cover
Der Tote im Deich

1.

Polizeizentralstation Meldorf

POLIZEIMEISTER CHRISTOPH BRANDES hatte an dem Morgen in der Polizeizentralstation Meldorf Telefondienst. Sie wechselten sich ab, einer von ihnen, der deshalb bei allen Einsätzen in der Station blieb, musste das ja tun. Und seine noch unzureichende Ortskenntnis würde ihn nicht an der elektronischen und schriftlichen Aufnahme von Anrufen hindern. So lerne er am schnellsten das Revier kennen, hatten die Kollegen gesagt, die aus der Region stammten oder zumindest schon längere Zeit hier im Einsatz waren. Sie wiesen auf die große Wandkarte des Stadtgebietes und grinsten. Nicht, dass sie sich etwa lustig gemacht hätten über seine Unerfahrenheit. Brandes fühlte sich bereits nach kurzer Zeit akzeptiert und anerkannt. Aber manchmal war er eben auch die Zielscheibe ihrer Scherze, es störte ihn aber nicht. Sie hätten das wohl mit jedem Neuling so gemacht.

Brandes kam vor ein paar Monaten aus dem Binnenland, von dort, wo die Ausläufer der Mittelgebirge in die Norddeutsche Tiefebene übergehen. Kurz vor dem Ende seiner Ausbildung erfuhr er, dass in Schleswig-Holstein auch Polizeibeamte aus anderen Bundesländern eingestellt werden. Als er deren Personalbedarf für die nächsten Jahre sah, im Internet ist ja schließlich alles zu finden, und er daraus auf Möglichkeiten eines Aufstieges schloss, bewarb er sich. Das Land zwischen den Meeren, das Land der weiten Horizonte, dort wo jedes Jahr Tausende ihren Urlaub verbringen, das lockte ihn ohnehin. Berge begrenzten dort nicht den Blick in die Ferne, zwangen den Straßen und Wegen keine Umwege und Steigungen auf. Und der niedrige Geest-Rücken zählte für ihn nicht, war ihm wie eine alte Grenzbefestigung, der Grenze zwischen Meer und Land, vor Jahrtausenden von der Natur aufgeworfen, wie er bald erfuhr. Hier ging die Sonne hinter dem Horizont unter, oft mit einem herrlichen Farbenspiel, und nicht vorzeitig hinter einem in der Dämmerung unansehnlich werdenden Hügel. Brandes war schlank, um einsachtzig groß, ledig, dunkelhaarig und mit seinen fünfundzwanzig Jahren am Anfang seiner Laufbahn. Es war ihm nicht schwergefallen, das Elternhaus, die Freundschaften aus seiner Kindheit und Jugend zu verlassen. Das war keine große Entfernung von ihnen, über die er sich Sorgen gemacht hätte. Seine Generation war zu Mobilität und Weltoffenheit erzogen worden. Es gab schnelle Verkehrswege, das Internet, Handys und Skype. Nach Bayern zu gehen, in eine erzkatholische Kleinstadt, das wäre für ihn trotz der Nähe der Berge, jener echten Berge, die einen Umweg oder einen Aufstieg mit ihrem beeindruckenden Charakter lohnen, nicht infrage gekommen. Aber der Norden, hell, klar, eben, das war etwas Anderes.

Es war an einem Freitagmorgen im September. Brandes hatte gerade über sein zweites Frühstück nachgedacht. Der spätere Vormittag würde lebhafter werden. Das Wetter war sonnig, mild, fast windstill. Ideales Ausflugswetter. Viele Urlauber waren noch in der Region, in den Bädern an der See oder in den Quartieren auf den Bauernhöfen. Urlaub in Deutschland war attraktiv geworden. Hamburg war nicht weit, Tagesausflügler scheuten nicht die Fahrtzeit von knapp anderthalb Stunden auf der Autobahn. Die Ernte in der Region lief. Riesige Fahrzeuge ernteten Kartoffeln, Kohl und anderes Gemüse. Der Wochenmarkt war mit Waren reich gefüllt und trotz der frühen Stunde drängten sich bereits die Besucher.

Das Telefon meldete einen Anruf und Brandes sah, dass er von einem Handy kam. Der Anrufer sprach mit atemloser, hektischer Stimme, war fast unverständlich und Brandes dachte kurz an ein Funkloch irgendwo in der Weite der Landschaft. „Moin!“, wiederholte er schließlich seinen Gruß, ohne einen Namen zu nennen. „Ihr müsst mal herkommen! Hier hängt einer!“

„Wie ist Ihr Name und von wo rufen Sie an?“, fragte Brandes zurück. Er sprach betont langsam und deutlich, um eine eventuell schlechte Empfangsqualität und seinen Dialekt zu überlisten.

„Ist doch egal!“, knurrte der Anrufer und meinte wohl seinen Namen. „Im Meldorfer Hafen. Da hängt einer. An der Brücke.“

„Ich brauche Ihren Namen“, forderte Brandes. „Und schildern Sie mir genauer, was sie anzeigen möchten.“

Er hörte ein kurzes Würgen, ein Husten. „Ich bin mit dem Kajak auf der Miele. Wollte rausfahren, in den Speicherkoog. Hab ich aber abgebrochen. Da hängt einer unter der Brücke. Hat die Füße im Wasser. Bewegt sich aber nicht mehr. Da muss jemand rauskommen!“ Das Gespräch brach ab. Der Tag begann ja großartig!

Polizeimeister Brandes sah sich aufgeregt nach den Kollegen um. „Das kann nur im Alten Meldorfer Hafen sein. Die Brücke über den Hafenstrom“, erklärten sie ihm. Sie schickten über Funk einen Streifenwagen hinaus und informierten die Kriminalpolizei in Heide.

2.

Der Fundort

CHRISTOPH BRANDES WÄRE gerne zu der Fundstelle mit hinausgefahren, wegen des Anlasses und wegen der Örtlichkeit, aber sie sagten ihm, er solle das noch den älteren Kollegen überlassen. Ein Toter sei meistens kein schöner Anblick. Dabei hatte er sich vorgenommen, in kürzester Zeit alles Notwendige für seine Tätigkeit hier in dieser Region und über die Region selbst zu lernen. Ereignisse und Abläufe, Personen, Institutionen, Namen, Örtlichkeiten. Danach hätte er Zeit, sich mit der Historie zu befassen, um das Land und die Menschen besser zu verstehen. Mit der Geschichte des Meldorfer Domes etwa, dieser alten, weit über das flache Land blickenden Kirche, die er täglich auf dem Weg zur Zentralstation umrunden musste. Deren Renovierung nach vielen Jahren noch nicht abgeschlossen war, wie er bei einem ersten kurzen Blick in das Gotteshaus festgestellt hatte, die vielleicht auch nie beendet werden könnte. Mit den Eigentümlichkeiten der Dithmarscher Bauernrepublik, die in der Fehde von 1559 unterging, nachdem sie sich in der Schlacht bei Hemmingstedt im Jahre 1500 gegen ein mächtiges Heer verteidigen konnte und die im Selbstbewusstsein der Bewohner und im Sprachgebrauch weiterlebte, als hätte sie bis gestern bestanden. Mit dem Dithmarscher Landesmuseum, das einen tiefen Blick in die Vergangenheit des Gebietes bot, das sich selbst einst ein ‚Land‘ genannt hatte. Und um die jungen Frauen würde er sich kümmern. Sich vielleicht sogar eine Partnerin suchen. Sie waren anders als in der Heimat seiner Jugendjahre. Schlanker, blonder, so kamen sie ihm vor. Nordischer. Interessierter und aufgeschlossener, selbst wenn er in der Disco gerade keine Uniform, sondern gewöhnliche Alltagskleidung trug.

Jetzt nahm Brandes sich die Zeit, sich den Weg zum Alten Meldorfer Hafen auf dem Übersichtsplan zu suchen und einzuprägen. Den Weg, den der Streifenwagen nehmen würde. Die Strecke, die die Kriminalbeamten aus Heide zu fahren hätten.

Nähert man sich von Süden, von der Hafenstraße kommend, dem Alten Meldorfer Hafen, so führt die Straße ‚Unter dem Deiche‘ zunächst an wenigen Wohnhäusern entlang über einen Nebenarm der Miele, eines kleinen Flüsschens zur Entwässerung der flachen Landschaft, auf die Miele-Insel.

Einige Ort- und Straßennamen waren für Brandes auch nach den ersten wenigen Wochen seiner Tätigkeit in Meldorf noch verwirrend, aus verständlichen Gründen nicht nur für ihn, was vielleicht ein schon früher Zugereister, aber nie ein Einheimischer eingestanden hätte. Sie spotteten höchstens einmal über den Namen einer Straße in der weiter südlich gelegenen Stadt Brunsbüttel. ‚Wurtleutetweute‘.

Der Weg von der Stadt aus zu dem nahe gelegenen alten Hafen führt über die Landesstraße mit der Ordnungsnummer L 153 und dem Namen ‚Hafenchaussee‘. Sie erreicht aber nicht den Hafen, sondern wendet sich bereits frühzeitig ab nach Norden, auf Wöhrden zu. Auch die in der Kurve nach Süden abzweigende ‚Hafenstraße‘ umrundet lediglich das Hafengebiet in respektvollem Abstand, um nach Westen in das an die Nordsee angrenzende Naturschutzgebiet des Speicherkooges zu führen, zu dem dortigen kleinen Sportboothafen, dem jüngeren, aber heute eigentlichen ‚Meldorfer Hafen‘. Der ‚Alte Meldorfer Hafen‘, auch ‚Meldorferhafen‘ geschrieben und als Wohnplatz amtlich so bezeichnet, als fiele es dann leichter, ihn von dem jüngeren Bruder zu unterscheiden, der ‚Alte Meldorfer Hafen‘ hat dagegen als Hafen seit Jahrzehnten keinerlei Bedeutung mehr, noch nicht einmal eine für Sportboote taugliche Verbindung zum Meer. Hier gibt es ein paar Wohnhäuser, deren Besitzer gegen eine Minderung ihrer beschaulichen Ruhe durch Gewerbebetriebe kämpfen, durch wenige seit Jahren bereits ansässige Unternehmen und durch befürchtete neue Ansiedlungen. Einige Gewerbebetriebe nutzen noch immer die historischen rechtlichen Standortvorteile des Gebietes, ohne einen Hafen zu benötigen. Trotzdem sieht es am Hafenstrom mehr nach Verfall aus, nach einem ungeliebten Friedhof gewerblicher Träume. Ein verfallendes Dach hinter einer noch immer beeindruckenden Ziegel-Fassade eines seit Jahrzehnten nicht mehr benötigten Speichers. Eingeschlagene, nur notdürftig mit ausgebleichten Brettern verschlossene Fenster. Wie ein unbeabsichtigtes Symbol hat sich ein Abbruchunternehmen neben der früheren Papierfabrik niedergelassen, auf die wenige Jahre nach ihrer Schließung noch nicht einmal ein kleines, einsames Schild verweist, junge Birken in der aufgeplatzten Dachhaut.

Auch der Straßenname ‚Unter dem Deiche‘ war für Brandes zunächst unverständlich gewesen, weil sich die Straße nicht unter dem Deich, sondern daneben befindet. Genau genommen liegt sie hinter dem Deich, da die Vorderseite eines Deiches seiner Zweckbestimmung nach der See zugewendet ist. Aber die Straße heißt nicht ‚Neben …‘ oder ‚Hinter …‘ oder auch nur ‚An …‘ dem Deich. Nein, da ein Deich mit seiner geschätzten imposanten Höhe von etwa sieben oder vielleicht auch acht Metern die flache Marsch weithin dominiert, liegt alles Flachere ‚Unter …‘ ihm. Das hatte er bald verstanden.

Geht man auf dem anschließenden ‚Schleusenweg‘ entlang des Meldorfer Hafenstromes, darf man nicht an große Schleusen wie die des Nord-Ostsee-Kanals in dem wenige Kilometer südlich gelegenen und bereits erwähnten Brunsbüttel denken, die Seeschiffe auf den Weg quer durch das Land in die Ostsee oder zurück in die Elbe lassen. Schleusen sind in der Marsch zumeist unsichtbare Bauwerke, die dem Niederschlagswasser einen Weg durch den Deich in die Nordsee öffnen. Und so ist der Meldorfer Hafenstrom nur noch ein kurzer Abschnitt im Wasserlauf der Miele, die für die unverzichtbare Entwässerung der weiten, flachen Landschaft sorgt, und die der Straße ihren Namen gebende Schleuse dient nicht dem Schiffsverkehr, sondern der Regulierung des Wasserstandes im Binnenland.

Brandes‘ Augen folgten auf dem Stadtplan der Straße, der kurzen Fortsetzung des Schleusenweges, die hinter der Brücke über den Hafenstrom durch das Gebiet nach Norden verläuft. Sie endet nach zwei weiteren Namensänderungen an der bereits genannten, nach Norden führenden Landesstraße, hier unter der plattdeutschen Schreibweise ihres anfänglichen Namens ‚Ünnern Diek‘ und nicht wie ihre Fortsetzung in die entgegengesetzte Richtung nach Südwesten, die nach ihrer rechtzeitigen Übersetzung ins Hochdeutsche ‚Unterm Deich‘ heißt. Sie hatten auf der Polizeischule lange darüber gesprochen, über die Notwendigkeit einer präzisen Ansprache des Einsatzortes. Brandes hatte es verstanden, erinnerte sich jetzt an ihre Wichtigkeit, er nickte bestätigend mit dem Kopf.

Kriminalhauptkommissar Hans Jensen hatte es da leichter. Als die Meldung in seinem Büro in der Kriminalpolizeistelle Heide in dem großen Ziegelsteingebäude am Heider Marktplatz einging, hatte er eine genaue Vorstellung von der Örtlichkeit. Jensen war in Hemmingstedt aufgewachsen, etwa auf halber Strecke zwischen Heide und Meldorf. Sein Vater arbeitet dort als Anlagenfahrer in der Erdölraffinerie, noch wenige Jahre, er zählt sie bereits, bis er ‚in Rente‘ gehen wird. Seine Mutter arbeitete schon damals als Erzieherin im Kindergarten. Er erinnerte sich, in seinen Jugendjahren mit Freunden im Hafenstrom gebadet zu haben, geschwommen zu sein. Der Weg zur Küste, zum Strand war ihnen oft zu weit und die Gelegenheit im Hafenstrom war origineller. Die neue Schleuse staute im trockenen Sommer den Wasserstand in dem kleinen Fluss auf, um den landwirtschaftlich genutzten Flächen genug Feuchtigkeit zu lassen, und niemand von ihnen fragte nach der Qualität und Sauberkeit des Wassers. Er sah in Gedanken die Brücke, den Wasserlauf, die zum Teil bereits verfallenden Gebäude auf seinen Ufern. Er sah die sich balgenden Freunde und hörte ihre Freudenschreie, wenn einer von ihnen ungewollt ins Wasser musste.

Der Wachhabende hatte die Mitteilung der Polizeizentralstation Meldorf aufgenommen: Alter Meldorfer Hafen, Leichenfund an der Brücke über den Hafenstrom, Meldung neun Uhr fünfzehn. „Gibt es Anzeichen von Einwirkung fremder Gewalt?“, hatte er gefragt. „Bisher keine Erkenntnisse“, lautete die Antwort, „ein Streifenwagen ist unterwegs, sieht wohl eher nach einer Selbsttötung aus.“ Also musste einer von ihnen raus. Anderenfalls wäre es ein Fall für die Mordkommission in Itzehoe gewesen.

Als Polizeioberrat Stoldt, der Leiter der Polizeistelle Heide, den Fall einem Mitarbeiter zuteilen wollte, scherzten die Kollegen: „Lassen Sie das den Jensen machen. Der gibt doch wieder erst Ruhe, wenn er einen zur Leiche passenden Mörder gefunden hat.“ Sie erinnerten sich alle noch zu gut an den Tod von Deichbaumeister Peters vor zwei Jahren, den alle für einen Unfall gehalten hatten, bis Jensen einen Mörder präsentieren konnte. Stoldt mochte diese Scherze unter den Mitarbeitern nicht, sah aber, dass auf diese Art Vorbehalte unter den Kollegen abgebaut werden konnten. Und Jensen blieb, wenn er solche Bemerkungen hörte, gelassen, unterdrückte aufkommenden Unwillen. Sah eher die Anerkennung in den Äußerungen, die ihn ein wenig stolz machte und seinen Eifer anregte.

Hans Jensen war 36 Jahre alt. Er war ernsthaft und ehrgeizig und wegen seiner Ermittlungserfolge vorzeitig zum Hauptkommissar ernannt worden. Das machte ihn zwar nicht beliebt, hinter seinem Rücken nannten sie ihn abwertend „den Streber“, aber sie hatten sich auf kollegialer Ebene miteinander arrangiert. Vielleicht würde er ja nicht mehr lange in der Kriminalpolizeistelle Heide bleiben, sagten sie sich. Es war ein offenes Geheimnis, dass er auf andere Aufgaben hoffte, am liebsten als Lehrer an der Polizeifachhochschule. Jensen und seine langjährige Freundin, Bärbel Braack aus Büsum, zwei Jahre jünger als er, hatten im Frühjahr geheiratet. Sie waren vor knapp drei Jahren zusammengezogen, hatten ein paar Monate miteinander gelebt und sich vor zwei Jahren ein Haus gekauft.

Bärbel war schwanger, im 6. Monat, und Hans begann, in der Vorfreude auf das Kind seine beruflichen Träume infrage zu stellen. Ein beruflicher Aufstieg, so sagte er sich, würde ihm mehr Verantwortung bringen, die seine Freizeit noch weiter einschränken würde. Wäre sogar trotz des eigenen Hauses ein Wohnortwechsel notwendig? Könnte er das seiner Frau, ihrem Arbeitsplatz und der Nähe zu ihren Eltern in Büsum zumuten? Wollte er das überhaupt noch für sich selbst? Jetzt, wenn sich das Haus und der Garten mit immer mehr Leben füllen würden? Aber die Leitung in Heide, wenn Stoldt einmal ginge, …

In seiner seltenen Freizeit sah man ihn auf den Feldwegen im Umland der Stadt laufen. Er musste sich fit halten, aber das Training in festgelegten Sparten und Gruppen wie im Sportverein oder die unausweichlichen Schaustellungen im Fitnessstudio lagen ihm in den letzten Jahren nicht mehr. Andere, ehemals bevorzugte Sportarten, Handball, Bogenschießen, musste er aus Zeitmangel aufgeben. Der unregelmäßige Dienst zwang ihn oft zu unregelmäßigem Essen, zu einem Stück Pizza, zu Currywurst und Pommes frites oder auch nur zu einer Tafel Schokolade, und zum Ausgleich lief er lieber als über Mäßigung und Verzicht nachzudenken. Oft waren es ungewöhnliche Tageszeiten, wenn man ihn traf, in der morgendlichen Kühle im ersten Licht kurz vor Sonnenaufgang oder spätabends mit heller Stirnlampe.

Hans Jensen kleidete sich ohne modische Eitelkeiten salopp und leger. Vor wenigen Jahren hatte er es mit einem Kinnbart versucht, weil die Meinung aufkam, Bart zu tragen sei männlich und cool. Als dessen Farbe sich aber mit seiner zunehmenden Länge stark ins Rötliche verschob, entschloss Jensen sich, das Experiment zu beenden und sich wieder täglich gründlich zu rasieren.

Am Alten Meldorfer Hafen also. Jensen schloss die Bürotür hinter sich. Die Spurensicherung war bereits abgefahren, der Polizeiarzt würde in Kürze folgen, wenn er abkömmlich wäre. Dr. Hufner arbeitete hauptberuflich am Westküstenklinikum in Heide und musste, wenn ein Notruf der Polizei ihn anforderte, sich dort zunächst einen Vertreter für seine jeweilige Tätigkeit suchen. Hans Jensen machte sich auf den Weg. Sein Magen meldete sich mit Hungergefühl. Aber die Tatortaufnahme würde ihm keine Zeit für das Mittagessen lassen. Er fuhr zu dem Schnellimbiss auf der gegenüberliegenden Marktseite. Eine Currywurst mit Pommes frites vor der Zeit würde ihm über den Hunger hinweghelfen. Den Toten würde die kurze Verzögerung nicht mehr stören.

3.

Der Tote

HAUPTKOMMISSAR HANS JENSEN wunderte sich nicht, dass der Tote nicht früher, vielleicht schon kurz nach Tagesanbruch, entdeckt worden war.

Der Schleusenweg wird mit einer Brücke, der früheren Schleuse, über den Hafenstrom nach Norden geführt. Östlich der Brücke, also stromaufwärts in Richtung der Stadt gesehen, verbarg ein geschlossener Bewuchs die Ufer der Miele. Niedrige Bäume und Sträucher trugen dichtes Laub, noch nicht vom Herbst gelichtet. Es wäre nicht möglich gewesen, die Brücke einzusehen, selbst wenn sich jemand auf den Grundstücken rechts oder links auf den Ufern des Wasserlaufes aufgehalten hätte.

Auf dem Brückenkörper befanden sich betonierte Bauteile. Es waren die Überreste aus der Zeit, als das Bauwerk zur vorderen Deichlinie gehörte. Mit zwei nicht mehr vorhandenen Schotten, großen Toren, die vormals hinabgelassen werden konnten, wurde der Lauf des Wassers unterbrochen, der Strom des kleinen Flusses aus dem Binnenland hinaus in die See oder der Stau des aus der oft hochgehenden See ins Land eindringenden Wassers. Zur Schonung der Schleuse wurde Treibgut von dem Gewässer gesammelt. Einzelne Pfeiler ragten über den Gehweg in die Höhe und trugen eine Krone für die notwendig gewesene Mechanik. Der Aufbau war ungepflegt, weil er nicht mehr benötigt wurde, der Zahn der Zeit hatte mit Sonne, Regen, Wind und Frost begonnen, das dauerhafte Material anzunagen.

Um einen der Pfeiler war in Hüfthöhe ein Seil geknotet. Ein weniger als einen Zentimeter dickes Seil aus weißen, in sich verdrillten Kunststofffasern. Es spannte sich schräg abwärts über den schmalen Gehweg, durchlief das unansehnlich gewordene stählerne Schutzgitter am äußeren Rand und verschwand zwischen dem steinernen Brückenkörper und einer Kunststoffleitung in der Tiefe. Ein Streifenwagen stand quer auf der Straße, die im Bereich der Brücke ohnehin ständig für Kraftfahrzeuge und jetzt mit rotweißem Flatterband auch für andere Verkehrsteilnehmer auf beiden Seiten abgesperrt war. Das übliche Verkehrsaufkommen war weniger als dürftig. Fahrzeuge, die von Norden kommend zu einem der wenigen Häuser auf der Miele-Insel wollten, mussten wegen der Baufälligkeit der Brücke ohnehin bereits seit Jahren die südliche Zufahrt über die Hafenstraße benutzen. Es hatten sich noch keine Schaulustigen eingefunden.

Hans Jensen war von Norden kommend den kürzeren Weg nutzend an die Miele-Brücke herangefahren. Er wusste, dass dort auch mehr Platz zum Parken der Einsatzfahrzeuge vorhanden war.

Er strahlte eine natürliche Dominanz aus, die auch seine Frau Bärbel zu Beginn ihrer Bekanntschaft für ihn eingenommen hatte. War es seine physische, seine körperliche Präsenz? Jensen war hundertzweiundachtzig Zentimeter groß und behauptete, sein Gewicht liege immer noch etwa bei fünfundachtzig Kilogramm. Von früherer sportlicher Aktivität hatte er einen kräftigen, muskulösen Körper, wenn auch die für Sport immer knapper werdende Zeit zu einem ersten, noch unauffällig kleinen Bauchansatz geführt hatte. Er hatte einen schmalen Kopf und ein markantes Gesicht. Gerade blasse Augenbrauen, die seinen graugrünen Augen den Anschein von Strenge gaben. Krause blonde Haare, die er ohne Scheitel und kurz geschnitten über einer hohen Stirn trug. Der Mund mit schmalen und leicht geschwungenen Lippen, die seinem Gesicht oft einen heiteren, gelegentlich einen grimmigen Ausdruck verliehen, was aber wohl nur an der Stimmung des Betrachters lag. War es seine psychische Kraft, seine Selbstsicherheit, die ihm seine beruflichen Erfolge und seine ständige nebenberufliche Fortbildung gaben? Seine Kollegen hielten ihn für einen von sich selbst überzeugten Streber, der dickköpfig und ungeduldig seinen Weg ging. Aber seine Ermittlungserfolge, zuletzt nach dem Tod des Deichbaumeisters Peters vor zwei Jahren, erkannten sie neidvoll an. Und Bärbel nannte ihn gelegentlich einen Macho und Egoisten.

Hauptkommissar Jensen stieg über die Absperrung und begrüßte die beiden Polizisten der Meldorfer Wache, die den Brückenbereich abgesichert hatten. Sie standen in der Mitte auf der Fahrbahn, als müssten sie demonstrieren, dass sie alles im Blick hatten. Sie kannten sich, so wie man sich im Revier kennt, weil man sich häufig bei gemeinsamen Einsätzen trifft. „Wo ist der Tote?“, fragte er sie und sie wiesen auf das verknotete Seil an der Flanke der Brücke. Er beugte sich über das Brückengeländer und schaute hinab.

Durch das trockene Wetter der letzten Tage war der Wasserspiegel des kleinen Flusses weit abgesunken. Unmittelbar unter dem Bauwerk sah er den kurzhaarigen Kopf eines unbeweglichen Körpers. Dessen Beine verschwanden unterhalb der Knie im Wasser, das sie mit leichtem Kräuseln umfloss. ‚Keine körperlichen Reaktionen‘, dachte er und richtete sich auf, bemüht, das Seil nicht zu berühren. „Ruft die Feuerwehr her“, bat er die Kollegen aus der Meldorfer Wache. „Wir brauchen ein Boot. Spurensicherung, Bergung des Körpers. Wir können ihn nicht einfach so hochziehen.“

Dann ging er die wenigen Schritte zu Klaus Hosse, dem Leiter der Spurensicherung, der mit seinen beiden Mitarbeitern am südlichen Brückenende stand, wo sie sich berieten, wie sie zur Bergung der Leiche vorgehen könnten. „Moin, Leute“, begrüßte er sie. „So wird das Wochenende nicht langweilig. Ich lasse die Feuerwehr mit einem Boot kommen. Dann kommen wir besser ran.“ Hosse und er kannten sich seit Jahren von vielen gemeinsamen Einsätzen. Jensen schätzte dessen Umgänglichkeit und Zuverlässigkeit. Hosse war der Einzige in der Kriminalpolizeistelle Heide, mit dem ihn ein fast freundschaftliches Verhältnis verband. Waren sie alleine, duzten sie sich. In Anwesenheit anderer Kollegen benutzten sie in stiller Übereinkunft zumeist ihre Familiennamen.

Oberkommissar Klaus Hosse trug eine schwarze Jeans mit aufgesetzten Faltentaschen, ein schwarzes Shirt und ein dunkelbraunes Lederblouson. Seine langen dunklen Haare waren nicht nur von dem schwachen morgendlichen Wind, sondern mehr noch von der Gewohnheit und der Eile zerzaust. Er war zweiundvierzig Jahre alt, schlanker und kleiner als Jensen, um einsfünfundsiebzig, und bewegte sich mit vorsichtigen Gesten und Schritten, so als fürchte er sich davor, Spuren versehentlich zu verwischen. Hosse hatte sich frühzeitig für die Spurensicherung entschieden. Er studierte neue Methoden und stand in engem Kontakt zum Gerichtsmedizinischen Institut in Kiel. Es war sein Ehrgeiz, Spuren zu finden und zu lesen. Jensen nannte ihn ‚den Indianer‘, manchmal, aber zumeist nur in seinen Gedanken.

„Moin moin, Jensen“, erwiderte Hosse den in der Region zu jeder Tageszeit üblichen Gruß. „Das ist kein gutes Zeichen, wenn Sie kommen. Aber Scherz beiseite. Sie haben natürlich Recht. Die Kameraden von der Feuerwehr können dann auch einen Weg zum Wasser hinunter frei schneiden. Ich denke: wenig Arbeit für den Doc. Wir sehen uns inzwischen das Brückengeländer und den oberen Teil des Seiles an.“

Jensen ging zurück zu den Polizisten: „Wer hat den Toten denn entdeckt?“

Sie wiesen einladend auf den Streifenwagen: „Ein junger Mann. Kajakfahrer. Sitzt da drin. Der hat einen gewaltigen Schreck bekommen!“

Auf der Rückbank des VW T 4 saß ein junger Mann, der sein Unwohlsein nicht verbergen konnte. Jensen schätzte ihn mit einem schnellen Blick auf Mitte zwanzig. Er trug eine enge Hose, die kurz unter den Knien endete, ein weites T-Shirt mit dem verwaschenen Aufdruck einer Flusslandschaft und Sandalen. Seine kurzen, rotblonden Haare waren wie vom Wind zerzaust, das Gesicht war leicht gerötet, was Jensen der Aufregung zuschrieb. Seine Augen waren unruhig, sein Blick ging nur für Sekunden nach draußen, als fürchte er sich noch vor dem Anblick, der sich in seine Erinnerung gegraben hatte. Die Hände wanderten unablässig von der Tischplatte in seinen Schoß und wieder zurück. Er schien nichts bei sich zu haben, mit dem er sich zur Ablenkung hätte beschäftigen können.

Jensen setzte sich auf die gegenüberliegende Bank. „Ich bin Hauptkommissar Hans Jensen“, stellte er sich vor. „Und wie heißen Sie?“

„Rolf. Eeh, ich meine Rolf Laubacher.“

„Gut. Herr Laubacher. Ihre Personalien nehmen die Kollegen noch für das Protokoll auf. Kann ich Ihnen schon ein paar Fragen stellen?“

„Schlimmer kann es ja nicht mehr kommen“, antwortete der Gefragte. „Was wollen Sie denn wissen?“

„Wie haben Sie die Leiche entdeckt?“

„Ich kam von Meldorf mit dem Kajak die Miele herunter. Niedriges Wasser, ruhige Luft. Am Ufer ist alles zugewachsen, ganz idyllisch, die Strecke hier. Hab an nichts Böses gedacht. Plötzlich hing er vor mir. Hab ihn nicht früh genug gesehen. Bin fast dagegen gefahren. Das war vielleicht makaber!“ Er schwieg wieder, schüttelte die Schultern, als versuche er, so die Erinnerung abzuschütteln.

„Sind Sie oft mit dem Kajak unterwegs?“

„Wo? Hier auf der Miele? Klar. Andere joggen oder rennen im Stadion im Kreis herum. Ich fahre raus, bis zum Sperrwerk und wieder zurück, wenn die neue Schleuse weit genug geöffnet ist. Mein Boot ist ja ganz flach. Aber manchmal komme ich nicht unter den Schotten durch. Ist wie joggen auf dem Wasser.“

„Und wie oft fahren Sie hier? Wann war es das letzte Mal?“

„Na, gestern. Ich fahre hier jeden Tag. Immer mal raus und wieder rein. War gestern nur etwas später, so um Mittag.“

‚Das hört sich nicht nach Schulbesuch oder regelmäßiger Arbeit an‘, dachte Jensen und fragte sich, ob er ihn als Lebenskünstler beneiden oder als Arbeitslosen bedauern solle? „Sie sind ja der Einzige, der bisher die Leiche gesehen hat“, stellte er fest. „Sie sagten ‚ER hing vor mir‘, ‚ich habe IHN nicht gesehen‘. Ist es ein Mann?“

Der Gefragte nickte wortlos mit dem Kopf.

„Ist Ihnen etwas anderes aufgefallen, etwas Ungewöhnliches? An dem Körper? Auf oder im Wasser? Am Ufer?“

„Neeneee“, wehrte der junge Mann heftig ab, als empfinde er die Frage als Zumutung. „Ich habe ja schon gesagt: Ich bin fast dagegen gefahren. Ich musste mich anstrengen, um an ihm vorbei zu kommen. Da wollte ich nicht noch mehr sehen. Ich hatte noch Fahrt drauf, bin unter der Brücke durch und dann an Land. Da liegt mein Boot jetzt noch.“

Jensen hörte das Martinshorn des sich nähernden Feuerwehrfahrzeuges. „Danke für Ihre Antworten“, beendete er das Gespräch. „Halten Sie sich bitte weiterhin für die Polizei bereit. Da gibt es noch ein paar Fragen.“

„Und wann kann ich wegfahren?“, fragte der Zeuge. „Ich muss doch zur Arbeit. Ich bin bei der Lebenshilfe. Da unterrichte ich ab vierzehn Uhr.“ Die Lebenshilfe kümmert sich in der Astrid-Lindgren-Schule um geistig behinderte Kinder.

Jensen räumte in Gedanken anerkennend für sich ein, dass er den Mann falsch eingeschätzt hatte. „Ich sage es den Kollegen. Das kriegen wir hin.“

Die Feuerwehr hielt vor der nördlichen Absperrung. Sechs Feuerwehrleute sprangen aus dem Gerätewagen, in Helm und voller Schutzkleidung. Auf dem Anhänger befand sich ein einsatzbereites Schlauchboot. Jensen kannte Löschmeister Hauke Hansen, den Gruppenführer, aus früheren Einsätzen und ging auf ihn zu. „Moin, Hansen. Schön, dass du mit deinen Männern so schnell kommen konntest.“

Hansen zog den dicken ledernen Sicherheitshandschuh aus und sie begrüßten sich wie Freunde mit Handschlag. „Naja“, sagte Hansen, „ist meistens nicht schön, wenn wir uns im Einsatz treffen. Aber es ist nun mal so. Übrigens sind zwei meiner Leute Frauen.“

Jensen sah Hansen kurz in die Augen, quittierte die Richtigstellung mit einem anerkennenden Kopfnicken. Er wusste, dass die freiwilligen Feuerwehren Frauen als Einsatzkräfte benötigten, weil sie häufiger tagsüber im Ort anwesend und dadurch eher einsatzbereit waren als die Männer, die ihrer Arbeit oft außerhalb nachgehen mussten. Außerdem hatte man sie inzwischen als vollwertige Kräfte schätzen gelernt. Sogar die Feuerwehr in Heide war als eine der Letzten im Kreis dazu übergegangen, weibliche Feuerwehrleute auszubilden.

Sie gingen zum Brückengeländer. „Da hängt jemand“, erklärte Jensen die Lage. „Schneidet mir einen Streifen das Ufer hinunter vom Bewuchs frei. Und dann brauchen wir auf dem Wasser einen festen Stand, um den Toten zu bergen. Du verstehst das: Die Leute von der Spurensicherung müssen zuerst ran.“

Hansen quittierte die Anweisungen mit einer militärisch anmutenden Grußbewegung und setzte seine Leute ein.

Nach nur wenigen Minuten war das Boot auf den kleinen Fluss hinabgelassen und gegen die schwachen Bewegungen des Wassers fest vertäut. Es war mit dem Ufer durch Leitern verbunden, auf die die Feuerwehr stabile Holzplanken gelegt hatte. Jensen und Hosse gingen als erste gemeinsam hinab, vorsichtig, um die Tragfähigkeit der Plattform zu testen, und um einen ersten Blick auf das zu bergende Opfer zu werfen.

Sie waren noch mit ihrem ersten Eindruck beschäftigt, als sich Löschmeister Hansen von der Brücke herab meldete. Er hatte in seiner Gruppe mit verhaltenen Stimmen diskutiert, wollte deren Erkenntnis aber nicht länger zurückhalten. „Herr Jensen!“, rief er hinab. „Meine Leute kennen den Mann!“

4.

Bergung

KRIMINALHAUPTKOMMISSAR HANS JENSEN und Oberkommissar Klaus Hosse, der Leiter der Spurensicherung, waren Vieles gewohnt. Sie hielten sich inzwischen für mehr oder weniger abgebrüht und halfen sich gegenseitig notfalls mit einer unernsten Bemerkung über eine schwierige Situation hinweg. Sie hatten hier in den Städten und Dörfern auf dem Lande zwar zumeist weniger dramatische Ereignisse aufzunehmen als die Kollegen in den Brennpunkten kriminellen Handelns, gewerblicher Tätigkeiten oder des hektischen Verkehrs in den Großstädten. Aber sie waren stets die Ersten, die einen Tatort besichtigten, untersuchten, im Detail ansehen und auswerten mussten. Sie waren die Ersten, die ein Ereignis emotional verkraften und sachlich kühl und objektiv einordnen mussten. Dies hier schien ihnen einer der leichteren, sauberen Fälle zu sein. Wenn auch der friedliche Anschein des Fundes nicht die Tragik des vorausgegangenen Ereignisses, was immer sich auch in den Ermittlungen ergeben sollte, zu verdrängen vermochte.

An dem Seil hing die Leiche eines Mannes. Der Kopf war vornüber gebeugt, auch weil keine Muskelkraft ihn mehr halten konnte, aber besonders, darauf wies Hosse hin, durch den Verlauf des Seiles bedingt. Der Knoten der Schlinge befand sich genau im Nacken. Dadurch hatte der Anblick des gesenkten Kopfes etwas von Bedauern oder Schuldbewusstsein. Die Haare, von der Luftfeuchtigkeit der Nacht gedunkelt, klebten auf der hohen Stirn. Das weiße Seil hatte sich zwar in die Weichteile des Halses eingeschnürt, die Haut aber nicht verfärbt oder beschädigt, wie es geschehen wäre, wenn der Körper von der Brücke aus in das Seil gestürzt worden wäre. Mund und Augen waren geschlossen, das Gesicht wirkte geradezu friedlich. Es schien ein sanfter Tod gewesen zu sein, ohne den Schrecken eines vergeblichen Kampfes. Der Körper war mit einem Anzug mit Jackett und offenem Hemd bekleidet. Die Beine ragten von den Knien an in das Wasser, Nässe war in der Kleidung weit aufgestiegen. Das Ungewöhnlichste war die Haltung der Hände. Beide Hände steckten in den Hosentaschen, die Unterarme waren auf der Höhe der Hüften mit einem breiten Klebeband fixiert.

Sie schwiegen eine Weile, in den ungewöhnlichen Anblick und erste Schlussfolgerungen versunken. „Was ist hier denn geschehen?“, entfuhr es schließlich Jensen. „Hast du schon einmal eine solche Inszenierung gesehen?“ Ihm war sofort klar, dass es sich nicht um einen Selbstmord handeln konnte, zu dessen Aufarbeitung sie gerufen worden waren.

Das Boot unter ihnen schwankte leicht, als Klaus Hosse sich zur Seite bewegte, um die Leiche genauer in Augenschein zu nehmen. „Das war eine Hinrichtung, Hans“, stellte er schließlich fest. „Und sieh dir das Seil am Hals an. Der Tod ist nicht hier durch das Seil verursacht worden. Den Mann hat man umgebracht und anschließend hier aufgehängt. Interessanter Fall. Das gibt viel Arbeit für die Kollegen aus Itzehoe.“

Das war auch Jensens zweiter Gedanke. Einwirkung fremder Gewalt. Ein Mord. Ein Fall für die Mordkommission der Bezirkskriminalinspektion Itzehoe. Jensen sah sich kurz um. „Uns hört ja niemand zu, Klaus. Das waren Profis. Ihn danach hier aufzuhängen. Dass er die Arme fixiert und die Hände in den Hosentaschen hat, das hat seine Bedeutung. Wenn du meinen ersten Eindruck hören willst: Das sieht nach Mafia aus. Und das hier bei uns.“

Löschmeister Hansen sah über das Brückengeländer zu ihnen herab. „Herr Jensen!“, rief er. „Meine Leute kennen den Mann!“

Jensen gab mit einem Handzeichen zu erkennen, dass er die Mitteilung verstanden hatte. „Wir bergen ihn zunächst einmal.“

Klaus Hosse ließ zu jeder Seite des Toten eine Leiter in den kleinen Fluss stellen und an das Bauwerk anlehnen. Mit Hilfe der Feuerwehrleute und ihres Bergegeschirrs hoben sie den leblosen Körper an und betteten ihn auf der Brücke auf einer Bahre. Aus den Hosentaschen rollten dabei mehrere faustgroße Steine, von der Natur rundgeschliffen und noch mit Kleierde beschmutzt, als seien sie zu diesem Zweck auf einem Acker aufgesammelt worden.

Dr. Hufner, ein mit den Aufgaben des Polizeiarztes beauftragte Chirurg des Westküstenklinikums in Heide, war inzwischen eingetroffen. Auch für ihn war der vorgefundene Sachverhalt ungewöhnlich, was ihn aber nicht daran hinderte, mit seiner unangenehmen Arbeit zu beginnen. Nach wenigen Griffen hörte Jensen ihn wie für ein inneres Protokoll murmeln: „Noch jung. Vielleicht dreißig. Und schon tot. Zweifelsfrei tot. Keine Vitalfunktionen, Reanimation nicht erfolgversprechend.“ Er ergriff ein Bein, versuchte, das Gelenk zu bewegen. „Hmm. Totenstarre. Lässt sich noch brechen. Niedrige Umgebungstemperatur. Todeszeitpunkt wohl etwa minus fünfzehn Stunden.“ Er sah auf seine Armbanduhr. „Müsste gestern Abend geschehen sein. Zwischen Acht und Null.“ Er zog seine Handschuhe aus und griff nach seinem Koffer mit dem medizinischen Besteck. „Mehr kann ich hier nicht tun. Ich nehme ihn mit nach Heide.“ Er wandte sich an Klaus Hosse. „Einverstanden? Ist ja für die Spurensicherung sicher hoch interessant, der Fall. Habe ich noch nie gesehen, so hergerichtet. Treffen wir uns in einer Stunde im Sezierraum. Ich lege Ihnen den Körper frei, und Sie können sich dort um die Spuren kümmern.“