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Dieses Buch erscheint anlässlich der Uraufführung des Stücks „Neunzehnachtzehn“ durch das Theater Kiel. Es erscheint zugleich als Band 61 der Sonderveröffentlichungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, herausgegeben von Jürgen Jensen.

image Umschlag: Unter Verwendung einer Luftaufnahme, die den Kieler Hafen am 3. August 1918 zeigt.

image Obere Abbildungen vorne: Landnahme: Matrosen marschieren durch die Stadt und verleihen ihren Forderungen Nachdruck.

image Untere Abbildung vorne: Gustav Noske spricht am 29. November 1918 in Kiel zu den Besatzungen der heimgekehrten U-Boote.

www.buecher-von-boyens.de

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image Abb. 1 Titelblatt mit der Zeichnung „November 1918“ von Wilhelm Schulz in der satirischen Wochenzeitung: Die Kronen der deutschen Monarchen werden von einer Welle davongespült: Ausgangspunkt der deutschen Revolution 1918 war Kiel.

VORWORT

 

Die deutsche Revolution von 1918 galt lange als ein höchst umstrittenes Ereignis: Für die einen waren die Revolutionäre „Novemberverbrecher“. Führende Vertreter der Obersten Heeresleitung setzen die Verschwörungstheorie einer „Dolchstoßlegende“ in die Welt: Die aufständischen Matrosen wären dem an den Fronten kämpfenden Heer in den Rücken gefallen. In Wahrheit aber war der Erste Weltkrieg – ein Angriffskrieg Deutschlands – längst verloren. Fortschrittliche Stimmen hingegen wie der Chefredakteur des Berliner Tageblatts, Theodor Wolff, feierten die Novembertage des Jahres 1918 als „die größte aller Revolutionen“. Und auch für aufgeklärte Konservative wie Sebastian Haffner war die Revolution „nach vier Jahren Hunger und Ausblutung – eine Ruhmestat. Ein Schandfleck ist der Verrat, der an ihr verübt wurde.“

Die Dolchstoßlegende kann heute als das angesehen werden, was ihr Name sagt: als Legende, als eine üble dazu. Was hingegen bleibt, ist die Erkenntnis, dass die Weichenstellung für das Ende der Monarchie und für den Anfang der parlamentarischen Demokratie in Deutschland von Schleswig-Holstein ausging. Die Kieler Novembertage sind ein Schlüsselereignis deutscher Geschichte.

Diesen Meilenstein auf dem Weg zur Demokratie in Deutschland wollen wir in Erinnerung rufen. Dazu gehen wir zwei unterschiedliche, sich ergänzende Wege: In einem Revolutionstagebuch werden die zeitgeschichtlichen Ereignisse jener dramatischen Tage vom Einlaufen der Schiffe des III. Geschwaders in die Kieler Förde bis zum Ende der Monarchie in Deutschland rekonstruiert. Ein Theaterstück vergegenwärtigt Geschichte mit literarischen Mitteln und wird zugleich zur Parabel über Macht und Ideale.

Wir sind dankbar dafür, dass wir für unser Vorhaben Unterstützung erfahren haben: durch das Theater Kiel und seinen Generalintendanten Daniel Karasek, durch die Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte und durch den Boyens Buchverlag. Neben einer Vielzahl von Quellen und Literatur war uns die nach wie vor maßgebliche Untersuchung „Revolution in Kiel“ von Dirk Dähnhardt eine wichtige Arbeitsgrundlage.

Robert Habeck/Frank Trende

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image Abb. 2 Die Fackel der Freiheit leuchtet in Norddeutschland: Kieler Akteure erinnern sich.

Frank Trende

ZEHN TAGE IM NOVEMBER 1918

Ein Kieler Revolutionstagebuch

 

Der 9. November 1918 bedeutet das Ende der Monarchie in Deutschland. Kaiser Wilhelm II. dankte ab, Philipp Scheidemann rief in Berlin die Deutsche Republik aus. Die revolutionäre Welle, die das Deutsche Reich erfasste, hatte ihren Ausgangspunkt in Kiel. Was war geschehen?

Freitag, 1. November 1918

In der Nacht zum 1. November passiert das III. Geschwader der kaiserlichen Hochseeflotte die Holtenauer Schleusen des Kaiser-Wilhelm-Kanals. Der Flottenverband mit den Schiffen „König“, „Bayern“, „Großer Kurfürst“, „Kronprinz“ und „Markgraf“ und mit über 5 000 Mann Besatzung kommt aus Wilhelmshaven und soll in der Kieler Förde vor Anker gehen. In Wilhelmshaven sollte er nicht mehr bleiben, denn auf den Schiffen, die dort auf Schillig-Reede vor Anker lagen, verbreitete sich Ende Oktober ein brisantes Gerücht. Die Flottenführung, allen voran der Chef der Admiralität Reinhard Scheer, plane eigenmächtig, die Seeverbände in einem sinnlosen Abenteuer zu opfern. Und tatsächlich: Während die Reichsregierung unter dem kaiserlichen Reichskanzler Prinz Max von Baden – er ist seit dem 3. Oktober 1918 im Amt, hat eine parlamentarische Regierung gebildet; zu Ministern, sie werden „Staatssekretäre“ genannt, beruft er unter anderem den SPD-Spitzenpolitiker Philipp Scheidemann - einen Waffenstillstand mit der Entente verhandelt, sucht die Oberste Seekriegsleitung eine letzte große Schlacht gegen England. Dieser Plan geht auf Konteradmiral Adolf von Trotha zurück, Chef des Stabes bei der Hochseeflotte. Von Trotha meint: „Aus einem ehrenvollen Kampf der Flotte, auch wenn er ein Todeskampf wird in diesem Kriege, wird – wenn unser Volk nicht überhaupt national versagt – eine neue deutsche Zukunftsflotte hervorwachsen; einer durch schmachvollen Frieden gefesselten Flotte ist die Zukunft gebrochen.“ Das bringt in vielen Offizieren innerhalb der Seekriegsleitung eine Saite zum Klingen: Sie stimmen zu – um der Ehre willen. Tatsächlich aber ist die Lage aussichtslos, ist der Erste Weltkrieg für das Deutsche Reich nicht mehr zu gewinnen.

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image Abb. 3 Läuft in der Nacht zum 1. November 1918 mit weiteren Schiffen des III. Geschwaders in Kiel ein: SMS Großer Kurfürst.

Trotz größter Geheimhaltungsvorschriften bekommen die Matrosen Wind von diesem Himmelfahrtskommando. In der Nacht vom 29. Auf den 30. Oktober kommt es zu ersten Meutereien, jetzt muss der Plan zur letzten Seekriegsoffensive aufgegeben werden. Die Matrosen folgen den Befehlen nicht mehr. Schon im August 1917 hatte es Meutereien auf Schiffen der Hochseeflotte vor Wilhelmshaven gegeben, die Heizer Max Reichpietsch und Alwin Köbis galten als Aufrührer, sie wurden zum Tode verurteilt, Admiral Reinhard Scheer bestätigte die Richtsprüche und beide wurden erschossen. Jetzt ist die Unruhe auf der „Thüringen“ und der „Helgoland“ am größten, mehrere hundert Matrosen werden festgenommen. Bislang gibt es Meutereien nur auf Schiffen des I. und III. Geschwaders. Die Flottenleitung entschließt sich, die Verbände zu trennen. Der Chef des III. Geschwaders, Vizeadmiral Hugo Kraft, schlägt vor, mit seinen Schiffen nach Kiel zu dampfen: Die Matrosen seien schon zu lange nicht mehr in ihrem Heimathafen gewesen und die „König“ müsse sowieso auf die Werft. Der Flottenchef stimmt zu, und der Verband setzt sich in Bewegung. Zuerst gibt es noch Übungen in der Helgoländer Bucht, dabei klappt alles tadellos. Nun nimmt das III. Geschwader Kurs auf Kiel und fährt am 31. Oktober in die Elbmündung. Von Brunsbüttelkoog geht es durch den Kaiser-Wilhelm-Kanal. Auf diesem Abschnitt der Reise lässt Kraft 47 Matrosen von der „Markgraf“ als vermeintliche Wortführer der Wilhelmshavener Meuterei festnehmen. Von Holtenau aus werden sie auf zwei Arrestanstalten aufgeteilt, ein Teil der Inhaftierten kommt ins Fort Herwarth bei Schilksee, ein weiterer Teil in das Arrestgebäude in der Kieler Feldstraße.

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image Abb. 4 August 1918: Auf der Kieler Förde liegen die Stahlkolosse der Kaiserlichen Marine …

Kiels Geburtsstunde als Großstadt hatte 1865 geschlagen, als die Preußen ihre Marinestation von Danzig hierher verlegten. Mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 wurde die Stadt Reichskriegshafen und wandelte sich auch optisch zur Militärmetropole: mit Marinegebäuden, einer Marineakademie, Forts auf beiden Seiten der Förde, Schießständen und Exerzierplätzen, einem Arsenal und einem Torpedohafen. Als 1881 der französische Schriftsteller Jules Verne und sein Bruder Paul mit eigener Dampfyacht in die Kieler Förde kam, fiel ihnen das Militärische besonders ins Auge. Paul Verne schrieb in seinem Reisebericht: „Wir brauchen wohl nicht besonders zu bemerken, dass der Kieler Busen sorgsam und zweckmäßig befestigt ist. Die sehr enge Einfahrt zu demselben wird von furchtbaren Batterien beherrscht, welche jene übers Kreuz bestreichen. Die berühmte Kanone – von Preußen 1867 zur Internationalen Pariser Ausstellung geschickt – welche ein Geschoss von zehn Zentnern schleudert, ist auf einer Bastion an der engsten Stelle des Hafeneingangs aufgestellt.“ Paul Verne weiter: „Ein feindliches Schiff, das diesen Weg zu forcieren versuchte, würde zweifelsohne binnen weniger Minuten zerschmettert sein. Die Stadt Kiel selbst ist offen, doch geht man mit dem Gedanken um, sie mit detachierten Forts zu umgürten. Soviel ich weiß, sind die vorgängigen Terrainuntersuchungen schon beendet, und man wird, wie es bei der deutschen Regierung Sitte zu sein pflegt, dem Worte rasch genug die Tat folgen lassen.“

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image Abb. 5 … und machen Kiel zu einer Stadt unter Dampf.

Zusehends füllte sich die Kieler Förde mit den Stahlkolossen der aufwachsenden Marine. Am Ostufer wuchs ein Werftenkomplex, wie es ihn im Deutschen Reich kein zweites Mal gab. Schiffbau und Marine beflügeln die Industrialisierung und fördern das Wachstum Kiels. Zählte die Stadt um 1850 etwa 16 000 Einwohnerinnen und Einwohner, so waren es um 1905 zehnmal so viele. Von den rund 100 000 Erwerbstätigen im Jahr 1918 waren rund 70 000 Arbeiter. Die Gewerkschaften waren ein Machtfaktor am Ort, und die Arbeiter, die am meisten unter der schlechten Versorgungslage im Krieg litten, hatten genug vom Kampf. Vereinzelt hatte es schon Unruhen gegeben, etwa im Juni 1916, als die Kartoffelvorräte in der Stadt aufgebraucht waren, etwa im März 1917, als mehr als 17 000 Menschen – Belegschaften der Werften und der Torpedowerkstätten – für eine bessere Versorgung demonstrierten. Im Januar 1918 wurde auf den Torpedo-Werkstätten in Friedrichsort protestiert und gestreikt, und die Arbeiter forderten nicht nur abermals eine Besserung der Versorgungslage, sondern auch eine Wahlrechtsreform und das Ende des Krieges. Am 29. Januar gingen hier rund 30 000 Arbeiter auf die Straße, um den Forderungen Ausdruck und Nachdruck zu verleihen.

Nun kommen mit den Schiffen des III. Geschwaders noch Tausende weitere Kriegsmüde an die Förde. An das explosive Kieler Gemisch wird durch den Arrest für die 47 vermeintlichen Rädelsführer der Wilhelmshavener Meuterei der Funke gelegt. Die übrigen Mannschaften des III. Geschwaders sollen durch großzügig gewährten Landgang auf andere Gedanken kommen. Diese Hoffnung des Geschwaderchefs konnte allerdings nur enttäuscht werden. Vielmehr nutzen rund 250 Matrosen von der „Bayern“, der „König“ und der „Markgraf“ die Gelegenheit, um noch am Abend im Gewerkschaftshaus in der Fährstraße (der heutigen Legienstraße) eine Versammlung abzuhalten. Hier, in ziviler Umgebung, wollen sie beraten, was zu tun wäre, wenn es einen erneuten Befehl zum Auslaufen gäbe. Und sie fordern, „dass die 26 Inhaftierten“ freigelassen werden. Tatsächlich sind es 47 Inhaftierte, aber dies wissen die Matrosen des III. Geschwaders offenbar nicht. Zudem beschließen die Soldaten, am nächsten Tag eine weitere Versammlung im Gewerkschaftshaus abzuhalten.

Sonnabend, 2. November 1918

In der Reichshauptstadt berichtet am Nachmittag der Staatssekretär des Reichsmarineamts, Ritter Ernst von Mann, erstmals in einer Staatssekretärsbesprechung über die Ereignisse an Bord der Schiffe des I. und III. Geschwaders.

In Kiel ist der Beschluss der Matrosen vom 1. November, eine weitere Versammlung abzuhalten, nicht geheim geblieben. Gegen 19.30 Uhr versammeln sich doppelt so viele Menschen vor dem Gewerkschaftshaus wie am Vortag. Da aber die Polizei von der geplanten Versammlung erfahren und die Marineverantwortlichen darüber informiert hat, bleibt das Gewerkschaftshaus für alle Marineangehörigen gesperrt. Nächstes Ziel der Matrosen ist die Gaststätte „Harmonie“ in der Faulstraße, doch auch dort lässt der Wirt sie nicht ins Haus. Die Matrosen machen sich nun auf den Weg zum großen Exerzierplatz im Viehburger Gehölz. Dort finden sich bis etwa 19.30 Uhr 500 bis 600 Menschen ein, Matrosen vom III. Geschwader und Angehörige verschiedener Landmarineeinheiten. Dabei sind auch Vertrauensmänner der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD), die sich 1917 von der kriegsbejahenden Sozialdemokratischen Partei Deutschlands abgespalten hat. Verschiedene Redner berichten über Lage und Stimmung. Es zeichnet sich Unterstützung ab für die Forderung, die inhaftierten Matrosen freizulassen. Dann ergreift noch Karl Artelt das Wort, vormals Arbeiter bei der Germaniawerft und nun Soldat in der Torpedo-Division. Seine Forderungen gehen weiter: Er fordert die Niederringung des Militarismus und die Entmachtung der herrschenden Klassen, notfalls mit Gewalt. Schließlich ruft er zu einer großen Volksversammlung mit anschließendem Demonstrationszug auf.

Die Versammelten gehen für heute auseinander, ohne von der Polizei behelligt zu werden. Marineinfanterie, die der Gouverneur als Reserve einsetzen kann, überhört die Befehle, ihre Kameraden vom III. Geschwader auf dem Rückweg vom Exerzierplatz festzunehmen. Sie können in der Dunkelheit unbehelligt in die Kasernen und auf die Schiffe zurückkehren und den Demonstrationsaufruf dort weiter verbreiten.

Artelt wird nach seiner Rede von Vertretern der USPD angesprochen, unter ihnen Lothar Popp, der mit Artelt noch in der Nacht im Parteibüro der USPD in der Preußerstraße beratschlagt, wie die Volksversammlung am Sonntag zum Erfolg werden kann. Dieser Aufruf braucht Öffentlichkeit. Sie entwerfen ein Flugblatt und hektographieren es in der Kürze der Zeit: „Kameraden, schießt nicht auf Eure Brüder! Arbeiter, demonstriert in Massen, lasst die Soldaten nicht im Stich!“

Das Kieler Marine-Gouvernement ist durch die Polizei und durch Spitzel unter den Soldaten des III. Geschwaders über die Entwicklung im Bild. Mit der Entscheidung allerdings, das Gewerkschaftshaus zu sperren, hat es die Widerstände nicht eingehegt und kanalisiert, sondern weiter in die Öffentlichkeit getragen.

In der Wohnung von Konteradmiral Hans Küsel, Chef des Stabes der Ostseestation, lassen sich Küsel und Stadtkommandant Wilhelm Heine, Kapitän zur See, von der Polizei über die Versammlung im Viehburger Gehölz berichten. Gouverneur Wilhelm Souchon, seines Zeichens Vizeadmiral und seit drei Tagen im Amt, ist nicht dabei. Die Offiziere ziehen ihn nicht hinzu, sie ordnen keine Urlaubssperre für Sonntag an. Sie unterschätzen, was auf die Stadt und die Marine zukommt. Sie vertagen sich auf Sonntag, 9.30 Uhr.

Sonntag, 3. November 1918

In dieser neuerlichen Sitzung gibt Vizeadmiral Hugo Kraft einen Überblick über die Lage im III. Geschwader. Gemeinsam mit den anwesenden Kommandanten und Inspekteuren wird beschlossen, am Nachmittag um 16.00 Uhr Stadtalarm auszulösen. Damit sollen die Soldaten von den Straßen in die Kasernen und auf die Schiffe gerufen und von der geplanten Demonstration ferngehalten werden. Es entspinnt sich eine heftige Kontroverse über die Frage des Einsatzes von Schusswaffen, falls der Alarm-Plan misslingen sollte. Schließlich wird befohlen, weder Waffen noch Munition auszugeben.

Die Stimmung auf den Schiffen des III. Geschwaders entspannt sich indessen nicht. Noch am Morgen lässt Kraft weitere 57 Matrosen und Heizer von der „Markgraf“ festsetzen – sie sollen in das Fort Herwarth gebracht werden. Erst nach gutem Zureden finden sich 15 Matrosen, die bereit sind, die Verhafteten zu überstellen. Zuvor weigern sich Soldaten, diesen Befehl auszuführen. Gegen Mittag treffen die Unruhestifter der „Markgraf“ in der Arrestanstalt ein.

Im Gewerkschaftshaus spricht um 12.00 Uhr der SPD-Reichstagsabgeordnete Heinrich Stubbe in einer gut besuchten Veranstaltung über die politische Lage im Land. Hier werden nun auch die Handzettel der USPD mit dem Demonstrationsaufruf verteilt. Teilnehmer dieser Versammlung meinen zu spüren, so beschreibt es ein Zeitzeuge später, dass irgendetwas „in der Luft lag“.

Nach der Sitzung am Vormittag berichtet Gouverneur Souchon in einem Telegramm an das Reichsmarineamt in Berlin von den „äußerst gefährlichen Zuständen“ in Kiel. Dabei ist der Schluss der Depesche nicht nur als taktischer Schachzug, sondern durchaus auch als Zeichen einer gewissen Hilflosigkeit zu lesen. Der Gouverneur kabelt: „Bitte, wenn irgend möglich, hervorragenden sozialdemokratischen Abgeordneten hierherzuschicken, um im Sinne der Vermeidung von Revolution und Revolte zu sprechen.“ Vizeadmiral Souchon kann sich also nicht nur disziplinarische, sondern auch politische Antworten in diesem Konflikt vorstellen.

In Berlin erfährt der Reichskanzler Prinz Max von Baden von den Kieler Meutereien. Er hat seine Dienstgeschäfte einige Tage nicht ausüben können, weil er erkrankt ist. Ihm sind, so notiert er später, die Nachrichten aus Kiel „nicht durchsichtig“. Der schleswig-holsteinische SPD-Parteisekretär Heinrich Kürbis reist auf eigene Faust nach Berlin und unterrichtet Philipp Scheidemann über die Entwicklung in der Fördestadt. Kürbis fürchtet einen Streik der Werftarbeiter.

Trotz der Flugblätter und der Mund-zu-Mund-Propaganda hat wohl der Großteil der Kieler Matrosen bis Mittag noch nichts von der geplanten Demonstration erfahren. Nun, zwischen 15.30 und 16.00 Uhr, wird der morgens beschlossene Stadtalarm ausgelöst: Mit Trommeln und Pfeifen werden die Soldaten aus dem Urlaub zu ihren Einheiten zurückbeordert. Aber die Resonanz ist schlecht. Bis in die Außenbezirke der Stadt reicht der Ruf nicht, andere überhören ihn einfach. Gegen 19.30 Uhr wird etwa nur die Hälfte der Matrosen zu ihren Einheiten zurückgekehrt sein. Aber die Zivilisten werden aufmerksam. Viele schließen sich den Marinesoldaten an, die sich trotz des Alarmrufs schon auf den Weg in Richtung Exerzierplatz im Viehburger Gehölz gemacht haben. Der Alarm-Plan ist fehlgeschlagen.

Gegen 17.30