamt seinem Anhang in den Abgrund gestoßen wurde. Die Bänke des 10. Chors standen sozusagen leer. Nur deshalb gibt es uns. Darum wurden wir geschaffen, als Anwärter auf den zehnten Chor. Um die Zahl wieder vollzumachen. Und die Orgel ist dafür unser Vorspiel, die Treppe.“

„Du holst weit aus, lieber Schwager, es wird hoch, sehr hoch, ich sehe dich ganz oben auf der Jakobsleiter.“

„Es ist eine herrliche Geschichte“, sagt Prahl leise. „Ich glaube, endlich mal verstehe ich meinen Schwiegersohn. Aber Schlossel ist unruhig. Willst du nicht schon lange etwas sagen?“

Die junge Braut wird rot.

„Ich hatte eine komische Idee. Sieht die Orgel nicht aus wie ein Vogel mit ausgebreiteten Flügeln? Die Vogelfedern stecken ja wie Orgelpfeifen in den luftigen Flügelknochen. Vielleicht haben die Orgelbauer an so was gedacht? Die Orgel ist doch oft dreiteilig, der Mittelteil am höchsten, wie beim Vogel der Körper mit seinem Kopf, und dann gibt es die Seitenflügel – Flügel! Man sagt ja überhaupt Flügel! – und die sind steil aufwärts gerichtet, oder aufwärts und dann nach unten abgeknickt, wie Oberarm und Unterarm.“

Sie reckt ihre Arme in die Höhe, stößt dabei zu allgemeinem Vergnügen an Prahls Haupt, versucht dann ihre Ellenbogenspitzen aufwärts zu bewegen, was linkisch aussieht, aber Alf hat sofort begriffen, stellt sich hin und macht wie ein Gummigliedermann den Orgelengel.

„Fünfteilig, könnte man auch sagen“, ergänzt Prahl und gibt seiner Nachbarin einen Kuß.

„Es geht bei euch sehr himmlisch zu“, meint Fuglsang, „aber daß eine Orgel dreiteilig oder auch fünfteilig ist, verstehe ich wenigstens. Meine ist fünfteilig.

Aber Nachbar Prahl, waren wir nicht beim barocken Grundklang stehen geblieben, beim Grundklang der Urorgel?“

„Ich will es versuchen“, sagt der Alte. „Es ist im Grunde einfach; es gibt doch einen bestimmten prächtigen Orgelklang, den wir irgendwie als vollständig empfinden, er hieß in meiner Ausbildung ,organo pleno‘. Er ist nicht aufdringlich, er beruht nur auf sich, aufgeregt darf er schon gar nicht klingen. Er fußt auf einer bestimmten Auswahl der Register.“ Prahl beginnt ins Detail zu gehen.

Meike, Schlossel und die stille dritte Tochter, Ruth, sehen auf den Teller, Alf sieht zu seinen Schwestern hinüber –

„Vater!“ sagt Hede leise.

Der Großvater verstummt und schüttelt den Kopf. „Entschuldigt! Unsere Orgologie – “

Aber nun meldet sich Meike.

„Vater, ist es nicht eigentlich so, daß wir in St. Nicolai eine Orgel gehabt haben, die das ,Plenum‘ konnte, ich habe ,Plenum‘ gelernt, nicht ,organo pleno‘, und daß erst der Krieg –“

„Ja“, sagt Lornsen. „Unsere Orgel mit den 34 Registern war im Ursprung vollkommen. Du hast ganz recht. Sie hat ihren Wert erst im Weltkrieg verloren. Maybaum, unser Organist, kennt sie besser als seine Frau und hat wie ein Löwe für sie gekämpft.“

Und nun erzählt er, wie der Kirchenvorstand 1917 die großen alten Pfeifen der Vorderansicht für die sogenannte Totale Metallmobilmachung ausliefern mußte. Der reine Unfug. „In den Pfeifen steckte viel zu viel Blei, um verwertbar zu sein. Maybaum machte ein Gegenangebot: Pedaltrompeten aus purem Zinn. Nichts da! Es wurden über hundert Prospektpfeifen eingezogen und in zweihundert Kilo Metall zurückverwandelt.“

„Militärisch wertlos?“

„Es ist nie verwendet worden, liegt irgendwo auf einem Kieler Firmenhof als Schrott. – Aber jetzt haben wir sie wieder, die 34 Register.“

„Spielt eine von euch die Orgel?“ fragt Prahl die Töchter.

„Ich“, sagt Meike.

„Seit sie 13 ist“, sagt Lornsen.

„Ich auch“, sagt Prahl. „Meike, fandest du den Anfang auch so komisch?“

Sie lachte. „Meine erste Stunde. Das war überhaupt eine Stunde! ,Unsere Heßlerorgel‘, sagte Herr Maybaum. ,Ich bin ja mit ihr verheiratet.‘ Es schwirrte nur so von, warte mal, Hauptwerk und Schwellendes Brustwerk, Unterwerk und Pedal, einen Satz habe ich behalten: ,Hauptsache, Unterwerk und Brustwerk sind mechanisch spielbar‘, und dann hat er mir das Innere gezeigt, die Kammern, und ich hörte alle diese Namen, Prinzipal und Krummhorn, Posaune und Gedacktpommer, Rauschpfeife und Bauernflöte. Sie lachte: Unda maris, Tremulant im Unterwerk, Glöcklein.“

„Nein doch!“ lacht Hede.

„Mir wurde ganz, ich weiß nicht wie –“

Der Propst räuspert sich, aber Hede legt ihm die Hand auf den Arm, und der alte Prahl lacht mit. „Genauso war es.“

„Ich fand die ganze Orgelsprache komisch“, sagt Meike. „,Wir müssen den Pfeifenstand von vor 17 wiederhaben, wenn wir die Durchsichtigkeit wollen, und die wollen wir‘, sagte Maybaum. Die Durch-Sichtigkeit!“

„Findest du, er hätte Durch-Hörigkeit sagen sollen?“ fragt das Brillengesicht unter der Perücke. „Stimmt eigentlich. Für mich das Schönste an der Musik ist, wenn ich viele Stimmen durchhöre. Ich habe lange dazu gebraucht. Aber es liegt auch am Nacheinander und Ineinander der Instrumente.“

„Und am Spiel.“

„Und an der Roten Grütze“, sagt Alf. „Sonntag gibt es bestimmt Rode Grütt, und das Schönste ist, wenn ich durchschmecken kann, was alles drin ist. Im letzten Zeltlager gab es eine, die war nur Brei. Aber wenn Mutter sie kocht, dann finde ich die schwarzen und roten Johannisbeeren und die Himbeeren, Blaubeeren, Apfelstücke und je nachdem und überhaupt alles! Mutters Grütze ist eine Durchschleckigkeit.“

Jetzt lacht der Tisch. Aber Fuglsang erhebt sich. „Entschuldigt. Es tut mir so leid. Von den mit Kopf und Schwanz zu verpeisenden Sprotten über die Orgel zum Zehnten Chor und dann mit einem Sprung zur Roten Grütze, das ist nun so, daß ich unbedingt wissen wollte, wo ihr noch überall anlangt. Aber morgen früh muß ich wieder in meiner Brauerei nach dem ganzen tremulierenden Unterwerk gucken. Habt Dank für das Beisammensein. Für die ganze Durchfühligkeit bei euch. Mange tak!“ Hatte er feuchte Augen?

Man will ihn nicht gehen lassen, aber er geht betrübt um den Tisch herum, gibt allen die Hand, steht dann in der Tür und legt die Hände zusammen. „Ich muß noch bei Helligkeit ankommen.“ Lornsen gibt ihm das Geleit, legt aber die Perücke vorher aufs Buffet.

Ruth hat bisher nur zugehört, ihre Augen sind den Gesprächssprüngen gefolgt, jetzt sagt sie: „Ich wollte dich immer einmal etwas fragen, Großvater. Stimmt es, daß du etwas wörtlich im Kopf behältst, was du nur einmal gelesen hast?“

„Wer sagt das?“