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Dieses Buch ist dem dritten Menschen links von dir gewidmet. Bitte sag ihm oder ihr Bescheid.

An der Saint-Lupin’s-Akademie für Ausnahmslos Gefährliche und Absolut Furchterregende Abenteuer wird jeder Schüler mit exakt demselben Maß an Fürsorge und Rücksicht behandelt. Jeder erhält acht nagelneue Hosen und ebenso viele Tuniken (eine für jeden Tag und dazu eine etwas elegantere Ausführung für besondere Anlässe), zwei Paar gut sitzender Schuhe sowie einen gelben Mantel mit der Aufschrift ACHTUNG ABENTEURER IN AUSBILDUNG auf dem Rücken. Die Ernährung der Schüler besteht aus einer ausgewogenen Diät, und einmal am Tag wird gebadet – unmittelbar bevor sie ins Bett gehen und sanft ins Reich der Träume entschlummern. Diese Behandlung entspricht übrigens rein zufällig haargenau den Anweisungen des beliebten Ratgebers Wie Sie Schüler auf ihre zukünftigen Abenteuer (und ihr damit einhergehendes vorzeitiges Ableben) vorbereiten.

Verständlicherweise zählen potenzielle Anwärter die Tage, bis sie sich endlich um einen Platz an der Saint-Lupin’s-Abenteuerakademie bewerben können. Dies ist, wie allgemein bekannt, auf drei Wegen möglich:

  1. Indem die Anwärter ein Bewerbungsformular einreichen. (In dreifacher Ausführung und mit amtlicher Beglaubigung durch ein Eichhörnchen.)
  2. Indem sie den Wassergraben durchschwimmen und sich heimlich reinschleichen. (Tipp: Vorsicht vor den Zombiehaien.)
  3. Indem sie in den Besitz eines offiziellen Panzerhandschuhs gelangen und Hüter des Sperlings werden, widerrechtlich eine Rechtmäßiger-Erbe-Mission aktivieren, von Eisernen Rittern gejagt und von einem Drachen mit Feuerbällen bespuckt werden, ihre alte Abenteuerakademie zerstören, überall für Chaos und Verwüstung sorgen, ihre Mission erfolgreich absolvieren, Thronerbe eines eigenen Königreichs werden und der Akademie gestatten, ihre neuen Räumlichkeiten in besagtem Königreich einzurichten. (Hinweis: Bisher ist es erst einer Schülerin gelungen, sich auf diese Weise Zutritt zu einer Akademie zu verschaffen, und sie rät ausdrücklich davon ab.)

Einmal drinnen, führen allerdings nur zwei Wege wieder hinaus:

Bestehen oder durchfallen.

Der Saphirpalast

Anne bereitete sich darauf vor, Saint Lupin’s zu verlassen.

An diesem Abend fand in der Hauptstadt der Hierarchie die jährliche Verleihung des Preises der Abenteuerakademien statt, und Anne und die anderen Mitglieder ihrer Abenteurertruppe waren für die Auszeichnung in der Kategorie Beste illegale Mission, bei der beinahe die gesamte Welt zerstört worden wäre nominiert. Diese Kategorie war zwar nicht ganz so prestigeträchtig wie Längstes Duell mit einem tollwütigen Pumpernickel, aber doch immer noch besser als Spektakulärster Tod einer Hauptfigur, weil man diesen Preis nur bekommen konnte, wenn man tatsächlich gestorben war. Er wurde dann zusammen mit den sterblichen Überresten des Gewinners bestattet – sofern es noch welche gab. Die Nominierten durften sich auf ein vornehmes Mittagessen im Königlichen Palast freuen und saßen während der Preisverleihung in der ersten Reihe. Anschließend gab es jede Menge Empfänge und Partys, bei denen die Gäste auf unbequemen Stühlen saßen, sich an Drinks mit kleinen Schirmchen festklammerten und so taten, als würden sie einander mögen. Es war eine große Ehre.

Es gab nur ein Problem: Anne hatte keine Lust hinzugehen.

Genauer gesagt: Sie hatte keine Lust, in ihrer schicken neuen Ausgehuniform hinzugehen.

Anne zuckte zusammen, als eine Nadel in ihren Daumen stach.

»Bitte entschuldige, Liebes«, sagte die Frau neben ihr. Ihr Name war Jocelyn, und sie war im Grunde die Rektorin der Saint-Lupin’s-Abenteuerakademie – jedenfalls wenn man darüber hinwegsah, dass den offiziellen Unterlagen zufolge die eigentliche Rektorin eine orange-weiß getigerte Katze namens Ihre Königliche Hoheit Prinzessin Flauschepelz Schnurrhaar vom Clan der Mäusefänger war, die gerade neben ihnen auf einem Kissen auf dem Schreibtisch döste. Jocelyn hatte dunkelbraune Haut, einen dichten Schopf schwarzer, tadellos frisierter Haare und funkelnde braune Augen.

Anne achtete bei anderen Menschen immer besonders auf die Augen, weil sie hoffte, eines Tages jemandem zu begegnen, dessen Augen so gelb wie ihre waren.

Sie befanden sich im Direktionsbüro der Akademie, einem achteckigen Raum, dessen Wände von Regalen gesäumt waren, die nur von drei hohen Buntglasfenstern unterbrochen wurden. Anne stand auf einem Hocker und versuchte, so mucksmäuschenstill zu stehen, wie sie nur konnte, während Jocelyn an ihrer nagelneuen Ausgehuniform herumzupfte, die erst an diesem Morgen geliefert worden war. Anne beobachtete, wie sich an der Stelle, wo Jocelyn sie gepikt hatte, ein winziger roter Tropfen bildete. Sie drückte den Finger darauf, um die Blutung zu stillen. Anscheinend war an einer Abenteuerakademie selbst das Anziehen ein gefährliches Unterfangen.

Jocelyn schob den Stoff von Annes viel zu weitem Mantel zusammen und stach erneut mit ihrer Nadel zu. »Ich kann nicht fassen, dass sie dir die falsche Größe geschickt haben«, wiederholte sie zum x-ten Mal. »Ich habe ihnen die genauen Maße genannt und bei den anderen hat es doch auch geklappt.«

Was Anne ziemlich überraschend fand, wenn man bedachte, dass die Uniformen in einer Schachtel mit der Aufschrift HALSABSCHNEIDER-HENRYS LADEN FÜR UNTRAGBARE UNIFORMEN: HIER FINDEN SIE ALLES, WAS SIE BRAUCHEN, WENN DER GROSSE TAG VOR DER TÜR STEHT UND SIE KEINE ANDERE WAHL MEHR HABEN eingetroffen waren. Aber die Uniformen der anderen saßen wie angegossen. Und so waren ihre besten Freunde Penelope Shatterblade und Hiro Darkflame – die nebenbei auch die einzigen anderen Schüler an der Akademie waren – schon in die Hauptstadt aufgebrochen. Anne dagegen stand immer noch missmutig hier herum und musste ihre Kleidung umnähen lassen.

Nach ein paar weiteren Nadelstichen machte Jocelyn schließlich einen Knoten und trat zurück. Sie strich die Falten an ihrer knallgelben Jacke glatt, die mit Perlknöpfen besetzt war und ganz hervorragend zu ihrer hellbraunen Hose und den Reitstiefeln aus dunkelrotem Leder passte. Wie immer sah alles an Jocelyn nach einer professionellen Abenteurerin aus; allerdings eher nach einer, die den Großteil ihrer Zeit damit verbrachte, in der Bibliothek zu recherchieren oder in einer gut gepolsterten Trainingshalle ihre Fähigkeiten im Schwertkampf zu perfektionieren, statt auf echte Abenteuer zu gehen, bei denen man mit Staub, Schmutz und anderen Unannehmlichkeiten in Berührung kommen konnte.

Jocelyn nahm das Resultat ihrer Arbeit in Augenschein. »Ich war noch nie besonders gut im Nähen, daher hoffe ich einfach mal, dass das reicht.«

Anne sah an sich hinab. Der Mantel war in einer Farbe, die sich am besten als kotzgrün beschreiben ließ. Er hatte einen breiten Kragen, der bei jeder Bewegung herumschlackerte, und drei überdimensionale Taschen. Außerdem war er mindestens eine Handbreit zu lang. An der Seite bauschte sich der Stoff unvorteilhaft, was nicht zuletzt an den unzähligen Nähten lag, die kreuz und quer darüber hinwegverliefen. Der Rest der Uniform bestand aus einer blütenweißen Hose, die wie ein Magnet jedes Stäubchen anzog, einer grellorangefarbenen Tunika und einem Paar Lederstiefel, die so steif waren, dass Anne bereits vom Stehen Blasen bekam. Als Krönung trug sie ihren wertvollsten Besitz: einen einzelnen braunen Lederhandschuh, der mit sich überlappenden Metallstreifen besetzt war und in dessen langem, weitem Schaft sich an der Unterseite eine runde Vertiefung befand. Ihr Panzerhandschuh.

»Also«, fragte Jocelyn, »was meinst du?«

»Äh«, entgegnete Anne.

»Immer noch zu weit?«

»Nein, daran liegt es nicht.«

Jocelyn griff nach einem breitkrempigen Hut, an dessen Vorderseite ein schwarzer Schleier herunterhing, während oben eine lange Pfauenfeder herausragte. »Sollen wir dann mal den Kopfputz anprobieren?«

Anne zog eine Grimasse.

Jocelyn bemerkte ihren Gesichtsausdruck. »Hab ich eine Nadel vergessen?«

»Nein«, antwortete Anne. »Es ist nur …«

»Ja, Liebes?«

»Es ist nur … die Uniform … ist …«

Jocelyn nickte ermutigend. »Ja?«

Anne seufzte. »Sie ist hässlich.«

Im ersten Moment dachte Anne, Jocelyn würde mit ihr schimpfen, weil sie so undankbar war. Doch stattdessen fing Jocelyn an zu lachen. »Oh, meine Liebe, du hast ja vollkommen recht. Das Ding ist die reinste Katastrophe, egal wie man es dreht und wendet. Das Design ist eine Beleidigung für jeden, der auch nur das kleinste Fünkchen Modeverstand besitzt, und von den Farben bekomme ich Kopfschmerzen. Und was die Änderungen angeht: Das hätte vermutlich selbst Hund besser hingekriegt.« Bei der Erwähnung seines Namens hob Hund für einen Moment den Kopf. Das schwarze Feuerechsenmännchen lag in seinem Körbchen in einer Ecke des Büros und hielt sein Mittagsschläfchen. Doch als Hund feststellen musste, dass es nichts Interessantes zu sehen gab, ließ er ihn wieder sinken und schlief weiter.

Jocelyn warf den Hut zurück auf den Schreibtisch. »Auf den können wir zur Not auch verzichten. Was den Rest angeht, kann ich leider nichts machen. Aber auf diesen albernen Aufzug kommt es ohnehin nicht an. Es geht hier um dich, die neue Rechtmäßige Erbin von Saint Lupin’s. Die Leute kommen, um dich kennenzulernen.«

»Heißt das, ich kann meine ganz normalen Sachen anziehen?«, fragte Anne.

»Nein«, erwiderte Jocelyn.

»Aber Sie haben doch gerade gesagt …«

»Es gibt eine Kleiderordnung für solche Anlässe, und die sieht nun mal eine Ausgehuniform vor. Alles andere würde gegen die Etikette verstoßen.«

»Müssen wir uns denn immer an die Etikette halten?«

Jocelyn zog eine Augenbraue hoch, und Anne seufzte innerlich. Jocelyn würde eher aufs Atmen verzichten als auf die Etikette.

Irgendwo im Haus ertönte ein entfernter Glockenschlag. Jocelyn sah aus dem Fenster. »Du liebe Güte, ist es etwa schon Mittag?«, rief sie. »Wir müssen los.« Sie band sich den Gürtel mit ihrem Degen um.

Anne ging zu der zweieinhalb Meter großen Rüstung, die neben der Tür stand. Dabei handelte es sich um einen der drei Eisernen Ritter, die der Akademie gehörten – oder genauer gesagt Anne. Sie hatte sie zusammen mit dem Rest von Saint Lupin’s geerbt, nachdem sie ihre erste Mission erfolgreich absolviert hatte. Solange sie den Panzerhandschuh trug, gehorchten sie ihren Befehlen. Interessanterweise befand sich oben in ihren Helmen ein kleiner weißer Stein, der rot aufleuchtete, wenn ihnen etwas missfiel. Der Ritter neben der Tür hatte eine schlichte hölzerne Kiste in den Händen.

Anne hielt inne.

»Stimmt was nicht?«, erkundigte sich Jocelyn.

»Ist das denn auch wirklich sicher?«, hakte Anne nach. »Dass ich mit dem Panzerhandschuh durch die Gegend reise, meine ich.«

»Warum sollte es das nicht sein?«

Anne trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. »Na ja, weil ich das letzte Mal, als ich ihn anhatte, eine Level-dreizehn-Mission aktiviert habe, bei der meine Freunde und ich fast draufgegangen wären; und die ganze Welt gleich mit dazu.«

»Und genau deswegen bist du jetzt für diesen Preis nominiert«, ergänzte Jocelyn mit einem Hauch von Stolz. Sie legte Anne einen Arm um die Schulter und drückte sie kurz. »Dieser Panzerhandschuh macht dich zu der, die du bist, Liebes: Anvil von Saint Lupin’s, Hüterin des Sperlings.«

Beim Klang ihres vollständigen Namens verzog Anne das Gesicht. Sie war ein Waisenkind, seit sie ein Säugling war, und hatte immer angenommen, dass derjenige, der ihr den Namen verpasst hatte, sich nicht viel dabei gedacht hatte. Doch das hatte sich vor zwei Monaten geändert, als sie entdeckt hatte, dass sich unterhalb der Akademie die Überreste eines Labors aus der Alten Welt befanden, in dem es eine kleine Kammer mit der Aufschrift PROJEKT A.N.V.I.L. gab. Worum es sich dabei handelte und was genau das alles mit Anne zu tun hatte, war nach wie vor ein Rätsel, was nicht zuletzt daran lag, dass das Labor bei einem Brand vollständig zerstört worden war und mit ihm sämtliche Hinweise. Genau genommen war so ziemlich alles an Anne nach wie vor ein Rätsel.

»Außerdem«, fuhr Jocelyn fort, »bleibt er ja die meiste Zeit in seiner Kiste. Abgesehen davon trägst du ihn jetzt schon seit einer Stunde, und das, obwohl es hier nur so von diesen Dingern wimmelt.« Sie deutete auf die Regale, wo Tausende von Medaillons auf kleinen Filzkissen unter Glasglocken lagen. Hinter jedem von ihnen verbarg sich eine Mission, die aktiviert werden konnte, indem man das betreffende Medaillon in die dafür vorgesehene Vertiefung eines Panzerhandschuhs einlegte. Anne erinnerte sich nur allzu gut daran, was vor zwei Monaten passiert war, als sie ihren Handschuh genau hier, in diesem Büro, angezogen hatte: Ein winziges Silbermedaillon war durch die Luft gesaust und hatte sich ganz von allein mit dem Panzerhandschuh verbunden. Jocelyn zufolge war so etwas noch nie zuvor passiert. Medaillons taten das normalerweise nicht.

Anne lächelte. »Danke. Ich möchte ihn wirklich gerne tragen. Es ist bloß …«

Jocelyn erwiderte ihr Lächeln. »Vollkommen verständlich, Liebes.«

Anne gab dem Eisernen Ritter einen Wink, und er folgte ihnen auf den Flur, durch die Empfangshalle und zur Haustür hinaus. Weit und breit war niemand zu sehen. Obwohl rein theoretisch jeder auf eine Mission gehen konnte, nahm die Akademie nur Schüler auf, die mindestens dreizehn Jahre alt waren. Alle Waisenkinder, die hier gelebt hatten, als Saint Lupin’s noch ein Waisenhaus gewesen war, und die noch zu jung waren, um sich an der Akademie einzuschreiben (was für alle außer Anne und Penelope galt), hatten ein passendes Zuhause gefunden. Das Trio schritt über die Zugbrücke, die sich über den Wassergraben mit den Zombiehaien erstreckte, und lief den Hügel zu einem kleinen Observatorium hinauf.

Unterwegs fiel Annes Blick auf einige große Inseln, die in der Ferne über den Himmel zogen. Es handelte sich dabei um die sogenannten Ebenen, aus denen die gesamte Welt bestand. Auch Saint Lupin’s gehörte dazu. Diese Ebenen kreisten um eine gewaltige Kugel, die gemeinhin als das »Große Leuchtende Feld aus Magie«, kurz GLFM, bekannt war. Alles zusammen bildete die Hierarchie.

Neben dem Observatorium befand sich ein Kreis aus flachen Steinen. Neben diesem Kreis lag ein sechs Meter langer Drache mit schwarzen Schuppen, winzigen Flügeln und einem Stachelschwanz im Gras. Beim Klang herannahender Schritte klappte der Drache ein smaragdgrünes Auge auf.

»Hi Nana«, sagte Anne.

»Das hat ja ganz schön lange gedauert«, erwiderte Nana mit dem für sie typischen tiefen, grollenden Knurren.

»Annes Uniform musste hier und da noch ein bisschen geändert werden«, erklärte Jocelyn.

Nana musterte den Mantel. »Sicher, dass ihr dabei nichts übersehen habt?«

»Schluss jetzt. Das reicht«, antwortete Jocelyn. »Sei so gut und bring uns einfach in die Hauptstadt. Wir sind sowieso schon spät dran. Und sieh zu, dass du gleich nachkommst. Wenn wir da ohne Drachen aufkreuzen, machen wir uns zum Gespött der gesamten Zeremonie.«

»Krieg ich die Überstunden bezahlt?«, fragte Nana.

»Die Ehre, nominiert zu sein, ist Bezahlung genug.«

Nana schnaubte. »Das dachte ich mir.«

Anne streifte ihren Panzerhandschuh ab und legte ihn in die Kiste, die der Eiserne Ritter trug. Sie klemmte sich die Kiste unter den Arm, bevor Jocelyn und sie in die Mitte des Steinkreises traten.

Nana erhob sich auf die Hinterbeine. »Einmal zwei Feuerbälle Richtung Hauptstadt – kommt sofort. Von einem hochintelligenten, permanent überarbeiteten und massiv unterbezahlten Drachen.«

Jocelyn machte den Mund auf, vermutlich, um Nana erneut zurechtzuweisen, doch der Drache war schneller und spie einen Ball aus leuchtend grünem Feuer aus.

Manchen Menschen mag das Reisen mittels Feuerball eher ungewöhnlich erscheinen – ganz besonders, wenn sie mitten in einer ausgewiesenen Feuerballlandezone stehen, während gerade einer eintrifft. Aber in der Hierarchie waren Feuerballreisen das am weitesten verbreitete Transportmittel überhaupt. Und auch das furchterregendste. Anne war zwar schon einige Male per Feuerball gereist, aber sie bezweifelte stark, dass sie sich jemals daran gewöhnen würde. Mit einem Standardmodell dauerte die Reise immer acht Stunden, egal von wo nach wo. Weil es sich jedoch um einen besonderen Anlass handelte, hatte Nana ausnahmsweise Premium-Feuerbälle rausgerückt (sonst eine ausgesprochen teure Form des Reisens), mit denen man sein Ziel im Handumdrehen erreichte.

Der Feuerball setzte Anne in einer Wolke aus Rauch und Asche inmitten einer anderen runden Steinfläche ab. Da Anne wusste, dass Jocelyn jede Sekunde folgen würde, verließ sie die Landezone so schnell wie möglich. Sie kam jedoch nicht weit, bevor ein großes, rothaariges Mädchen die Arme um sie schlang und sie fast zerquetschte.

»Hi Pen«, ächzte Anne mit einem breiten Grinsen. Penelope und sie waren zusammen im Waisenhaus aufgewachsen. Und für Anne gab es nur eine Sache, über die sie sich noch mehr freute als über den Preis: nämlich darüber, diesen Preis zusammen mit ihrer besten Freundin zu gewinnen.

»Wieso hat das denn so lange gedauert?«, erkundigte sich Penelope und ließ sie los. »Das Mittagessen fängt jeden Moment an.«

Anne zupfte an ihrem Mantel. »Meine Uniform musste erst noch nachgebessert werden.«

»Wenn du mich fragst, gibt es nur einen Weg, diese Dinger besser zu machen, und zwar, indem man sie verbrennt.« Penelope zerrte an ihrem Kragen. Ihre Uniform hatte ein Cape anstelle des Mantels und sah sogar noch mitgenommener aus. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass der, der sie entworfen hat, den Auftrag hatte, sie so hässlich und unbequem wie möglich zu machen.«

Ein zweiter Feuerball schlug in der Landezone auf, und Jocelyn trat aus der dazugehörigen Rauchwolke. Sie warf einen Blick auf Penelope und runzelte finster die Stirn. »Miss Shatterblade! Was um alles in der Welt hast du nur angestellt? Du bist ja vollkommen zerknittert!«

Penelope tippte auf das Heft ihres Schwerts, das von ihrem Gürtel hing. Das Schwert war aus Holz, wie es die Bestimmungen für Schüler im ersten Jahr vorsahen. »Ich hab ewig hier gewartet, und da dachte ich, ich könnte die Zeit nutzen, um ein bisschen mit den königlichen Wachen zu trainieren.« Penelope war die offizielle Kriegerin ihrer dreiköpfigen Abenteurertruppe, und sie liebte es zu trainieren, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot.

»Aber du schwitzt ja«, bemerkte Jocelyn.

Penelope versuchte, unauffällig ein paar Falten an ihrer Tunika glatt zu streichen.

»Ich finde, dadurch wirkt sie irgendwie härter«, warf Anne ein. »Wer weiß, vielleicht sitzt ja auch ein hübscher Prinz im Publikum. Falls der aus irgendeinem Grund gerettet werden muss, ist es doch besser, wenn man ihr gleich ansieht, dass sie die Richtige für diese Aufgabe ist, oder?«

Jocelyn zog eine Schnute, sagte aber nichts mehr. Anne unterdrückte ein Kichern, und Penelope raunte ihr ein kaum hörbares Danke zu.

»Wo ist Hiro?«, wollte Jocelyn als Nächstes wissen.

Penelopes gute Laune verflog mit einem Schlag. »Er treibt alle in den Wahnsinn«, schimpfte sie. »Ich meine, ich weiß ja, dass Sie ihn zum Sprecher der Akademie ernannt haben, weil er Dinge supergut organisieren kann und so, aber er macht schon den ganzen Morgen nichts anderes, als alle Welt rumzukommandieren. Wenn das so weitergeht, bringt ihn bald jemand um und verscharrt die Leiche, und ich fürchte, niemand würde ihn vermissen. Zum Glück sind seine Eltern gerade angekommen und haben ihm gesagt, er soll mal einen Gang runterschalten.«

»Hiros Familie ist hier?«, fragte Anne.

»Ja«, bestätigte Jocelyn. »Sie haben sich so gefreut, als ich sie über unsere Nominierung in Kenntnis gesetzt habe.«

Anne verspürte eine plötzliche Leere. Penelope und sie hatten beide keine Familie mehr. Anne hatte ihr gesamtes Leben auf Saint Lupin’s verbracht. Penelope dagegen war als kleines Mädchen dort gelandet, nachdem ihre Eltern durch einen tragischen Fehler während einer Abenteuermission ums Leben gekommen waren – einen derart unverzeihlichen Fehler, dass ihr Name seither auf ewig gebrandmarkt war. Sämtliche Akademien, an denen sich Penelope beworben hatte, hatten sie allein aufgrund ihres Namens abgelehnt. Hiro dagegen war auf eine der angesehensten Privatschulen gegangen, bevor er nach Saint Lupin’s gekommen war, und Anne wusste, dass seine Eltern für den Rat der Zauberer arbeiteten.

»Kommt Nana nicht?«, erkundigte sich Penelope.

»Ich bin doch hier«, antwortete eine Stimme hinter ihnen.

Alle drei zuckten zusammen und fuhren herum. Nana saß im Steinkreis.

»Ich weiß, Drachen können schneller fliegen als der Schall, aber musst du dich ständig so anschleichen?«, fragte Jocelyn und strich ihre Jacke glatt.

»Muss ich nicht, nein, aber es ist ganz eindeutig einer der Vorzüge meines Jobs«, erwiderte Nana. »Außerdem sind noch andere Drachen hier, und ich möchte nicht, dass der Eindruck entsteht, ich wäre Menschen gegenüber weich geworden oder so. Ich habe schließlich auch einen Ruf zu verlieren.« Ihren Worten zum Trotz zwinkerte sie Anne zu, als sie an ihr vorbeitrottete.

»Also dann, machen wir uns auf den Weg«, verkündete Jocelyn. »Eine kleine Verspätung mag zwar durchaus schick sein, aber wir wollen ja auch nicht unhöflich erscheinen. Der erste Eindruck zählt, vor allem, wenn man bedenkt, dass wir heute einen neuen Schüler kennenlernen werden.«

»Ein neuer Schüler kommt nach Saint Lupin’s?«, fragte Anne.

»Ja. Wir haben zahlreiche Bewerbungen erhalten, und nun, da die Renovierungen abgeschlossen sind und wir auch offiziell eröffnen können, habe ich mit dem Auswahlverfahren begonnen. So wundervoll ihr auch seid, drei Schüler sind für eine erfolgreiche Akademie einfach zu wenig. Aber ich denke, ich habe jemanden gefunden, der gut zu euch passen wird. Er wird auf der Preisverleihung zu uns stoßen und heute Abend mit uns nach Saint Lupin’s zurückkehren. Ich habe ihn bisher noch nicht getroffen, aber man hat mir gesagt, er würde einen roten Mantel tragen. Haltet also die Augen offen.«

Die drei Menschen folgten dem Drachen über die Seilbrücke, die von der Feuerballlandezone auf eine der größeren Ebenen der Hauptstadt führte. Die Stadt bestand aus Hunderten von Ebenen, die durch Brücken, Seile, Leitern und in einigen Fällen sogar durch dicke Baumwurzeln miteinander verbunden waren. Türme ragten bedenklich weit über die Ränder. Üppige Gärten erstreckten sich in alle Richtungen und füllten jede noch so kleine Lücke mit hohen Bäumen und bunten Blumen, und der Himmel war mit unzähligen Luftschiffen übersät. Im Zentrum des Ganzen, auf der größten Ebene von allen, stand ein Schloss aus leuchtend blauem Stein.

»Seht ihr, das ist der Saphirpalast«, erklärte Jocelyn.

Es dauerte einige Minuten, bis sie den Palast erreicht hatten, wo sie auf Rokk trafen, den drei Meter großen Metallmann, den Anne und ihre Freunde während ihrer ersten Mission kennengelernt hatten. Er war ein Geschöpf der Alten Welt, ein sogenannter Roboter – eine Person aus Metall, die eigenständig denken und handeln konnte. Auch er gehörte zu den Dingen, von deren Existenz Anne bis vor zwei Monaten nichts gewusst hatte. Aus Rokks rechter Schulter ragte ein dritter Arm hervor, wodurch er ein bisschen bucklig aussah, und auf seinem Rücken war das Wort PALADIN eingraviert. Rokk war das einzige andere Wesen mit gelben Augen, das Anne kannte, auch wenn seine Augen leuchteten, als würden dahinter winzige Feuer brennen.

Anne winkte. »Hi, Rokk.«

»Meinen Berechnungen zufolge liegen wir aktuell dreizehn Minuten und vier Sekunden hinter dem Zeitplan zurück«, sagte Rokk.

Der Palast war schwer bewacht, und so mussten sie sich in einer Reihe aufstellen, während die Wachleute sie nacheinander am Eingang kontrollierten. Eine Wache las Annes Namen von der Gästeliste ab, und eine zweite band ihr ein knallorangefarbenes Bändchen ums Handgelenk und ein weiteres um die Kiste mit ihrem Panzerhandschuh.

»Die gehören zusammen«, erklärte der Wachmann. »Ohne diese beiden Bändchen kommt der Handschuh nicht aus dem Schloss. Außerdem hat er bis zur Preisverleihung in seiner Kiste zu verbleiben. Er darf unter keinen Umständen vorher entnommen werden. Desgleichen darf kein Medaillon eingelegt und aktiviert werden.«

Anne sah, dass noch einige andere Leute eine ähnliche Kiste dabeihatten wie sie und ebenfalls mit Bändchen ausgestattet wurden.

Der Wachmann winkte Anne durch, und wenig später folgte auch der Rest ihrer Gruppe. Gleich hinter der Sicherheitsschleuse befand sich eine Nische mit einer großen, doppelflügeligen Tür. Über der Tür hing eine Plakette mit der Aufschrift:

MINENEINGANG

»Wer gräbt denn bitte eine Mine unter einem Palast durch?«, fragte Penelope.

»Die Minen waren schon da, bevor die Hauptstadt der Hierarchie hier entstanden ist«, antwortete Jocelyn. »Die gesamte Ebene ist mit Schächten untertunnelt, in deren Wänden sich immer noch Edelsteine und Adern der kostbarsten Metalle finden lassen. Einer dieser Schächte wird angeblich sogar Höhle der Magie genannt.«

Rokk ließ die Minen jedoch links liegen und geleitete die Gruppe stattdessen durch den langen Hauptkorridor des Palastes. Sie kamen an weiteren Türen vorbei, die mit Plaketten gekennzeichnet waren, darunter das SEKRETARIAT FÜR GERADE LINIEN UND RECHTE WINKEL, das BÜRO FÜR SPRECHENDE KANINCHEN, DIE WINZIGE WESTEN TRAGEN und zu guter Letzt sogar an einer Tür mit der Aufschrift NAMENLOSE ABTEILUNG. Schließlich kamen sie in einen geräumigen Speisesaal, der vor lauter Menschen und Drachen förmlich aus den Nähten platzte. Während Nana davonzog, um sich einer fröhlich lärmenden Gruppe Drachen in der Ecke anzuschließen, folgten die anderen Rokk zu einem Tisch am Rande des Raumes. Dort hatte sich bereits eine kleine Menschentraube um eine kurz gewachsene Frau in Schwarz gebildet. Sie war braun gebrannt und hatte schulterlanges grau-schwarzes Haar und war offenbar gerade dabei, eine Geschichte zu erzählen.

»… also habe ich ihn einfach aus dem Fenster hängen lassen, bis er ein Geständnis ablegte«, schloss sie.

Alle lachten. Gut, alle bis auf einen Jungen, der ebenfalls mit am Tisch saß. Er hatte beigefarbene Haut, braune Augen und langes schwarzes Haar, das er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Und gerade sah er ziemlich missmutig aus.

»Mutter«, sagte der Junge. »Die Arbeit, die du für den Rat der Zauberer verrichtest, unterliegt strengster Geheimhaltung. Du dürftest überhaupt nicht darüber reden!«

»Unsinn«, erwiderte die Frau unbekümmert. »Was kann es schon schaden, wenn ich eine harmlose kleine Geschichte mit meinen engsten Freunden teile? Außerdem wissen alle, dass ich sie im Handumdrehen mit der Kraft meines kleinen Fingers umbringen könnte, wenn sie auch nur ein Wort darüber verlieren.« Sie lächelte, während sie das sagte, aber in ihrem Blick lag stählerne Entschlossenheit.

Diesmal klang das Lachen der Leute etwas gedämpfter, und bald darauf löste sich das Grüppchen auf und verteilte sich unter den restlichen Gästen. Die Frau schien es nicht zu bemerken.

Anne und Penelope setzten sich neben den Jungen.

»Hi Hiro«, begrüßte ihn Anne.

Hiro nickte finster. Er war der Zauberer in ihrer Abenteurertruppe, hatte es aber nicht so mit echten Abenteuern.

Der Tisch war bereits gedeckt und bog sich förmlich unter einem Berg von Speisen: dicke Brotscheiben mit Butter, kleine Gemüsehäppchen, hoch aufgetürmte Sandwiches, eine Porzellanschüssel mit etwas, das nach Zwiebelsuppe roch, und ein violetter Saft, der nach Trauben schmeckte, als Anne einen Schluck davon nahm. Dazu gab es noch Schokoladentäfelchen, Kuchenstücke und einen Korb mit frischem Obst. Penelope zögerte nicht lange und fing an, sich ihren Teller vollzuladen.

Jocelyn kam dazu und schüttelte der Frau die Hand. »Schön, Sie wiederzusehen, Tora.«

Die Frau strahlte. »Jocelyn, Sie sehen wie immer fantastisch aus.« Dann klatschte sie in die Hände. »Und das müssen also die berühmte Anvil und Penelope sein. Oder sollte ich lieber sagen: berüchtigt?« Sie zwinkerte ihnen zu und schüttelte ihnen ebenfalls die Hand. »Ich bin Tora Darkflame, Hiros Mutter. Wie wundervoll, euch beide endlich kennenzulernen. Unsere Behörde hat natürlich schon eine eindrucksvolle Akte über eure Abenteurertruppe.«

Jocelyn und Mrs Darkflame setzten sich an den Tisch, und Rokk blieb an der Wand stehen.

»Hiro erzählt ja so viel Wunderbares über Ihre Akademie«, wandte sich Mrs Darkflame wieder an Jocelyn. »Noch einmal vielen Dank, dass Sie ihn so kurzfristig aufgenommen und ihm gleich so einen ehrenvollen Platz eingeräumt haben. Raiden und ich empfinden es als große Erleichterung zu wissen, dass er in fähigen Händen ist.«

»Das ist wirklich außerordentlich freundlich von Ihnen«, erwiderte Jocelyn. »Wo Sie Ihren Mann gerade erwähnen: Wo ist er eigentlich?«

Mrs Darkflame zeigte auf einen Punkt am anderen Ende des Saals. »Da kommt er schon.«

Der Mann, um den es ging, stürmte mit sichtlich erboster Miene auf sie zu. Er war groß und hatte einen Bauch von – höflich ausgedrückt – erstaunlichen Ausmaßen. Letzterer wurde noch durch seinen leuchtend grünen Smoking betont, der besonders um die Körpermitte herum bedenklich spannte. Dazu trug er ein drei Meter langes Silbercape, das hinter ihm herflatterte.

»Wusstest du«, verkündete Mr Darkflame, ohne sich lange mit Nebensächlichkeiten wie einer Einleitung oder Begrüßung aufzuhalten, »dass Jai Tigerclaw genau das Gleiche trägt wie ich, und das auch noch von exakt demselben Designer?«

Seltsamerweise war der eine Ärmel seines Jacketts so kurz, dass er am Ellbogen aufhörte und Mr Darkflames tiefbraun gebrannten Unterarm frei ließ. Der andere Ärmel dagegen reichte bis weit über seine Hand hinaus und sauste jedes Mal, wenn Mr Darkflame wütend damit herumfuchtelte, gefährlich durch die Luft. Und das passierte in seinem derzeitigen Zustand recht häufig.

»Ich habe einen Haufen Geld für dieses angeblich ›einzigartige‹ Outfit ausgegeben«, empörte er sich.

»Erinnere mich bloß nicht daran«, seufzte Mrs Darkflame.

»Und es war nicht mal ein Versehen«, fuhr ihr Mann fort. »Ganz im Gegenteil: Jai ist gezielt zu Henry gegangen, hat ihn gefragt, was ich bestellt habe, und dann verlangt, dass er das Gleiche für ihn anfertigt. Ich meine, ist das zu fassen? Was für eine bodenlose Unverschämtheit!« Währenddessen lief Mr Darkflame wild gestikulierend um den Tisch herum, sodass Anne, Penelope und Hiro ein ums andere Mal in Deckung gehen mussten und der Ärmel ihre Gläser mehrfach gefährlich streifte.

»Der General hat genauso ein Recht darauf, sich wie ein Idiot anzuziehen, wie du, mein Schatz«, erklärte Mrs Darkflame geduldig.

»Aber das ist einfach unerhört!«, tobte Mr Darkflame.

»Gewiss doch.«

In diesem Augenblick stieß ein weiterer, ebenso aufgebrachter Mann zu ihnen. Anne vermutete, dass es sich um General Jai Tigerclaw handelte, was sie vor allem daran festmachte, dass der Mann genau das Gleiche anhatte wie Mr Darkflame. Auch sein überlanger Ärmel flatterte wild in der Gegend herum und stellte für alle in seiner unmittelbaren Umgebung eine Gefahr für Leib und Leben – oder zumindest für Geschirr und Glaswaren – dar.

»Sir, ich sehe mich außerstande, Ihre Beleidigungen weiterhin ungestraft hinzunehmen«, polterte der General. Er zog einen weißen Handschuh hervor und schlug Mr Darkflame damit auf die Wange. »Ich fordere Sie hiermit zum Duell!«

»Das können Sie haben!«, brüllte Darkflame, dem vor Wut fast die Augen aus dem Kopf sprangen.

Penelope hopste aufgeregt auf ihrem Stuhl herum. »Oh, wow, ein Duell!«

Hiro seufzte bloß.

»Darf ich um die Waffe Ihrer Wahl bitten?«, forderte der General steif.

Mr Darkflame schnappte sich zwei Gegenstände vom Tisch. »Salatgabeln. Auf zehn Schritt.«

»Angenommen. Wen wählen Sie als Ihren Sekundanten?«

»Hiro kann der Sekundant für seinen Dad sein«, schlug Penelope vor. »Ich bin Ihrer, General.«

»Aber ich will mich nicht mit Salatgabeln duellieren«, protestierte Hiro, als Penelope ihn von seinem Stuhl zerrte. Die beiden Männer marschierten in die Mitte des Saals und stellten sich Rücken an Rücken auf. Die Menge machte ihnen eifrig Platz.

Jocelyn erhob sich vom Tisch. »Herrschaften, bitte! Denken Sie doch an die Kinder.«

»Ganz genau«, stimmte Penelope lauthals zu. »Sorgen Sie dafür, dass wir auch was sehen können. Ich will ja schließlich nichts verpassen.«

Anne war fasziniert. Sie hatte noch nie zuvor ein Duell erlebt. Als die beiden Männer Schritt für Schritt auseinandergingen, stellte sie sich auf ihren Stuhl, um eine bessere Sicht auf das Geschehen zu haben. Dabei war ihr allerdings die Kiste mit ihrem Panzerhandschuh im Weg. Sie beschloss, sie solange auf dem Tisch abzustellen. Doch dabei piekte sie irgendetwas Spitzes in den Handrücken, worauf ihr die Kiste aus der Hand fiel und polternd auf dem Boden aufschlug. Im nächsten Moment wurde sie von einem Fußtritt außer Reichweite befördert und verschwand in der Menge aus Menschen und Drachen, die sich begierig um die Duellanten drängte.

Anne ging auf die Knie und krabbelte auf allen vieren hinter der Kiste her. Nachdem sie sich eine Weile durch das wogende Meer aus Beinen gekämpft hatte, wobei sie höllisch aufpassen musste, nicht selbst einen Tritt abzubekommen, erhaschte sie einen Blick auf etwas Dunkles, Hölzernes, das am Nachbartisch unter einem Stuhl lag. Sie robbte hinüber, doch gerade als sie die Kiste erreicht hatte, griffen zwei Hände danach. Diese Hände gehörten einem Jungen, der dem Anschein nach ungefähr in ihrem Alter war. Er hatte kurzes schwarzes Haar, hellbraune Haut und blaue Augen und trug einen tiefroten Mantel.

Anne stand auf und wischte sich den Staub von den Knien. »Du musst der neue Schüler sein, der zu uns an die Saint-Lupin’s-Abenteuerakademie kommt. Danke, dass du meine Kiste gerettet hast. Ich hatte schon Angst, sie könnte etwas abbekommen.«

Der Junge sagte nichts. Stattdessen drehte er die Kiste ein paarmal herum und nahm sie von allen Seiten in Augenschein.

»Ich bin sicher, dass ihr nichts passiert ist.« Anne streckte die Hände danach aus. »Kann ich sie jetzt bitte zurückhaben?«

Doch der Junge drückte die Kiste an sich, machte auf dem Absatz kehrt und rannte durch die Menschenmenge davon.

DAS TAKTIKHANDBUCH BASISWISSEN
TISCHDECKEN

 

rät Folgendes zur optimalen Platzierung
der Salatgabel:

Die Salatgabel gilt schon lange als das Tödlichste unter den Besteckteilen. Wird Salat als Vorspeise gereicht, so hat die Salatgabel links von der Speisegabel zu liegen. Folgt der Salat auf den Hauptgang, platzieren Sie die Salatgabel rechts von der Speisegabel. Sofern jedoch noch vor dem Verzehr des Salates mit einem Duell zu rechnen ist, legen Sie die Salatgabel dorthin, wo sie am leichtesten zu erreichen ist.

Ergänzender Hinweis: Die Salatgabel eignet sich ganz besonders gut dazu, jemandem in den Handrücken zu stechen, um ihn dazu zu bringen, etwas fallen zu lassen, was Sie gerne stehlen möchten.

Der Preis der Abenteuerakademien

Völlig überrumpelt sah Anne zu, wie der Junge mit ihrer Kiste davonrannte.

Der Kiste mit dem Panzerhandschuh.

Ihrem Panzerhandschuh.

»Hey! Bleib stehen, du Dieb!«, brüllte sie.

Sie stürzte sich in die Masse aus Körpern und rammte sich mit den Ellbogen den Weg frei, wobei sie die vielen empörten Grunzlaute und Proteste ignorierte, die sie sich damit einfing. Ihr Blick fiel auf etwas Rotes hinter einer dicht zusammengedrängt stehenden Gruppe. Doch als sie dort ankam, musste sie feststellen, dass es sich bloß um eine Vase mit leuchtend roten Blumen handelte. Sie drehte sich nach links und rechts, wusste aber nicht mehr, in welche Richtung der Dieb gelaufen war.

Penelope kam mit Hiro im Schlepptau angerannt.

»Was machst du denn hier?«, rief sie. »Du verpasst ja alles! Mr Darkflame hat seine Gabel fallen lassen und muss sich jetzt mit einem Suppenlöffel gegen den General verteidigen.«

Hiro fasste Anne am Arm und sah sie besorgt an. »Hey, ist alles okay?«

Anne schüttelte den Kopf. »Jemand hat meinen Panzerhandschuh gestohlen.«

»Was? Wer?«, fragte Penelope. Sie zog ihr Holzschwert und ließ den Blick über die Menge schweifen.

»Ich glaube, es war der neue Mitschüler«, antwortete Anne. »Zumindest hatte er einen roten Mantel an, wie Jocelyn beschrieben hat.«

Penelope ließ ihr Schwert ein paarmal energisch durch die Luft sausen. »Zeig mir einfach, wer er ist, und ich verpasse ihm eine ordentliche Tracht Prügel.«

»Zu spät«, sagte Anne. »Ich habe versucht, ihn zu fangen, aber er ist mir entwischt.«

»Warum sollte jemand deinen Panzerhandschuh stehlen?«, wollte Penelope wissen.

»Machst du Witze?«, erwiderte Hiro. »Anne hat damit etwas Unmögliches erreicht, als sie ihre Level-dreizehn-Mission erfolgreich absolviert hat. Ich bin jetzt seit zwei Tagen hier, und es ist offensichtlich, dass sie dadurch zu einer Art Legende geworden ist. Ich wette, so mancher Abenteurer würde seine linke Hand dafür geben, nur einmal einen Blick auf diesen Handschuh werfen zu dürfen.«

Als er »linke Hand« sagte, blickte Anne auf ihr Handgelenk mit dem orangefarbenen Bändchen.

»Das ist es!«, rief sie.

Sie rannte aus dem Speisesaal und sprintete durch den weitgehend leeren Flur zurück zum Haupteingang.

Vor der Sicherheitsschleuse blieb sie stehen, und Penelope und Hiro schlossen zu ihr auf. Die Wachleute standen immer noch auf ihren Posten.

»Was war das denn?«, fragte Penelope ihre Freundin.

Anne hielt ihr Handgelenk mit dem Bändchen hoch. »Der Dieb muss noch irgendwo im Palast sein. Mit einem Panzerhandschuh kommt man hier nur raus, wenn man beide Bändchen hat.«

»Ganz schön clever«, meinte Hiro.

Weit und breit waren jedoch weder der Dieb noch sonst irgendeine verdächtige Gestalt zu sehen. Während Anne überlegte, wo sie als Nächstes nachschauen konnten, wurden sie beinahe von einer Schubkarre überrollt. Diese wurde von einem Mann geschoben, der so klein war, dass er Anne nur knapp bis zur Schulter reichte. Dafür war er mit mehr Waffen behangen als die gesamte Wachmannschaft zusammen.

»Hauptmann Copperhelm!«, rief Anne.

Der Mann sah auf. »Oh, ihr seid das«, knurrte er. Hauptmann Copperhelm war ihr Kampflehrer und außerdem Penelopes persönlicher Mentor.

In der Schubkarre lag ein alter, weißhaariger Mann in einer langen Robe. Sein Name war Sassafras, und er war ihr Professor für Magie. Er war bekannt dafür, dass er mitten im Satz einschlief. Anstelle einer Hand wuchs ihm auf magische Weise ein Schnabeltier aus dem linken Arm. Sassafras schlief tief und fest, doch das Schnabeltier war wach und ließ sich einen Teller Partyhäppchen schmecken.

»Was macht der Zauberer in der Schubkarre?«, erkundigte sich Penelope.

Copperhelm zuckte mit den Schultern. »Er ist vor lauter Aufregung eingeschlafen. Ich war auf der Suche nach einem Ort, wo ich ihn gefahrlos abstellen kann.«

»Warum isst sein Schnabeltier Windbeutel mit Austernfüllung?«, wollte Hiro wissen.

»Damit es ruhig bleibt«, entgegnete Copperhelm.

Der Zauberer regte sich. »Was ist los?«, fragte er. »Habe ich mein Mittagsschläfchen verpasst?«

»Du hältst gerade dein Mittagsschläfchen, du Schwachkopf«, brummte Copperhelm.

»Oh, gut«, sagte Sassafras beruhigt und schlief prompt wieder ein.

»Hauptmann Copperhelm, wir brauchen dringend Ihre Hilfe«, flehte Anne.

Copperhelm musterte die Gruppe. »Lasst mich raten. Ihr habt euch das Duell im Speisesaal angeguckt, und während ihr abgelenkt wart, hat jemand den Panzerhandschuh gestohlen.«

Annes Gesicht lief rot an. »Das ist nicht … Ich habe nicht … Ich habe vom Duell überhaupt nichts mitbekommen.«

Copperhelm schüttelte den Kopf und schob die Schubkarre abseits der Sicherheitsschleuse an die Wand. »Dämliche Anfänger … kein Fünkchen Verstand im Kopf … sprengen wahrscheinlich noch die ganze Stadt in die Luft, bevor der Tag rum ist … und ich? … Hochdekorierte militärische Laufbahn … im Kampf unbesiegt … Und jetzt schiebe ich Zauberer in Schubkarren durch die Gegend und suche nach verschwundenen Panzerhandschuhen, weil ihre Besitzer nicht in der Lage sind, auch nur fünf Minuten auf sie aufzupassen.«

Mit Anne und ihren Freunden im Schlepptau marschierte Copperhelm zu den Wachleuten. »Es gab einen Diebstahl«, verkündete er. »Ihr werdet uns bei der Suche nach dem Schuldigen helfen.«

Der angesprochene Wachmann musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Ähm, nichts für ungut, Kumpel, aber warum sollten wir auf Sie hören?«

Anstelle einer Antwort zog Copperhelm ein Kärtchen aus der Tasche und reichte es dem Wachmann. Anne las über seine Schulter mit:

Kaum dass der Wachmann mit Lesen fertig war, stand er stramm und salutierte vor Copperhelm. »J-jawohl, Sir! Z-zu Befehl, Sir!«, stotterte er.

»So gefällt mir das schon viel besser«, brummte Copperhelm vor sich hin.

Während der Wachmann die Karte seinen Kameraden zeigte, kamen Jocelyn, Nana, Rokk und Mrs Darkflame angerannt.

»Wo um alles in der Welt habt ihr nur gesteckt?« Jocelyn klang verärgert. »Wir haben schon überall nach euch gesucht. Die Zeremonie fängt gleich an.«

»Der neue Schüler hat meinen Panzerhandschuh gestohlen!«, rief Anne.

Auf der Stelle schlug Jocelyns Stimmung um. »Geht es dir gut?« Sie begann, an Anne herumzuziehen und zu -stochern, um herauszufinden, ob sie verletzt war.

»Ja, alles in Ordnung«, beschwichtigte Anne. »Er ist uns entwischt, aber wir glauben …«

»Habt ihr den Diebstahl gemeldet?«, schnitt Mrs Darkflame ihr das Wort ab.

»Noch nicht, aber …«

»Die hier gehören zu mir«, verkündete Copperhelm und zeigte auf die Wachleute. »Wir sehen uns mal im Umkreis des Schlosses um.« Er führte die Wachen durch die Sicherheitsschleuse nach draußen.

»Also, ehrlich gesagt«, warf Anne ein, »glauben wir, dass er …«

»Rokk, würdest du bitte mit dem Obersthofmeister sprechen?«, bat Jocelyn. »Er leitet die Zeremonie und sollte über die Vorkommnisse informiert werden. Auch wenn ich annehme, dass sie die Verleihung trotzdem wie geplant durchziehen werden. Das ist nicht das erste Mal, dass so was passiert.«

»Positiv«, sagte Rokk und machte sich auf den Weg.

»Aber …«

Jocelyn wandte sich an Mrs Darkflame. »Tora, könnten Sie sich in der Zwischenzeit mit Ihrem Netzwerk in Verbindung setzen? Sie verfügen doch zweifelsohne noch über ganz andere Mittel als der Palast.«

»Wird erledigt«, versprach Mrs Darkflame und lief los.

»Ich sage den anderen Drachen Bescheid«, meinte Nana und trabte ebenfalls davon.

»Gut, damit wäre das erledigt.« Jocelyn richtete ihre Frisur und strich ihre Weste glatt. »Dann begleite ich euch jetzt zur Zeremonie in der Königlichen Bibliothek. Ich fürchte, das Mittagessen haben wir verpasst, aber wenn wir uns beeilen, sollten wir gerade noch rechtzeitig zur Verleihung kommen.«

Annes Magen knurrte. Sie hatte kaum etwas gegessen.

»Erwachsene …«, raunte Penelope ihr zu. »Was soll man da machen?«

»Was ist mit Professor Sassafras?« Hiro zeigte auf den schlafenden Zauberer.