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Klaus Alberts

Theodor Steltzer

Szenarien seines Lebens

Eine Biographie

Boyens Buchverlag
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„Die alten Formen zerstören,

die Bande des Vorurtheils lösen,

die Wiedergeburt leiten, pflegen und sie

in ihrem freien Wachsthum nicht hemmen,

weiter reicht unser hoher Wirkungskreis nicht.“

(Gerhard von Scharnhorst in einem Brief an Carl von Clausewitz, 27. November 1807)

Vorwort

Wer war Theodor Steltzer?

Jeder, der sich mit ihm beschäftigt, wird zu einer anderen Antwort gelangen.

Die folgenden Kapitel skizzieren einzelne Szenarien seines Lebens, in denen er sich bewegte, als Handelnder, aber auch als Opfer der Umstände, vielleicht auch seiner selbst.

Themen, die sein Leben bestimmten, werden benannt.

Es ist nicht beabsichtigt worden, ein vollständiges Mosaik zu schaffen; es ist der Versuch der Annäherung an ein fremdes Leben und soll eben dieses bleiben: eine Annäherung an einzelne Aspekte ohne den Anspruch, ein ganzes Bild zu liefern. Dieses wäre vermessen und immer ein vergebliches Bemühen.

Theodor Steltzer hat sehr viel geredet und geschrieben. Sein Leben war auch ein Leben ums Reden und Schreiben. Er kommt deshalb auch viel selbst zu Wort.

Dieser Beitrag will darstellen; er versucht es zu vermeiden, zu moralisieren, er will nur wenig interpretieren, nur zurückhaltend kommentieren. Diesen Prinzipien soll das Buch folgen. Ich hoffe, dass das gelungen ist.

Es ist nicht aufgebaut wie eine klassische Biographie, die mit der Geburt des Protagonisten beginnt, danach in chronologischer Reihenfolge sein Leben schildert und mit dem Tod endet.

Sein Titel ist „Theodor Steltzer – Szenarien seines Lebens“.

Und so habe ich die einzelnen Kapitel nach den Szenarien benannt, die sein Leben prägten und es unverwechselbar machten. Sie stehen scheinbar nebeneinander und sind einander doch alle tief verbunden und überlagern sich in Teilen. Ich stelle sie wie Bilder zueinander.

Jedes ist in sich abgeschlossen und gibt den Blick frei auf einen besonderen Aspekt seiner Existenz. Ich habe diese Technik gewählt, weil ich meine, dass sie uns am ehesten der Antwort auf die Frage näher bringt, die uns interessiert:

Wer war Theodor Steltzer?

Nach jeder Kapitelüberschrift sage ich, welches Thema, welcher Komplex, welche Zeit jetzt gezeigt wird. Die Kapitel sind vier großen Themen zugeordnet, die ich übergreifend bestimmend für ihn fand, sein Scheitern und seine Hoffnung, sein Widerstand, der Widerspruch zu seiner Zeit, in dem er lebte, und seine Utopien, die ihm, wie ein Widerlager zur Zeit, die Kraft zum Leben gaben.

Klaus Alberts

Stationen

Diese Zusammenstellung beruht auf Theodor Steltzers eigenen Angaben in seinen Erinnerungen, auf verschiedenen, von ihm verfassten Lebensläufen, auf dem Inhalt der Personalakten bei seinem jeweiligen Dienstherrn und den einschlägigen Verfahrensakten in seinen Straf- und Dienststrafsachen.

1885:   17. Dezember: Theodor Hans Friedrich, geboren als Sohn des Amtsgerichtsrates Georg Steltzer und seiner Ehefrau Amalie, geb. Richardi, in Trittau/Holstein, evangelisch

1895  1904:   Gymnasialzeit in Schleswig, Lüneburg und Göttingen, den Dienstsitzen des Vaters, „Witiko“-Erlebnis

1904:   10. Februar: Abitur in Göttingen

10. April: Eintritt in die Kgl. Preußische Armee als Berufsoffizierbewerber

Fahnenjunker im 2. Kurhessischen Infanterieregiment Nr. 82, Standort Göttingen

1905:   Leutnant

1907  1909:   beurlaubt zum Studium der Staatswissenschaften mit Schwerpunkt Nationalökonomie bei Lujo Brentano in München

1909:   Reaktivierung

1911:   Bataillonsadjutant

1912  1914:   Kriegsakademie, Berlin

1914:   Kommandierung zum Regiment vor Abschluss der Ausbildung

1914  1918: Dienst in Belgien, an der Ostfront, in Berlin, Frankreich, Serbien

Kompanieführer, Brigadeadjutant, im Stab der Heeresgruppe Mackensen, beim Chef der Eisenbahnabteilung des stellvertretenden Generalstabs, im Generalstab des Chefs des Feldeisenbahnwesens im Großen Hauptquartier/Oberste Heeresleitung (OHL), im Generalstab der 50. Infanteriedivision, beim General-Kommando X. Armeekorps, im Generalstab des Chefs des Generalstabs des Heeres, als Generalstabsoffizier z. b. V. beim Chef des Feldeisenbahnwesens, als Generalstabsoffizier 3. Gardeinfanteriedivision, als Verbindungsoffizier der OHL bei der Demobilmachungs- bzw. Waffenstillstands-Kommission (unter Erzberger)

1919 / 20:   31. Juli: Abschied als Hauptmann

(31. Oktober 1921: Verleihung des Charakters eines Majors)

weiter Dienstleistung als Referent bei der Kommission

Beendigung der Tätigkeit zum 1. Januar 1920

Entwicklung zum Jungkonservativen

1920:   Bewerbung um Verwendung im Preußischen Staatsdienst

1920  1933:   Preußischer Landrat

1920:   1. September: Kommissarischer Landrat des Kreises Rendsburg

1921:   24. Januar: endgültige Übertragung des Amtes mit Wirkung ab 1. Februar

Wirken unter anderem auch für die Schleswig-Holsteinische Gesellschaft für Volkserziehung, die Heimvolkshochschule, die Koloniale Frauenschule, die Siedlerfrauenschule, die Kleinsiedlung, die Wirtschaftsbank, als Synodaler, in dieser Zeit Anschluss an die hochkirchlich-lutherische Berneuchener Bewegung

1933:   6. April: Versetzung in den einstweiligen,

23. September den endgültigen Ruhestand (unter Gewährung des gesetzlichen Wartegeldes resp. der Ruhestandsbezüge)

1933  1940:   Erste Verfolgung durch Landrat/Kreisleiter Hamkens, Gauleiter Lohse

Dienststraf- und Strafverfahren wg. Betruges, Untreue, Hochverrats (letzteres als Strafverfahren nicht eröffnet), Verfahren nicht durch rechtskräftige Urteile/Beschlüsse in der Sache beendet: Amnestierungen

Haftzeiten

1933:   Mai bis September: Tätigkeit in der Hauptgeschäftsstelle des Volksbundes für das Deutschtum im Ausland (VDA), Berlin

Beitritt zur Michaelisbruderschaft der Berneuchener Bewegung

1933 / 34:   Denkschriften:

„Grundsätzliche Gedanken über die deutsche Führung“ (1933) / „Geschichte und deutsche Führungsaufgabe“ (1934)

1933 / 34:   Aufenthalte in Wien und Znaim

1934  1936:   Angebot (nicht angenommen) zur Leitung des Landerziehungsheims Marienau bei Lüneburg (Dr. Bondy), keine weiteren beruflichen Tätigkeiten

1936  1939:   Sekretär der Michaelsbruderschaft, Marburg/Hamburg, ökumenische Kontakte im In- und Ausland

1939:   Begegnung mit Traute

1939  1944:   Kriegsdienst

1940:   bis 31. Juli: Transportoffizier Armeeoberkommando 2, Deutschland / Polen

ab 1. August: Bevollmächtigter Transportoffizier Wehrmachtsbefehlshaber Norwegen, Armeeoberkommando Norwegen (bis 1944)

1941  1944:   Kreisauer Kreis

1944 / 45:   Zweite Verfolgung

1. August: Festnahme in Berlin-Tempelhof, Einlieferung in das Gefängnis in Moabit

14. September: Entlassung aus der Wehrmacht auf Vorschlag des Ehrenhofes der Wehrmacht

11. Oktober: Haftbefehl wegen Hoch- und Landesverrats

1945:   15. Januar: Verurteilung zum Tode durch den Volksgerichtshof

5. Februar: Aussetzung der Vollstreckung auf Anordnung des Reichsführers-SS Heinrich Himmler

25. April: Entlassung aus dem Gefängnis

1. Mai–31. August: Stellvertretender Leiter des Amtes für Ernährung und Landwirtschaft beim Magistrat von Groß-Berlin, Mitbegründer der CDU in Berlin (spätere „Ost-CDU“)

1. September bis 15. November: Landrat des Kreises Rendsburg, Mitbegründer der CDU in Schleswig-Holstein

1945  1947:   15./30. November 1945  22. August 1946: Kommissarischer Oberpräsident der Provinz Schleswig-Holstein

23. August 1946: (erster ernannter) Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein

20. April 1947: Wahl in den (ersten gewählten) Landtag

29. April 1947: Niederlegung des Amtes des Ministerpräsidenten

27. Mai 1947: Aufgabe des Wahlmandats, Rückzug aus der Landespolitik

1945  1962:   Gründung der Gesellschaft Mundus Christianus

Funktionen in:

Deutscher Kunstrat

Deutsche UNESCO-Kommission

Institut zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten/Institut für Europäische Politik und Wirtschaft

Internationaler Forschungsausschuss der Europäischen Vereinigung für wirtschaftliche und soziale Entwicklung (CEPES)

Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP)

1962  1965:   Berlin, kulturelle Betätigungen, Mitarbeit in der Friedrich-Ebert-Stiftung

1967:   27. Oktober: Tod auf Reisen in München

Theodor Steltzer war seit 1910 mit Adele, geb. Fürbringer, verheiratet. Das Ehepaar hatte drei Söhne und eine Tochter.

Er veröffentlichte zwei Bücher:

– „Von deutscher Politik“, Dokumente, Aufsätze, Vorträge, 1949

– „Sechzig Jahre Zeitgenosse“, 1966

Er hatte Wohn- und Dienstsitze in: Ascona, Berlin, Bonn, Frankfurt, Göttingen, Hamburg, Kiel, Lübeck, Marburg, Oslo, Prerow/Darß, Rendsburg, Schleswig, Trittau.

I

Bilanz

 

Hoffnung im Scheitern

In seiner Lebensbilanz sah Theodor Steltzer sich als Gescheiterten. Doch noch in diesem Scheitern glaubte er daran, dass sich auf lange Sicht manche seiner Vorstellungen durchsetzen, manche seiner Erkenntnisse Grundlage für neues Nachdenken sein würden.

Er hoffte nicht ganz vergebens.

Rückblick

Gegen Ende seines Lebens hat Theodor Steltzer für sich und seine Zeit Bilanz gezogen. Sie fiel vernichtend aus. Auf ihn selbst und sein Tun traf aus seiner Sicht Charles de Gaulles Satz zu: „Ich habe das Meer gepflügt.“ Und doch war er für die Zukunft nicht ohne Hoffnung.

Zu seinem 70. Geburtstag hat Theodor Steltzer ein vorläufiges Lebensresümee gezogen und dabei schonungslos mit seiner Zeit abgerechnet. Er sah sich nach seinem langen Leben als Menschen, der die Folgen verpasster politischer Gelegenheiten mit ansehen musste. Er hatte sie alle kennengelernt, den Kaiser und Hindenburg, die Akteure der Weimarer Republik und des Dritten Reiches, die der jungen Bundesrepublik und auch Pieck und Grotewohl. Froh war er, dass er nicht als einstmals verantwortlicher Politiker unter Selbstrechtfertigungsdruck stehe, sondern weitgehend das Glück gehabt habe, als kritischer Zeitgenosse auf Beobachtungsposten stehen zu können.

Noch einmal nennt er schon das Kaiserreich „widerwärtig“. Noch einmal: Seine Klasse habe wie durch eine chinesische Mauer von der sozialen Wirklichkeit getrennt gelebt. Politik sei im Grunde eines geistigen Menschen unwürdig gewesen. Ein Zusammenhang der Politik mit ethischen oder religiösen Verpflichtungen sei nicht gesehen worden. Ein Schock sei für ihn die Begegnung im Großen Generalstab mit den führenden Persönlichkeiten gewesen, die ohne jedes Ethos, borniert und dumm, die Welt in den Untergang gestoßen hätten.

Diesem Typus sei er auch in der jungen Weimarer Republik wiederbegegnet. Aus Resignation gegenüber diesen Verhältnissen sei er nach Rendsburg gegangen, um ganz unmittelbar mit der Bevölkerung zu leben, zu arbeiten und einen neuen Weg zu wagen. Alles sei wieder an der zentralen Führung gescheitert, bis das Land in einer terroristischen Diktatur versunken sei, die von innen heraus nicht habe gestürzt werden können. So sah er es.

Eine seiner großen Lebensenttäuschungen, wohl die größte, brachte die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg mit sich. Nach der Katastrophe hatte er auf einen absoluten, von christlichen Grundwerten geprägten Neuanfang gehofft und auf den auf dem Engagement der Bevölkerung beruhenden Staatsaufbau von unten, auf eine Überwindung des verhängnisvollen Parteienstreits, auf ein Miteinanderringen um die beste Lösung, auf eine Realisierung der Kreisauer Gedanken: nichts von alledem. „Weiter wie bisher“, aus seiner Sicht. Nach kurzem Engagement als Landrat, Ober- und Ministerpräsident die schnell einsetzende Resignation. Die Zuwendung hin zur Grundlagenarbeit im kirchlichen und staatsbürgerlichen Rahmen; immer wieder: ad fontes. Dann die Hinwendung zu den internationalen Themen, weil er für sich gelernt hatte, Welt und Menschheit als Ganzes wahrzunehmen. Nachdem ihm auf nationaler Ebene nichts gelungen war, wollte er das Verantwortungsgefühl des einzelnen Menschen auf Weltebene wecken: Die rasende Entwicklung verlangte nun dringend nach globalen Regelungen!

Hier sah er Anlass zur Hoffnung.

Sorge bereitet ihm, dass diese Gedanken sich nur erst in kleinem Kreise ausbreiteten; er verlangt die Gründung eines volkspädagogischen Zentrums, das der Erziehung des Volkes zum politischen Denken und Handeln dient. Er sorgt sich, dass die Politik noch nicht hinreichend die Probleme der Zukunft durchdringt, die Bedeutung der Atomenergie, die stürmische technische Entwicklung, die Selbstbewusstwerdung der asiatischen und afrikanischen Nationen, die konstruktive Zusammenarbeit zwischen „weißen“ und „farbigen“ Völkern, die Probleme der Übervölkerung, den wirksamen Schutz der natürlichen Hilfsquellen.

Als die neue soziale Weltaufgabe sieht er den Ausgleich zwischen den Industrienationen und den Entwicklungsländern durch intensivste internationale Zusammenarbeit. Die gemeinsame Erschließung der Reserven der Welt ist sein Ziel genauso wie Abrüstung und gewaltlose Weltpolitik.

Internationale Kulturpolitik nimmt in seinem Denken einen hohen Stellenwert ein. Er strebt geistige Gemeinsamkeit in aller Vielfalt an. Dieser „Weltwurf“ im Spätherbst seines Lebens zeigt uns einen Menschen, der bei allem immer wieder apostrophiertem Pessimismus doch von Hoffnung getragen wird und geistig nicht aufgegeben hat. Die Erkenntnistiefe seines Problembewusstseins erstaunt, man schreibt das Jahr 1955! Er war auf seine Weise in manchem klarsichtig.

II

Widerstand

 

Wille zur Neuordnung

Im Kreisauer Kreis stritt Theodor Steltzer leidenschaftlich für seine Auffassungen. Die Mitgliedschaft führte ihn aus der bedeutenden Position eines hoch angesehenen Generalstabsoffiziers in die Kerker des Dritten Reiches. So kam er als Geächteter und Todeskandidat auf dem Grunde seiner Existenz an. Sein Fall war tief, aber war zugleich Grund dafür, dass er nach dem Krieg als Widerstandskämpfer Teil eines Mythos wurde.

Attentat

Emotional bewegte weniges die Mitglieder des Kreisauer Kreises so sehr wie die Attentatsfrage.

Seine Ablehnung des Tyrannenmordes aus religiösen, moralischen und politischen Gründen war noch rigoroser als die von Moltke, der letztlich zustimmte. Hierdurch isolierte Theodor Steltzer sich im Kreise zunehmend. Kurz nach dem Attentat nannte er die Täter „Mörder“. Nach dem Kriege hat er ihnen aber seinen Respekt bezeugt.

Im Juli 2008 schrieb mir Freya von Moltke: „Wir haben Steltzer beide immer sehr hoch geschätzt. Steltzer und mein Mann verstanden sich besonders gut. Vor allem dachten sie politisch gleich, was einen Versuch anging, Hitler von innen zu beseitigen. Sie fürchteten eine neue Dolchstoßlegende. Sie waren der Ansicht, Hitler müsse sich deutlich und vor dem ganzen deutschen Volk selbst vernichten. Nur Steltzer und mein Mann teilten innerhalb der Gruppe diese Meinung so grundsätzlich. Aber die schrecklichen Opfer, die das Abwarten verlangte, brachte meinen Mann doch immer wieder dazu, Wege zu Hitlers Beseitigung zu fördern.“

Nach seiner Festnahme am 1. August 1944 schreibt Steltzer einen langen Brief an sein Lieblingskind Elisabeth („Maidlein“). Und hier, ganz früh schon, findet sich seine erste Bemerkung zum Attentat: „Denn für mich stellt sich schon ganz deutlich heraus, dass sich das ganze um ein ganz dummes Missverständnis handelt, eine völlig vermeidbare Angelegenheit. Und dass ich mich an Attentaten oder Putschen beteiligen werde, wird ja wohl keiner unter denen ernsthaft annehmen, die mich kennen“. Er steht noch ganz unter dem Eindruck, er sei als einer der Mitverschwörer des 20. Juli ins Netz gegangen, ein Eindruck, der sich als falsch herausstellen sollte. Seine Verhaftung sei eigentlich eher „en passant“, fast zufällig, erfolgt, wie er es selbst später, laut einem Zeitungsbericht vom 2. Februar 1950, im Rahmen eines Verleumdungsprozesses wegen seiner Tätigkeit im Widerstand formulierte. Dass es hinsichtlich seiner nicht unmittelbar gegebenen Verstrickung in die Ereignisse des 20. Juli so gewesen sein dürfte, erscheint plausibel. Im Lichte seines sonstigen Verhaltens war sie auch folgerichtig.

Auch danach benennt er in seinen Aufzeichnungen und Briefen aus Moabit die Frage des Attentats und seine Auffassung dazu:

1. Oktober 1944:

„Ich bin in eine Lawine geraten, von deren Zusammenballung ich keine Ahnung hatte. Und ich stehe an der Seite eines Unternehmens, das ich immer abgelehnt habe.“

Das Motiv des sich in dieser Frage im Gewissenskonflikt gefangen sehenden Mannes klingt in seinem Brief vom 2. Oktober an:

„Die Gewissenskonflikte eines sich an sein Volk gebunden fühlenden Christen in einem nicht christlichen Staat kann ein Nichtchrist gar nicht ermessen.“

Und noch einmal ganz nachdrücklich am 7. Oktober:

„Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der Herr Zebaoth. Deshalb bin ich immer gegen Putsch und Attentat gewesen. Das ist mir sehr wichtig.“

Der Haftbefehl vom 11. Oktober, der ihm am 14. desselben Monats ausgehändigt wird, bestätigt endlich formell – wobei es in einem willkürlichen System wie dem des „Dritten Reiches“ naturgemäß keine Formen im Sinne des Rechtsstaates gibt – was ihm vorgeworfen wird, nämlich genau dieses: das Attentat.

„Sie [Moltke, Haubach, Gerstenmaier, Steltzer, Sperr, Reisert, Fürst Fugger von Glött, d. Verf.] werden beschuldigt, gemeinschaftlich es unternommen zu haben, mit Gewalt die Verfassung des Reiches zu ändern und den Führer seiner verfassungsmäßigen Gewalt zu berauben (…) Sie haben im Inland, (…), zusammen mit anderen es unternommen, die nationalsozialistische Regierung, nötigenfalls mit einer gegen den Führer gerichteten Gewalttat zu stürzen, um sich selbst und Ihre Gesinnungsgenossen in den Besitz der Macht zu bringen (…)“

Hier wird deutlich, dass, obwohl über Denken und Arbeit des Kreisauer Kreises inzwischen schon detailliertere Informationen bei den Sicherheitsorganen vorlagen, dennoch eine Begründung im Haftbefehl hermusste, um die Fortdauer der Inhaftierung noch dramatischer zu untermauern, als es eigentlich notwendig gewesen wäre. Denn schon im August/September war die Gestapo zu der Überzeugung gelangt, dass der Kreis keine gewaltsame Änderung der Verhältnisse anstrebte, in seiner Haltung jedoch „durch und durch defätistisch“ sei. Schon diese Begründung hätte für den Haftbefehl gereicht.

Folgerichtig heißt es auch im Bericht des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD an Reichsleiter Bormann vom 12. September 1944: „Steltzer bestätigt erneut, dass man bei allen Planungen eine Aufnahmestellung für den Fall des verlorenen Krieges schaffen wollte. Den Umsturzplänen des Goerdeler Kreises habe man in Kreisau skeptisch und ablehnend gegenübergestanden.“

Richtig daher die Bewertung aus der Sicht des Regimes als „defätistisch“, wobei die starken konfessionellen Bindungen und kirchlichen Beziehungen vieler der Mitglieder des Kreises immer wieder hervorgehoben werden, besonders verabscheuungswürdig aus der Sicht der Nationalsozialisten; denn, so Freisler im Prozess zu Moltke: „Sie gehören nicht zu uns. Ihr Christentum und wir haben nur eines gemeinsam: Wir verlangen den ganzen Menschen.“

So erschließt sich, was Steltzer mit „en passant“ meinte. Und so kommentiert er zutreffend am 14. Oktober: „Heute kam der Haftbefehl mit der Angabe dessen, was man uns vorwirft. Hier fühle ich mich 100 % unschuldig. Aber das bedeutet nicht viel.“

Einmal noch, am 3. November, schreibt er: „Ich habe an Beratungen teilgenommen, die vom Zusammenbruch des Staates ausgingen, aber wir wollten ihn nicht herbeiführen. (…) Attentate, Putsche und Revolutionen sind vom christlichen Standpunkt aus Unrecht und Sünde (Pfingstlosung).“ So stellt er auch in einem der Verleumdungsprozesse nach dem Kriege fest, er sei kein Widerstandskämpfer gewesen.

Einer seiner Vertrauten in Oslo, der Hauptmann Schauer, zitiert einen Ausspruch von ihm im kleinsten Kreise, der nach dem 20. Juli getan wurde: „Mord bleibt Mord. Eine Sache, die mit einem Mord beginnt, macht sich von den Mördern abhängig und geht daran zugrunde.“

Er wusste, wer die „Mörder“ waren. Weshalb diskriminierte er sie? Er hätte schweigen können. Er konnte es nicht. Er musste seine Meinung sagen. Dass er schon begann, eine Verteidigungsstrategie aufzubauen, erscheint abwegig.

Immer wieder hat er sich, auch nach dem Kriege, zu dieser Frage geäußert:

Schon im November 1945 sagte er anlässlich einer Gedächtnisfeier für die Opfer des Faschismus: „Auch wenn man die Tat des 20. Juli nicht billigt, sowohl grundsätzlich wie auch, weil die Zeit noch nicht reif war (…)“

„Zum Geleit“ seines Bandes „Von Deutscher Politik“ schreibt er im August 1949:

„Ich habe aus grundsätzlichen und sachlichen Gründen in der Attentatsfrage einen anderen Standpunkt vertreten. Aber ich bin oft mit mir zu Rate gegangen, ob nicht diejenigen doch Recht hatten, die diese Haltung als zu kühl gegenüber dem unermesslichen Leid empfanden, das jede Kriegsverlängerung mit sich brachte. In keinem Falle scheint es mir aber möglich zu sein, Menschen moralisch zu verurteilen, die ihre Entschlüsse aus solcher innerer Qual und Sorge um Deutschland, Europa und die Menschheit gefasst haben, wie es bei den Männern der Fall war, mit denen ich damals über diese Frage gesprochen habe.“

Am 9. November 1949 in seinem Vortrag „Die Arbeit des Kreisauer Kreises“ in der Adolf-Reichwein-Hochschule in Celle:

„Die grundsätzlichen Gesichtspunkte, von denen wir uns auch während des Krieges leiten ließen, waren:

1.)

Die sich aus unserer abendländisch-christlichen Tradition ergebenden sittlichen Grundsätze gelten unverrückbar (…), gegenüber Freund und Feind, (…)

Der Satz, dass ein idealer Zweck jedes Mittel rechtfertigt, ist falsch.

2.)

Der politische Kampf gegen eine verbrecherische eigene Regierung gestattet dem Einzelnen nicht, sich außerhalb seiner nationalen Mitverantwortung oder gar gegen die nationale Gemeinschaft zu stellen.

3.)

Persönliche politische Entscheidungen dürfen nicht auf Kosten unbeteiligter und unschuldiger Menschen erfolgen.“

Aus diesen drei Grundsätzen ergaben sich eine Reihe von Entscheidungen von selbst: Ablehnung (…) des Attentats als politisches Kampfmittel, (…)

Die tatsächlichen Entscheidungen sind aber nicht immer so einfach, wie es nach diesen Grundsätzen aussieht. …“

Er spricht weiter über die Situation in Deutschland im Kriege und führt fort:

„War es angesichts dieser Lage nicht verständlich, wenn verantwortlich denkende Männer den Entschluss erwogen, durch ein Attentat oder andere Gewaltmaßnahmen einen Krieg zu beenden, der sonst noch Millionen von Toten und Verstümmelten kosten und in einer beispiellosen Katastrophe enden musste? (…)

(…) Rückschauend wird man sagen müssen, dass es gut war, dass der Einsatz (…) der Männer des 20. Juli erfolgt ist, (…)“

In seinem Lübecker Vortrag zum 20. Juli 1950 „Der 20. Juli und seine Vorgeschichte“ führt er aus:

„Trotz der Einmütigkeit in dieser Frage [der der Kriegssabotage, d. Verf.] entwickelten sich in der Opposition zwei verschiedene Auffassungen. Eine aktivistische Gruppe war der Meinung, dass alles geschehen müsse, um den Krieg mit seinen ungeheuren Menschenopfern zu beendigen. Sie erhoffte, hierdurch auch einen besseren Frieden zu erreichen und glaubte an die Möglichkeit einer neuen Regierung, um mit der Ordnung der inneren Verhältnisse Deutschlands fertig zu werden. Sie trafen deshalb auch Vorbereitungen, für die Bildung einer solchen Regierung. Zu dieser Gruppe gehörte der Kreis um Beck und Witzleben, später auch Olbricht und Stauffenberg, der Kreis um Goerdeler und der Kreis um Leuschner.

Eine zweite Gruppe, die von der Mehrheit des Kreisauer Kreises repräsentiert wurde, hatte volles Verständnis für die Motive der Aktivisten, hielt aber deren Pläne nicht für richtig und durchführbar. In erster Linie befürchteten wir eine negative Auswirkung auf die Front, die die Lage nur noch verschlechtert hätte. Wir glaubten auch nicht an die Erfolge einer neu gebildeten Regierung. Infolge der Verwirrung der Gemüter und der Unorientiertheit in Deutschland über die wirkliche Lage war nicht damit zu rechnen, dass ein Staatsstreich auf Verständnis in breiteren Kreisen treffen würde, zumal die Propaganda der Gegner alles getan hatte, um ein Durchhalten bis zum Ende als einzig mögliche Haltung erscheinen zu lassen. Nach dieser Richtung hat sich die Erklärung über die Nichtanwendung der Atlantic Charter und die schroffe Forderung nach bedingungsloser Kapitulation besonders nachteilig ausgewirkt. Endlich bestanden auch Zweifel, ob der aktivistisch revolutionäre Weg grundsätzlich gesehen richtig und vertretbar war. Wir kamen jedenfalls zu dem Resultat, dass keine Möglichkeit mehr bestände, um dem Rad des Schicksals in die Speichen zu greifen. Und wir beschränkten deshalb unsere Vorarbeiten auf die Zeit nach dem von uns vorausgesehenen Zusammenbruch.“

Im selben Jahr in einer Rundfunkansprache:

„Daneben gab es noch eine Gruppe, die von der Mehrheit des Kreisauer Kreises repräsentiert wurde und zu der auch ich gehörte, mit einer anderen politischen Zielsetzung.

Wir hatten volles Verständnis für die inneren Motive der Aktivisten, hielten aber ihre praktischen Pläne nicht für richtig. Der Staatsstreich war technisch sehr schwer durchführbar, wie der 20. Juli auch praktisch lehrte. Selbst im Fall des Gelingens erschienen die Aussichten für die neue Regierung sehr ungünstig, da die Verwirrung der Gemüter und die Unorientiertheit über die wirkliche Lage zu groß waren. Man konnte nicht mit Sicherheit darauf rechnen, dass der Staatsstreich auf Verständnis in breiteren Kreisen stoßen würde. Die Lage wurde durch das Vorhandensein von Millionen von Fremdarbeitern im Reichsgebiet noch komplizierter. Wir befürchteten weiter eine negative Auswirkung auf die Front, die die Lage nur verschlechtert hätte. Auch schien uns die politische Zielsetzung der aktivistischen Gruppen nicht wirklichkeitsnah zu sein, da sie an der Forderung der bedingungslosen Kapitulation vorbei sahen und die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Neubaus nicht genügend erkannte. Endlich war manchem von uns zweifelhaft, ob der beabsichtigte Weg des Staatsstreiches grundsätzlich gesehen vertretbar war.“

Dann ein überraschender Satz, der alles in Frage stellt, was er bisher vermittelt hat und was alle Kreisauer Freunde bestätigen:

„Wenn auch über die Berechtigung einer Gewaltanwendung gegen das System Hitlers keine prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten bestanden, so gab es doch verschiedene Meinungen über die einzuschlagenden Wege, über die politische Zweckmäßigkeit und praktische Durchführbarkeit eines militärischen Staatsstreiches und über die Tragfähigkeit mancher politischen Konzeptionen, die unsere Freunde für die Zukunft entwickelten.“

In seiner Ansprache zum 20. Juli 1960:

„Der 20. Juli war ein elementarer Durchbruchsversuch in die Freiheit, ein Angriff des Menschlichen gegen das Unmenschliche aus sittlicher Verantwortung und in persönlicher Entscheidung des Gewissens. Wie wenig man dieses Ereignis aus rationalen Gesichtspunkten der politischen Zweckmäßigkeit, des Erfolges oder Misserfolges und der technischen Durchführung kritisieren kann, möchte ich aus persönlicher Erfahrung zu zeigen versuchen.

Die Meinungsverschiedenheiten innerhalb des deutschen Widerstandes lagen nicht in der moralischen Grundhaltung, sondern im Bereich der politischen und praktischen Fragen. Das gilt auch für die Gründe, die manche, darunter auch mich, zu Gegnern eines Staatsstreiches machten und uns veranlassten, bei jeder Gelegenheit davor zu warnen. Ich würde auch den Geschwistern Scholl und den Mitgliedern der Weißen Rose von ihrem Aufruf abgeraten haben, falls sie mich gefragt hätten. Und doch muss ich rückschauend der Tat der Geschwister Scholl und den Aktivisten des 20. Juli Recht geben.“

1966 veröffentlicht Theodor Steltzer seine Lebenserinnerungen „Sechzig Jahre Zeitgenosse“ und stellt ganz kurz die unterschiedlichen Positionen zur Aktion, zum Attentat, dar:

„Moltke, Yorck und ich neigten zu einer gelassenen, kühlen Betrachtungsweise, während Trott, Stauffenberg und andere aus emotionalen Gründen stärker zur Aktion drängten. … Ich glaube also, dass die Anhänger eines Staatsstreichs ihre militärischen Machtmöglichkeiten überschätzten und die großen Schwierigkeiten übersahen, die sich nach einem geglückten Attentat innerhalb der Wehrmacht ergeben hätten. Diesem Attentatsplan gegenüber gab es bei uns verschiedene Ansichten. Moltke, Yorck und ich hielten es nicht für ein zuverlässiges [hier dürfte es sich um einen banalen Druckfehler handeln; selbstverständlich ist ,zulässig‘ gemeint; denn bei der bekannten Ablehnung im Grundsätzlichen stellt sich die Frage nach der Zuverlässigkeit nicht, d. Verf.] Mittel der Politik. Auch fürchteten wir eine neue Dolchstoßlegende.“

Hier bestätigt Steltzer die Erinnerung Freya von Moltkes aus dem Jahre 2008 mir gegenüber, dass ihr Mann und Theodor Steltzer sich ganz besonders nahegestanden hätten. Sie findet ihre Bestätigung in Helmuth James’ Brief an Freya vom 14. 6. 42:

„Gestern morgen war Steltzer bei mir, wohl fast zwei Stunden lang. Ich habe so ein angenehm warmes Gefühl für ihn und ein so sicheres bei ihm.“

So ist es nicht verwunderlich, dass auch die Attentatsfrage sie bis fast zum Ende in einer Auffassung verband. Auch Gerstenmaier, kein Freund Steltzers, bestätigt in seinem Lebensbericht „Streit und Friede hat seine Zeit“ Steltzers beachtlichen Einfluss auf Moltke.

Doch zurück zum Attentat:

Steltzer hat es in seinen späteren Jahren zögernd und sicher auch, weil alles andere inzwischen politisch unmöglich gewesen wäre, bejaht, nicht jedoch tat er dieses, solange er dem Kreisauer Kreis angehörte, und damit war er der einzige, der bis zum Ende des Kreises bei dieser Haltung blieb. Van Husen, ein Mitglied des Kreises, das überlebte, dürfte seine Erinnerung getrogen haben, als er van Roon berichtete, schließlich seien alle mit dem Schritt einverstanden gewesen. Auch Freya von Moltke betont in ihrem Schreiben, in dem sie auf das enge Verhältnis ihres Mannes zu Steltzer und deren gemeinsame Haltung zum Attentat eingeht: „Aber die schrecklichen Opfer, die das Abwarten verlangte, brachten meinen Mann doch immer wieder dazu, Wege für Hitlers Beseitigung zu fördern.“

Erhellend ist an dieser Stelle die Erinnerung von Bischof Eivind Berggrav 1948, der über die Frage ein langes Gespräch mit Moltke hatte und die differenzierte Darstellung vertieft, die Freya andeutet.

„Ich hatte während meiner eigenen Polizeiinternierung zwei heimliche Zusammenkünfte mit Helmuth v. Moltke in Oslo, jedes Mal 3  4 Stunden lang. […] Das letzte Mal war die Nacht vom 18. zum 19. März 1943. Bei dieser Gelegenheit brachte v. Moltke den Attentatsplan zur Sprache, da er stark mit dem „Tyrannenmord“ als christlichem und ethischem Problem beschäftigt war. Er hatte sich bis dahin – ebenso wie der Kreis, mit dem er zusammenarbeitete – neutral gestellt gegenüber dem Teil der Verschwörung, der das Attentat auf Hitler in seine Pläne einbezog. Sein Grund war indes nicht direkt der, dass eine Liquidierung Hitlers als christlich unzulässig anzusehen sei. Dies wird in der Literatur als das einzige Motiv für die Ablehnung dargestellt. Diese Seite der Frage nahm er gewiss tief ernst. Helmuth von Moltke gehörte nicht zu denen, die leichthin sagten: Schießt ihn nieder. Im Wesentlichen aber lag das Problem für ihn darin: Kann durch eine solche Handlung etwas eingeleitet werden, das zum Segen wird? Gehörte nicht die Methode selbst dem Bereich des bösen Feindes zu? Würde eine solche Handlung sich isoliert durchführen lassen, würde sie nicht Konsequenzen nach sich ziehen und die ganze folgende Entwicklung und damit das neue System, das man in Deutschland aufbauen wollte, in die Verdammung hinunterziehen? […] v. Moltke lehnte damit aber nicht ohne weiteres die Möglichkeit des Attentates ab. Er war sich darüber im Klaren, dass es sich ergeben könne, dass dies eine Pflicht würde. Er würde sich dem nicht entziehen, wenn diese Pflicht auf ihn fallen würde. Das, was deutlich wurde, war, dass auf ihn andere Pflichten fielen – ebenso gefahrenreiche, wie die kommenden Ereignisse zeigen sollten.“

Dass Freya von Moltke im Kontext mit der Auffassung ihres Mannes nicht auch Steltzer nennt, kann bei dieser allerengsten Gefährtin, Zeitzeugin und Juristin kein Zufall sein und wird durch seine Briefe und Aufzeichnungen aus Moabit bestätigt. Hierin nur eine Verteidigungsstrategie zu sehen, würde der Persönlichkeit Theodor Steltzers nicht gerecht werden. Nach einer Mitteilung Gerstenmaiers an Peter Hoffmann vom 17. August 1965 hat Steltzer „stets an seiner Überzeugung festgehalten, die ethischen und religiösen Gebote des Christentums müssten strikt eingehalten werden, so strikt, dass man nicht einmal bei den Vernehmungen durch Gestapo und Volksgerichtshof lügen dürfe. Der Umsturz überhaupt und der politische Mord seien unmoralisch.“ Trotz der deutlichen Antipathie Gerstenmaiers gegenüber Steltzer, die auch aus dessen Prozessbericht vom 13./14. Januar 1945 an seine Frau spürbar wird, ist es nicht vorstellbar, dass er sich getäuscht oder verhört hatte oder bewusst Steltzer diskriminieren wollte.

Dem hält Bonhoeffer in seiner Ethik („Die Geschichte und das

Gute – Struktur des verantwortlichen Lebens“) entgegen:

„Wenn Kant aus dem Prinzip der Wahrhaftigkeit heraus zu der grotesken Folgerung kommt, ich müsse auch dem in mein Haus eingedrungenen Mörder seine Frage, ob mein Freund, den er verfolgt, sich in mein Haus geflüchtet habe, ehrlicherweise bejahen, so tritt hier die zum frevelhaften Übermut gesteigerte Selbstgerechtigkeit des Gewissens dem verantwortlichen Handeln in den Weg. Wenn Verantwortung die ganze, der Wirklichkeit angemessene Antwort des Menschen auf den Anspruch Gottes und des nächsten ist, so ist hier der Teilcharakter der Antwort eines an Prinzipien gebundenen Gewissens grell beleuchtet. Die Weigerung, um meines Freundes willen kräftig zu lügen, – denn jeder Versuch, den Tatbestand der Lüge wegzudeuteln entspringt wiederum nur dem gesetzlich selbstgerechten Gewissen – die Weigerung also, Schuld zu tragen aus Nächstenliebe, setzt mich in Widerspruch zu meiner in der Wirklichkeit begründeten Verantwortung. Es wird sich auch hier gerade im verantwortlichen Aufsichnehmen von Schuld die Unschuld eines allein an Christus gebundenen Gewissens am besten erweisen.“

Es scheint, als habe Theodor Steltzer dieses anders gesehen und dem „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider Deinen Nächsten“ Absolutheitscharakter verliehen.

Müssen wir davon ausgehen, dass Steltzer sich so in seinem christlichen Gedankensystem gefangen hatte und nicht herauskam oder herauswollte, wie Gerstenmaier oder Bonhoeffer als evangelische Theologen dieses geschafft hatten. Suchte er Strafe, Tod, Märtyrertum? Einige Passagen aus den Moabiter Briefen lassen diesen Gedanken aufkommen; er fühlte sich schwer schuldbeladen. Schon als seine Festnahme Ende Juli 1944 wahrscheinlich schien, ging er nicht nach Schweden, was ihm möglich gewesen wäre, sondern flog befehlsgemäß nach Berlin.

In ihrem 1992 erschienenen Werk „Zwei können widerstehen – Berichte und Briefe 1939  1969“ berichtet Brigitte Gerstenmaier über eine Abendunterhaltung bei der Familie York von Wartenburg, bei der es am Schluss zu einer heftigen Auseinandersetzung mit Theodor Steltzer über „Attentat oder nicht“ gekommen sei; Moltke war nicht anwesend. Frau Gerstenmaier scheint all die Gründe vorgetragen zu haben, die für die Beseitigung Hitlers sprachen: „Und Hitler war das Haupt des Bösen, mit ihm wäre es zusammengebrochen.“

Sie war sich dabei der Gefahr einer neuen Dolchstoßlegende bewusst. Sie scheint ganz stark den Judenmord angesprochen zu haben, über den Steltzer früh informiert war und die Ermordung von Polen und Russen und das Verhungernlassen der Kriegsgefangenen. Auch in diesem Gespräch bleibt Steltzer bei seiner Ablehnung des Attentats. Brigitte Gerstenmaier: „Ich konnte mit seinen Argumenten nichts anfangen.“ Leider benennt sie sie nicht.

Eugen Gerstenmaier stellt in seiner Kritik an Ger van Roons Darstellungen in „Neuordnung und Widerstand“ in den „Vierteljahresheften für Zeitgeschichte“ 1967 fest:

„ (…), so liegt das nicht allein an Helmuth von Moltkes persönlicher Einstellung zum Attentat, sondern vor allem daran, dass für van Roon die persönliche Anschauung Moltkes auch so dominiert, dass er sie de facto für den ganzen Kreis übernimmt. Hier liegt sein größter Irrtum.“

Und er fährt fort, dass van Roon den falschen Eindruck erwecke, dass „wir Kreisauer Denker und Programmatiker uns zu dem einzigen, was in der Geschichte schließlich entscheide, nämlich zur Tat, erst dann entschlossen hätten, als es uns selbst an den Kragen ging.“

Und:

„Der Schluss ist falsch, schon weil die Prämissen, auf die er gestellt wird, unzutreffend sind. Zwar ist es richtig, dass Moltke das Attentat für seine Person abgelehnt hat. In dieser Ablehnung spiegelten sich nicht preußisch-deutsche Vorstellungen vom Fahneneid, sondern eher sein puritanisch-angelsächsisches Erbe. Seine Ablehnung des Attentats war nicht eigentlich religiös, sondern moralisch begründet. Theologisch erschien mir diese Argumentation immer unzureichend. Ich mache kein Geheimnis daraus, dass ich darin mit Alfred Delp stets einer Meinung war, während Moltke kräftig unterstützt wurde von Steltzer, der Moltkes moralische Motive ins Religiöse vertiefte und die Ablehnung des Attentats außerdem noch mit der politisch einleuchtenden Gefahr einer neuen Dolchstoßlegende verband. Mehr unterschwellig kam Moltke und Steltzer zu Hilfe unsere gemeinsame Abscheu vor einer Tat, die dem Meuchelmord allerdings verzweifelt ähnlich sah. Die Gewissenskultur, in der jeder von uns erzogen war, hieß uns die Tat ablehnen. Ich erinnere mich, wie mich Graf Yorck am Ende eines Gesprächs, in dem wir über die unumgängliche Notwendigkeit des Attentats einig waren, voller Qual fragte: Aber ist es nicht doch Meuchelmord? Nun, wir haben Jahre dazu gebraucht, um mit den herkömmlichen Normen und Regulativen unserer Gewissenskultur fertig zu werden. Es bedurfte dazu mehr als rationaler und nationaler Erwägungen. Ich glaube, dass nur der Einblick in die ruchlosen Frevel, die im Namen Deutschlands geschahen, uns dazu bereit machte. Sie brachten die meisten von uns Kreisauern aber schon zu einer Zeit, als Helmuth von Moltke noch lange unter uns war, zu der Erkenntnis, dass es sein müsse, und dass jeder von uns bereit sein müsse, dabei den Part zu übernehmen, der auf ihn falle.“

In der Haft ging Gerstenmaiers Ringen mit Moltke in dieser Frage weiter, und hier tritt die religiöse Untermauerung der Position Gerstenmaiers besonders deutlich zu Tage:

„Ich versuchte noch einmal, Moltke davon zu überzeugen, dass seine Grundeinstellung zu dem Attentat in theologischer und religiöser Hinsicht unzureichend sei. Sie entspräche zwar einem strengen Moralismus, wie er z. B. für die Puritaner charakteristisch sei, aber sie befände sich nicht auf der Höhe des Gebotes Jesu, das uns vor allem heiße, Gott und den Nächsten zu lieben. Ich hätte mir nie vergeben, wenn wir Deutsche zugelassen hätten, dass Millionen Unschuldiger von der Hand des Unmenschen erwürgt würden, ohne dass wir auch nur einmal den sichtbaren Versuch machten, ihn mit allen Mitteln, die wir aufzubieten vermochten, in den Arm zu fallen. Hinter dieser Verpflichtung, die nach meiner Überzeugung für ein an der Bibel orientiertes Gewissen unabweisbar sei, trete selbst das andere mir fast ebenso wichtige Argument zurück, dass wir es Deutschlands Existenz und Ehre schuldig gewesen seien, so zu handeln. Niemals hätten wir ohne diese Tat anderen Völkern und künftigen Geschlechtern gegenüber hinreichend glaubwürdig machen können, dass es ein anderes Deutschland gegeben habe. Denn dieses Deutschland beglaubigte sich nicht mit schönen Gedanken und guten Plänen, sondern schließlich allein durch eine Tat, in der wir uns ohne Rücksicht selbst einsetzten.

Auf Moltkes erneuten Einwand, dass diese Tat gegen Gottes Gebot verstoße, antwortete ich, dass das nach meiner Erkenntnis nur scheinbar richtig sei, denn es entspreche dem Liebesgebot Jesu. Aber selbst wenn ein auch von mir empfundener nicht auflösbarer Fragenrest bliebe, so stehe über ihm und der Tat noch immer die Verheißung der Vergebung. Wenn ich gehängt würde, so schiede ich von dieser Welt jedenfalls in Dankbarkeit dafür, dass es geschehen sei und dass mich Gott gewürdigt habe, daran teilzunehmen.

Ich bat Helmuth von Moltke, sich dieser Beurteilung anzuschließen und dann endlich seinen Frieden zu machen mit einer Meinungsverschiedenheit, die jahrelang innerhalb des Kreises bestand.

Vielleicht würde ich zuviel sagen, wenn ich behauptete, dass Helmuth von Moltke das in jener Stunde getan habe. Aber er hat die Gemeinschaft mit den lebenden und toten Freunden auch in jener Stunde ausdrücklich und ohne Einschränkung bestätigt, und er hat meinen Argumenten über die Notwendigkeit und Richtigkeit des Staatsstreiches schließlich kein Argument und keinen Einwand mehr entgegengesetzt. Meines Wissens gibt es keine gegenteilige Äußerung mehr von ihm danach zu dieser Sache.“

Insgesamt bewertet Gerstenmaier mit anderen Kreisauern die frühere Haltung Moltkes und die fortdauernde Steltzers als „fatal, ja inkonsequent“. Zwischen Gerstenmaier und Steltzer muss eine tiefe Abneigung bestanden haben, die auch noch in einem Schreiben Theodor Steltzers aus dem Jahre 1952 an den Hamburger Schriftsteller Walter Hammer zum Ausdruck kommt, wenn Steltzer feststellt: „(…) und Dr. Gerstenmeier [dessen Namen er konstant falsch schreibt, d. Verf.], der ja allerdings auf mehreren Klavieren der Opposition gespielt hat (Popitz und 20. Juli).“ Natürlich muss man bedenken, dass auch Gerstenmaier nach dem Kriege sicher an seiner „Legende“ gearbeitet hat und sich zum zu allem entschlossenen Attentatsbefürworter aufgebaut haben könnte, als dieses ihm politisch günstig erschien. Zu vermerken ist aber, dass ihm überlebende Kreisauer hinsichtlich seiner von ihm geschilderten Rolle nie widersprochen haben.

Wohl kein Theologe hat das Thema der Berechtigung, ja, des Erfordernisses des Attentates so tief beleuchtet und so eingehend erörtert wie Dietrich Bonhoeffer, der naturgemäß in seinem Denken seiner Zeit weitgehend nicht bekannt sein konnte, sondern, wie Günter Brakelmann es mir gegenüber in einem Gespräch ausdrückte, „eine Entdeckung der Nachkriegszeit ist“. Renate Wind hat in ihrem Buch „Dem Rad in die Speichen fallen“ beeindruckend Dietrich Bonhoeffers Weg dargestellt, der dadurch gekennzeichnet war, dass er sich brennend die Frage stellte, ob das Abseitsstehen nicht zu viel größerer Schuld führe als das Sich-Hineinbegeben in das Handeln, das im Konfliktfall auch nicht frei von Schuld sein könne.

Nachfolge Christi kann für ihn auch heißen, aus Nächstenliebe schuldig werden:

„Weil es Jesus nicht um die Verwirklichung neuer ethischer Ideale, also auch nicht um sein eigenes Gutsein, sondern allein um die Liebe zum wirklichen Menschen geht, darum kann er in die Gemeinschaft ihrer Schuld eintreten (…) Aus seiner selbstlosen Liebe, aus seiner Sündlosigkeit heraus tritt Jesus in die Schuld der Menschen ein, nimmt sie auf sich (…) Wer sich in der Verantwortung der Schuld entziehen will, löst sich aus dem erlösenden Geheimnis des sündlosen Schuldtragens Jesu Christi und hat keinen Anteil an der göttlichen Rechtfertigung, die über diesem Ereignis liegt. Er stellt seine persönliche Unschuld über die Verantwortung für die Menschen, und er ist blind für die heillose Schuld, die er gerade damit auf sich lädt (…)“

Er hat für sich die Entscheidung getroffen. Ethischer Rigorismus greift nicht mehr, er erkennt, dass es dabei letztlich immer um die eigene Vollkommenheit geht. Schuld lädt der auf sich, der Hitler tötet, Schuld, größere Schuld, lädt der auf sich, der wissend dem Morden zusieht.

Doch er erhebt sich nicht über andere:

„Keiner kann hier ein Vorrecht vor dem anderen in Anspruch nehmen. Die letzte Frage bleibt offen und muss offengehalten werden; denn so oder so wird der Mensch schuldig und so oder so kann er allein von der göttlichen Gnade und der Vergebung leben.

Der ans Gesetz Gebundene muss wie der in freier Verantwortung Handelnde die Anklage des anderen vernehmen und gelten lassen. Keiner kann der Richter des anderen werden. Das Gericht bleibt bei Gott.“

Eine Christin, die Bonhoeffer zitiert, drückt es so aus: „Als gute Christen mussten wir kriminell werden.“

Weshalb konnte Theodor Steltzer diesen Weg nicht gehen? Er hat ihn doch hundertfach in den Jahren diskutiert. Weshalb hat sich ihm der Gedanke, aus schlichter Nächstenliebe zu töten, verschlossen?

Joachim C. Fest kommt in seinem Buch „Staatsstreich“ rigoros zu dem Ergebnis, es sei Steltzer und denen, die wie er dachten, letztlich in allererster Linie um das eigene Seelenheil gegangen:

„Die Mitverschworenen dagegen kamen allenfalls noch einmal auf ihre gedankenschweren Bekümmernisse zurück. Wohl hatte Stauffenberg bei seinem Vetter Yorck und einigen anderen Kreisauern in langwierigen Gesprächen, die sich vom Frühjahr bis in den Juni hinzogen, endlich Zweifel an dem theologisch-philosophischen Attentatsverbot wecken können, zumal seit ihm ein Befehl Kaltenbrunners zugänglich geworden war, der für 40 000 oder 42 000 ungarische Juden Sonderbehandlung in Auschwitz anordnete und den er von da an den abwägenden Akademikern des Fahneneides entgegenhielt. Hans-Bernd von Haeften hat gleichwohl bis zum Ende unter der Attentatsidee gelitten, wobei die Eidesbindung, ethische Maximen und vor allem religiöse Bedenken ein Gedankengefängnis errichteten, aus dem er nicht herausfand. Als sein Bruder zu Beginn des Jahres von Stauffenberg zurückgekehrt war und grundsätzlich zugesagt hatte, das Attentat auszuführen, fragte er ihn: Hast du die Sicherheit, dass das deine Aufgabe vor Gott und vor unseren Vätern ist? Doch dann wiederum quälte ihn angesichts der Opfer, die jeder Tag kostete, der Gedanke, seinem Bruder abgeraten zu haben.

Es war ein Netz unentwirrbarer Spekulationen, in dem er sich verfangen hatte. Das macht nicht zuletzt der Ausweg sichtbar, den er schließlich in der These fand, dass Hitler, wenn überhaupt, vor Stalingrad hätte umgebracht werden dürfen; seit es aber mit ihm bergab ging und das Glück ihn verließ, könne kein Segen auf dem Tyrannenmord liegen. Moltke wiederum war lange Zeit gegen den Mord, dann eher dafür und am Ende doch überglücklich, nur gedacht zu haben. Wer den Überlegungen der oft tiefreligiösen und nicht zuletzt durch ihren Glauben zum Widerstand gelangten Männer wie Beck und Steltzer und Yorck nachgeht, gewinnt den Eindruck, dass es ihnen zwar jederzeit um die Rettung des Landes und der Menschen und um ein Ende des unsäglichen Massenmordens ging; aber auch und womöglich mehr noch um das eigene Seelenheil.“

Ein bedrückendes persönliches Fazit, geboren aus einer Mischung aus Trauer, Enttäuschung und einer gewissen Verachtung. Bonhoeffers Gedanke zur eigenen Vollkommenheit könnte geradezu Pate für die allerletzte Bewertung durch Fest gestanden haben.

Steltzer sah sich als Christ. Weshalb brachte er nicht die Kraft auf, die eine große rettende Tat zu bejahen und zu unterstützen, die vielem Elend ein Ende bereitet hätte? In seinen Erinnerungen schreibt er, dass er in der Wehrmacht geblieben sei in der Hoffnung, dadurch die Herbeiführung eines Umsturzes fördern zu können. Will er an einen Umsturz ohne Beseitigung Hitlers geglaubt haben?

Volksgerichtshof

In den Jahren 1933 bis 1940 war Theodor Steltzer als unliebsames Individuum persönlich verfolgt worden. Er sollte bürgerlich vernichtet werden. Jetzt, 1944, war er Teil des politischen Widerstandes. Für ihn ging es um die physische Existenz.

Am 1. August 1944 begann die zweite Verfolgung im Leben Theodor Steltzers. Dieses Mal hatte es der Staat selbst auf ihn abgesehen. Er war nach Berlin befohlen worden und wurde noch auf dem Flugplatz Tempelhof im Zusammenhang mit den Ereignissen des 20. Juli festgenommen. Er war kein Mann des 20. Juli. Was hatte zu seiner Festnahme geführt?