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Marcel Weyers

Rabentränen

Bis Mitternacht verloren





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Impressum

Rabentränen – Bis Mitternacht verloren

von Marcel Weyers

 

Band 2 der Raben-Saga

 

E-Book, erschienen im November 2014

Copyright © Marcel Weyers, 2014

www.marcel-weyers.de

info@marcel-weyers.de

 

Lektorat: Christina Schuster

Covergrafik: Jaroslaw Grudzinski/Shutterstock.com

Coverbearbeitung und -gestaltung: BuchGewand

 

Marcel Weyers

Großenhainer Str. 135

01129 Dresden

 

Alle Rechte vorbehalten.

Sämtliche Personen und Geschehnisse in dieser Geschichte sind frei erfunden oder wurden fiktionalisiert. Jegliche Ähnlichkeiten sind rein zufällig.

 

Marcel Weyers ist ein Autor, Übersetzer, Lektor und Videospielentwickler. 2011 erschien mit „Schatten“ sein Debütroman, welcher Auftakt einer Trilogie war.

Für zahlreiche Videospielfirmen übersetzte er sowohl freie als auch kommerzielle Videospiele ins Deutsche, darunter insbesondere Visual Novels.

Seine Videospielserie „Sleepless Night“ wurde in über 10 Sprachen übersetzt. Für weitere Informationen besucht die Raben-Saga auf Facebook oder geht auf www.marcel-weyers.de.

 

Auch von Marcel Weyers:

Die Schatten-Trilogie

  1. Schatten

  2. Schattenjäger

  3. Schattenland

Depths of Forever

Prolog

Salem, Massachusetts

Jahrelang habe ich unter dem Fluch gelitten, doch so etwas ist noch nie passiert. Ich verliere die Kontrolle über meinen Körper, meine Gedanken drehen sich im Kreis und das Schlimmste: Ich habe keinen Einfluss mehr auf die Verwandlung. Jetzt stehe ich hier – ein dreihundert Jahre alter Rabenmensch – mitten unter einer Horde heranwachsender Abschlussschüler. Abigail starrt mich bloß entgeistert an; ich kann mir nur vorstellen, was jetzt in ihr vorgehen muss. Ich habe es versaut. Der erste Versuch, mich wieder unter Menschen zu mischen, ist kläglich gescheitert.

Durch Abigail war es mir für kurze Zeit gelungen, meine Menschlichkeit zurückzuerhalten, mich wieder normal zu fühlen. Doch jetzt habe ich nur noch einen Gedanken: Rache. Diesen Fluch habe ich einer gewissen Hexe zu verdanken. Und diese Hexe ist Abigails Mutter, Elizabeth. Meine Flügel schlagen aus und reißen die Erdbeerbowle vom Tisch, das Holz der Dielen knarrt und die Menge schreckt vor mir zurück. Meine Haut brennt, meine Augen tränen und als die Verwandlung vollzogen ist, kann ich ein unmenschliches Krächzen nicht unterdrücken. Mein menschliches Bewusstsein entgleitet mir.

Flügelschlagend flüchte ich aus dem Raum und lasse Abigail allein zurück. Es ist mir alles egal. Alles, was ich will, ist Elizabeth. Ich werde sie finden und ich werde sie töten.

 

Kapitel 1: Das Biest

Noch immer stehe ich wie versteinert in der ohrenbetäubend lauten Sporthalle. Mein Blick ist auf den Ausgang gerichtet, durch den Corvus gerade verschwunden ist. Ich kann nicht glauben, was gerade passiert ist. Mein Herz rast.

»Abi!« Julie kommt auf mich zugerannt, »Du musst etwas unternehmen. Lass die Leute das alles vergessen.« Verwirrt starre ich sie an, aber im nächsten Augenblick wird es mir klar. All meine Mitschüler haben Corvus gesehen, wie er sich in einen Rabenmenschen verwandelt hat. Es ist an mir, sie das vergessen zu lassen. Ich hoffe nur, ich habe die Kraft dazu.

Es muss einfach funktionieren. Noch nie habe ich Julie so ernst gesehen. Ich weiß, sie hat recht, aber kann ich das überhaupt? Alle Augen sind auf mich gerichtet.

Konzentriert halte ich den Edelstein in meinen Händen. Den Rhodonit habe ich von Corvus und angeblich verstärkt er meine Hexenkräfte. Zitternd schließe ich meine Hand und gleichzeitig meine Augen. Eine Massenhysterie in Salem kann jetzt wirklich niemand gebrauchen. Ich spüre einen Windzug und weiß sofort, dass der Zauber gewirkt hat. Wenigstens haben mich nicht all meine Kräfte verlassen.

Als ich die Augen öffne, merke ich, wie Blut auf mein schwarzes Kleid tropft. Mit der Rückseite meines Arms wische ich mir über die Nase. Alles ist voller Blut. Das muss von der ganzen Aufregung kommen. Aber warum fühle ich mich plötzlich so schwach?

»Hat es funktioniert?«, fragt Julie leise. Mit einem angedeuteten Lächeln wende ich mich ihr zu und nicke. Das Bluten hat bereits aufgehört und ich glaube, sie hat es nicht bemerkt. Ich hasse es, wenn sich andere Sorgen um mich machen.

»Keiner hat das eben gesehen, außer wir beide«, versichere ich ihr. Sie streift sich erleichtert den Schweiß von der Stirn und verschmiert dabei ihr Make-up.

»Was war das gerade? Ich meine, du hast mir von Corvus’ Rabenseite erzählt, aber ich dachte, er hätte darüber die Kontrolle.« Julie folgt mir, während ich die Sporthalle verlasse. Ich habe genug vom Abschlussball. Vielleicht hätte ich doch lieber mit Julies Cousin kommen sollen. Oder noch besser: gar nicht.

»Das dachte ich auch, aber anscheinend ist es nicht so. Meine Mutter muss dahinterstecken, sie hat den Fluch vermutlich irgendwie … verschlimmert.« Ich zucke mit den Schultern und schüttle den Kopf. Das alles kann doch einfach nicht wahr sein. Vielleicht hätte ich mich doch aus dieser ganzen Sache heraushalten sollen. Aber ich habe es Corvus versprochen. Ich will ihm helfen und ich weiß, dass er sonst niemanden hat.

»Und was hast du jetzt vor?« Julies Stimme klingt weder ängstlich noch verzweifelt; im Gegenteil, vielmehr ist sie aufgeregt. Sie ist wieder ganz ihr typisches Selbst. Und das nervt mich total.

»Keine Ahnung, wo er hin ist. Ich schätze, ich werde mal bei ihm zu Hause vorbeischauen.« In dem Moment sehe ich, wie jemand anderes aus der Sporthalle kommt. Vermutlich Julies neuer Freund.

»Was ist denn los, Julie?« Kyle sieht nicht aus wie Julies übliche Freunde. Sein schulterlanges, braunes Haar hat er zu einem Zopf gebunden und sein Anzug erinnert mich an Corvus auf dem Maskenball.

»Es ist nichts, Kyle. Geh doch wieder rein, ich bin gleich da.« Er nickt uns ernst zu und geht ein paar Schritte über den Schulhof, bevor er sich eine Zigarette ansteckt. Ein Raucher also. Rauch – wie ich ihn hasse.

»Ich muss gehen, Julie. Corvus braucht meine Hilfe.« Sie verschränkt die Arme und runzelt die Stirn.

»Du musst Corvus helfen?«, fragt sie ungläubig und irgendwie kann ich ihre Skepsis verstehen. Vor ein paar Tagen war mir dieser Kerl noch völlig egal. Aber unser kleines Abenteuer hat uns unweigerlich nähergebracht, auch wenn ich es ungern zugebe. Er hat mich davor bewahrt, gehängt zu werden. Auch wenn ich durch ihn in diese ganze Sache erst hineingerutscht bin, kann ich das nicht einfach vergessen und ihn jetzt im Stich lassen.

»Ich weiß, das klingt verrückt. Du bist meine beste Freundin, bitte vertrau mir.« Sie lächelt wieder und nickt.

»In Ordnung, ich halte hier die Stellung.« Ich danke ihr und mache mich auf den Weg. Zuvor muss ich aber noch etwas loswerden.

»Dein Freund hätte sich ruhig mal vorstellen können und übrigens: Rauchen geht gar nicht.« Ich deute zu Kyle auf der Wiese ein paar Meter von uns entfernt. Sie verzieht bloß das Gesicht und macht eine Handbewegung, um mir zu bedeuten, mich zu beeilen. Auf zu Corvus‘ Villa.

 

Dort angekommen finde ich die Haustür unverschlossen vor. Am Türrahmen sehe ich Kratzspuren und auf einmal bekomme ich Angst. Vorsichtig schiebe ich die Tür auf und betrete das dunkle Haus. Überall liegen schwarze Federn und ich frage mich, was hier bloß los gewesen ist. Obwohl ich die Antwort wohl lieber nicht wissen will.

»Corvus? Bist du hier?« Eigentlich habe ich keine Antwort erwartet, daher schrecke ich auf, als seine Stimme aus dem düsteren Wohnzimmer kommt.

»Geh weg, Abigail.« Oh Corvus, das kommt nicht infrage. Ich zögere nicht und gehe in den Raum. Dort finde ich ihn sofort. Er liegt mit dem Bauch auf dem Sofa; nackt!

»Corvus! Kannst du dir bitte etwas anziehen?« Ich schirme meinen Blick mit meiner Hand ab. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie er seinen Kopf hebt.

»Ich hatte dich gewarnt.« Genervt schnalze ich mit der Zunge. Hat er in solch einem Moment wirklich nur im Kopf, mich zu ärgern? Doch dann höre ich ein lautes Schluchzen. Ich lasse meine Hand sinken und eile zu ihm ans Sofa.

»Was ist los, Corvus?« Ich habe ihn noch nie so aufgewühlt gesehen und vergesse dabei fast die Tatsache, dass er nackt ist.

»Ich habe keine Kontrolle mehr. Seit wir zurückgekehrt sind, konnte ich mich nicht mehr verwandeln. Erst war ich erleichtert, aber das … das ist tausendmal schlimmer.« Er drückt seinen Kopf in ein Kissen. Ich würde ihm jetzt tröstend eine Hand auf die Schulter legen, aber sein nackter Po hält mich davon ab, ihn zu berühren.

»Wir bekommen das wieder hin«, flüstere ich ihm zu. Plötzlich reißt er seinen Kopf wieder nach oben.

»Das wieder hinbekommen? Abigail! Ich bin eine Bestie. Als ich mich verwandelt habe, hatte ich keinen anderen Gedanken als zu töten! Ich musste sofort verschwinden, sonst hätte ich jemandem den Kopf abgerissen!« Sein Ausbruch macht mir Angst, aber ich weiche nicht zurück. Ich kann ihn so nicht allein lassen. »Dieser Jemand hättest du sein können.« Wieder lässt er seinen Kopf sinken. Ich spüre, wie mir die Farbe aus dem Gesicht weicht.

»Das bist nicht du, Corvus. Das ist Elizabeths Werk.« Doch Corvus scheint nicht zuzuhören. Ich kann es ihm nicht verübeln; ich wüsste nicht, wie ich mit diesem Fluch umgehen würde.

»Da war nichts Menschliches mehr an mir. Es war fast so, als wäre ich wirklich ein … Tier.« Er spricht vor sich hin, als wäre ich nicht da. Irgendwie wünsche ich mir den frechen, vorlauten Corvus zurück.

»Hör zu, ich lass dich damit nicht allein. Wir finden eine Lösung«, sage ich und lege jetzt doch eine Hand auf seinen blonden Haarschopf.

»Danke, Abigail.« Ich bleibe noch, bis er eingeschlafen ist und mache mich dann auf den Nachhauseweg. Was für ein toller Abend.