Blackwords-Verlag
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****Vollständige Print Ausgabe
****des im Blackwords-Verlag erschienenen Werkes
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****Für die Originalausgabe:
****Copyright © 2018 Blackwords-Verlag
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****Umschlagsgestaltung : ©Adrian Daray, Stuttgart
****Datenkonvertierung E-Book : ©Adrian Daray, Stuttgart
****Audiobook Produktion : © Adrian Daray, Stuttgart
****Autorenfoto : © www.joko-style.de
****Alle Rechte vorbehalten
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**** www.blackwords.de
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**** Adrian Daray
**** Night
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**** For Chris
**** In memory of Bella & Rebecca
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Prolog

»Mein Name ist Charlie Nolan. Ich möchte nicht lange um den heißen Brei reden und gleich beginnen. Ich erzähle Ihnen die Geschichte um Sie zu warnen, nicht um Ihnen Angst einzujagen. Ich möchte, dass Sie mir genau zuhören und auf jedes Detail achten, vielleicht rettet Sie dieses Wissen Ihr Leben.
****Alles begann mit einer Reise. Mein Freund und Arbeitskollege Pete Warren und meine Wenigkeit, wollten schon immer mal raus. Einfach mal raus aus dem Alltag, raus aus diesem New Yorker Großstadtstress, der uns beide zum Wahnsinn getrieben hatte. Wir waren völlig ausgebrannt. Unsere Jobs nahmen uns beinahe die Luft zum Atmen.
****Pete war Versicherungsvertreter eines großen Unternehmens und ich bin Anwalt in derselben Firma. Dort haben wir uns auch kennengelernt. Schon damals hatten wir bemerkt, dass wir ähnlich tickten. Wir lachten über die gleichen Witze und hatten oft dieselbe Meinung, egal zu welchem Thema. Es hatte sich dadurch in den letzten Jahren eine gute Freundschaft entwickelt, und ich muss zugeben, so eine hatte ich selbst in meiner Studienzeit nie. Wir konnten auch über fast alles reden. Das war mir äußerst wichtig. Nur bei Frauen haperte es, das war irgendwie von Anfang an ein Tabuthema.
****Dennoch verstanden wir uns prächtig. Wir hatten auch viel gemeinsam unternommen. Wir spielten Tennis, waren im selben Sportstudio angemeldet, besuchten am Wochenende Diskotheken und in letzter Zeit verreisten wir häufig. Zu Anfangs blieben wir im Land, besuchten interessante Orte, wie zum Beispiel das Lincoln Memorial in Washington DC oder den Hershey Park in Pennsylvania. Erst in den letzten Monaten haben wir die Landesgrenzen verlassen und besuchten zwei dreimal Kanada, um etwas mehr die Natur genießen zu können. Toronto war dennoch interessant, zuletzt nicht nur wegen des größten Fernsehturms auf der Weltkugel.
****Ich kann mich sogar noch an den Trip nach Alaska erinnern, als wir uns in der Nähe des Yukon Charley River Reservats befanden, da wir auf ein Abenteuer aus waren. Vor vielen Jahren gab es einmal eine Serie von Morden, die nie wirklich aufgeklärt wurden. Wir kamen damals auf den seltsamen Trichter, dass uns solch eine Geschichte aus unserem Alltag mehr herausbringen könnte, als ein langweiliger Besuch in einem Museum. Doch wir fanden nicht viel heraus, die Leute dort waren mehr als schweigsam. Selbst in New Rock, einem kleinen Kaff in der Nähe von Fairbanks, in dem die Morde stattgefunden haben, konnte man uns nie wirklich etwas sagen. Entweder wollten sie nichts preisgeben, oder sie konnten es einfach nicht mehr, da die Zeit bereits alles verschluckt hatte. Es lagen immerhin schon dreißig Jahre dazwischen.
****Ich könnte heute noch schmunzeln, als Pete sich als Privatermittler ausgegeben und Leute befragt hatte. Was für eine peinliche Situation das für mich war. Doch Pete war dies egal. Er sagte stets: »Charlie, wer nichts wagt, der nichts gewinnt, völlig egal was die Leute sagen. Tu immer das, worauf zu gerade Lust hast, denn schon bald bist alt und wirst es bereuen, es nicht getan zu haben!«
****Seine Worte hatten mich damals schon beeindruckt und im gewissen Sinne hatte er wirklich Recht. Dennoch, ein gewisses Maß an Vernunft sollte trotzdem vorhanden sein, sonst wäre ich jetzt nicht in dieser misslichen Lage.
****Ich gebe bis zum heutigen Tage dieser Alaska-Reise die Schuld. Die hat es ohne Zweifel ausgelöst. Pete war damals wie Feuer und Flamme. Er war sowieso mehr der Abenteuer von uns. Er wollte unbedingt viel erleben und umso verrückter desto besser. Es war übrigens auch seine Idee nach Mexiko zu gehen, um ein besonderes Abenteuer zu erleben. Ich war von Anfang nicht begeistert, wenn man an den Drogenkrieg denkt, der dort in einigen Bundesstaaten tobt. Doch ich konnte ihn nicht davon abbringen. Er wollte es unbedingt. Also stieg ich mit ein.
****Wenn ich nur daran denke, wird mir ganz mulmig zumute. Wenn ich gewusst hätte, wie lange dieser Zwangsurlaub ginge, hätte ich mich nie und nimmer darauf eingelassen. Mir wäre es fast schon lieber gewesen, dass ich unseren Flieger zum Abstürzen gebracht hätte, dann wäre es wenigstens schnell gegangen.
****Genau heute vor einem Jahr hatten wir uns auf den Weg gemacht. Ich weiß es deshalb so genau, weil heute der Tag ist, der hier alles verändern wird.
****Schon bald wird die Sonne untergehen und das Erbe des Teufels wird an die Menschen vermacht.
****Möge Oktavios Pakt in die Ewigkeit eingehen!«
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Erstes Buch: Tageslicht

Aufbruch nach Aztlán

Es war gerade mal sieben Uhr morgens, als die Klingel einen fürchterlich schrillen Ton von sich gab. Ich schreckte förmlich auf, als Pete wie ein entlaufener Irrer auf dem Knopf beinahe kleben blieb. Er konnte es wie immer nicht erwarten. Mit müden Knochen erhob ich mich aus meinem Bett.
****»Beweg dich!«, rief er mir schon auf dem Hausflur entgegen, als er gutgelaunt die Treppe nach oben stiefelte. »Wie kann man nur an so einem schönen Tag noch in den Federn liegen? Draußen scheint schon die Sonne!«
****Wortlos stapfte ich zurück in die Küche.
****»Willst du auch einen Kaffee?«
****Er winkte ab. »Ich hatte schon zwei Tassen, aber tu dir keinen Zwang an.«
****»Wie ehrenvoll von dir«, erwiderte ich genervt.
****»Lass´ dir Zeit, unser Flieger startet erst in eineinhalb Stunden. Das schaffen wir mit links.«
****Pete ging ans Fenster und starrte hinaus, während ich meinen Muntermacher in mich hineinkippte.
****»Ich konnte heute Nacht wenig schlafen, irgendetwas hielt mich wach.«
****Pete sah zu mir rüber. »Du siehst auch sehr müde aus. Aber mach dir keine Sorgen, im Flugzeug kannst du bestimmt etwas schlafen.«
****»Wenn du mich nicht völlig tot quasselst, bestimmt.«
****Er grinste. »Komm schon, Charlie, drei Stunden werden dir bestimmt ausreichen.«
****»Drei Stunden achtunddreißig, wenn du es genau wissen willst. Außerdem weißt du, dass ich nicht gerne fliege. Ich werde bestimmt kein Auge zu tun. Ich hasse diese Turbulenzen.«
****Pete kam ein paar Schritte auf mich zu. »Keine Sorge, Charlie. Ich lenke dich schon ab.«
****»Das habe ich befürchtet«, murmelte ich sarkastisch, während ich den letzten Schluck Kaffee in mich rein goss.
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****Eine halbe Stunde später befanden wir uns bereits auf dem Flughafen. Das von Pete vorbestellte Taxi hatte uns pünktlich hingebracht, so dass wir genügend Zeit hatten unser Gepäck aufzugeben, einzuchecken und uns durchsuchen zu lassen. Selbst für einen zweiten Kaffee blieb noch Zeit. Pete trank auch nochmal einen.
****»Ich freue mich wahnsinnig darauf Mexiko zu besuchen!«
****»Handgranaten dabei?«, forschte ich nach.
****Pete lächelte und wusste, dass ich auf die stetigen Unruhen ansprach, die in diesem Land andauernd stattfanden.
****Doch er beruhigte mich. »Wir fliegen nach Mérida, Charlie. In diesem Bundesstaat gibt es keine Drogenkartelle. Yucatán ist ungefährlich. Ich habe mich deswegen extra schlau gemacht. Der Osten des Landes ist sehr friedlich. Der ganze Drogenkrieg von dem sprichst, findet im Norden des Landes statt. Wir brauchen keine Befürchtungen zu haben. Du wirst sehen, alles wird prima.«
****»Deine Ruhe würde ich gerne haben«, konterte ich.
****»Charlie«, tadelte er mich. »Mérida ist das Tor der Welt. Wir werden unseren Spaß haben.«
****Pete kramte eine Art Reiseführer heraus. »Sieh mal!«
****Er zeigte auf einige Sehenswürdigkeiten, die in dieser Broschüre abgebildet waren.
****»Es ist eine alte spanische Siedlung, die im sechzehnten Jahrhundert gegründet wurde. Ist das nicht fantastisch? Es ist eine alte Maya-Stadt! Schau dir das mal an! Wie findest du die alte Kathedrale von San Ildefonso? Sieht das nicht wunderschön aus?«
****Mit meinen noch etwas müden Augen starrte ich auf das Bild. Vor mir offenbarte sich ein helles, hohes Gebäude mit zwei Türmen an der Seite, wogegen in der Mitte eine Art von Torbogen war, der aber zum Dach hin gerade verlief. Der Putz hatte bereits einen altersbedingten Gelbstich, seltsamerweise aber nur im unteren Bereich, bis etwa zur Hälfte. Drei schwarze Türen wies das Bauwerk vor, die wie dunkle Löcher aussahen. In der oberen Hälfte konnte man ein großes Emblem erkennen, das wohl aus jener Zeit stammte.
****»Was ist das?«, hakte ich nach.
****Sofort nahm sich Pete wieder die Broschüre an sich.
****»Wenn du das Symbol auf der Kathedrale meinst, so kann ich dir sagen, dass dies das Zeichen des Erzbistums ist. Die Stadt ist eine römisch-katholische Gemeinde. So steht es zumindest gleich hier drunter.«
****Doch ich schüttelte mit dem Kopf. »Das habe ich nicht gemeint, Pete.«
****Er sah mich stirnrunzelnd an.
****»Ich meinte dass, was ich auf dem linken Turm erspäht habe.«
****Sofort starrte Pete auf den in drei abgestuften Turm, mit den drei rechteckigen Fensteröffnungen. »Ich erkenne nur die drei Glocken in verschiedenen Größen. Was meinst du denn genau?«
****Ich grinste in mich hinein. Selbstverständlich war nichts dort zu erkennen, doch ich genoss für einen kurzen Moment Pete endlich mal zum Schweigen gebracht zu haben, mit nur so einer kleinen Lappalie.
****Ich tat so, als hätte ich mich vertan.
****»Hm«, murmelte ich gespielt perplex. »Ich muss mich echt getäuscht haben. Es muss das Licht gewesen sein, dass mir einen Streich gespielt hat. Du hast Recht, Pete, es ist wirklich nichts zu sehen.«
****Doch er ließ sich so nicht abspeisen. »Was glaubst du denn gesehen zu haben?«
****»Nicht so wichtig. Ich dachte nur…« Ich brach den Satz ab. »Wann geht unsere Maschine?«
****Er atmete tief durch, bevor er letztendlich antwortete. »Um 8:30 Uhr. Wir können aber bereits eine halbe Stunde vorher an Bord. Wir haben also noch zehn Minuten.«
****Ich bemerkte, wie ich ihn mit meinem Fake völlig durcheinander gebracht hatte. So kannte ich ihn gar nicht. Seltsam. Rasch versuchte ich ihn wieder abzulenken.
****»Was gibt es sonst noch so in der Stadt zu sehen?«
****Pete drehte die Broschüre zu mir. »Das Paseo de Montejo«, ließ er feierlich verkünden. »Das Monument für das Vaterland!«
****Ich sah auf ein Gebäude, das stark einer römischen Arena glich. Eine helle Mauer umgab das runde Monument, zu dem man über eine breite Treppe Zugang hatte. Doch am gewaltigsten war die an die Wand gemauertes Statue, die extrem an die Zeit der Maya erinnerte. Wie ein großer Totem stand sie dort, die jeden Besucher von oben herab ansah. Überall gab es Inka – Symbole und vermittelten einem den Eindruck, dass man dort eine andere Welt betreten würde.
****»Nicht schlecht, Pete. Es ist sehr sehenswert!«
****Endlich lachte er wieder. »Ich sagte doch, dass es dir gefallen wird. Ist deine Tasse leer?«
****Pete drängte also zum Aufbruch.
****»Sofort«, erwiderte ich.
****Auf dem Weg zur Maschine flogen mir so einige Gedanken durch den Kopf. Groteskerweise fiel mir meine gescheiterte Beziehung ein, die mir nicht gerade eine gute Laune bescherte. Maria hatte vor drei Monaten Schluss gemacht, kurz bevor wir eigentlich in den Urlaub fliegen wollten. Diese ganze Misere machte mir bis zum jetzigen Zeitpunkt zu schaffen und dieses ganze Gedöns von Flugstornierungen raubte mir damals den letzten Nerv. Es war genau an diesem Terminal.
****»Könnten Sie mir nochmal Ihren Flugschein zeigen, Sir?«
****Ich reagierte nicht. Ich hatte den starren Blick.
****»Charlie!«, rief Pete. »Deinen Flugschein!«
****Wie aus einem Alptraum gerissen wurstelte ich mein Ticket aus meiner Tasche, während mich Pete ernst ansah.
****»Ist mit dir irgendetwas?«
****Ich schüttelte mit dem Kopf. »Nein, alles in Ordnung. Ich war nur eben in Gedanken.«
****Auf der Passagierbrücke sprach mich Pete nochmals darauf an. »Mit dir stimmt doch etwas nicht. Sprich mit mir, wenn dich was bedrückt.«
****»Schon gut, Pete. Mich haben die Gedanken an Maria etwas fertig gemacht. Wie du weißt, wollten wir kurz vor unserem Ende nach Florida fliegen. Das Ganze hier erinnert mich eben daran. Das ist alles!«
****Er sah mich mit runzelnder Stirn genauer an, wobei ich einen Schritt vor den anderen setzte. Endlich geschafft. Wir waren an Bord.
****Pete hatte sich einen Fensterplatz gebucht, was mir sehr gelegen kam. Ich musste nicht sehen, wie sich die Tragflächen bei Luftlöchern bedrohlich bogen. Ich nahm neben ihm Platz.
****Wir saßen in der BusinessClass ziemlich weit hinten, und ich erkannte, dass die Toilette nicht weit von uns entfernt lag. Sehr gut, denn wenn ich kotzen müsste, wäre der Weg nicht zu lang.
****»Noch zwölf Minuten und wir verlassen New York!«, gab Pete freudig von sich. »Endlich diesen ganzen Großstadt-Mist hinter uns lassen. Mexiko wir kommen!«
****»Drogenkrieg, wir kommen!«, erwiderte ich sarkastisch und erntete Pete´s verzogenen Mund, der nichts darauf verlauten ließ. Wahrscheinlich ganz gut so.
****Nun war es soweit. Die Stewardess meldete sich über den Sprechfunk zu Wort und ratterte ihr auswendig gelerntes Zeug herunter. Kurz darauf stellte sich noch der Pilot vor, um uns einen angenehmen Flug zu wünschen, wobei man deutlich seinen mexikanischen Dialekt heraushörte.
****Meine Hände wurden etwas schweißig, da mich nun die Flugangst heimsuchte. Ich versuchte mich ein wenig abzulenken und sah mich unter den Fluggästen um. Ein Kind mit einem Teddybären, der einen Mexikanerhut auf dem Kopf trug, hatte mir soeben zugewinkt und ich erwiderte lächelnd dessen Geste. Offensichtlich hatte das kleine Mädchen keine Angst und ich nahm mir ein Beispiel an ihrem Verhalten.
****Plötzlich schreckte ich auf! Die Stimmte des Kapitäns hatte mich völlig aus den Angeln gerissen. Sagte er nicht gerade »Willkommen in der Hölle, Charlie?«
****Ich horchte auf. Das konnte doch nicht sein!
****»Charlie?«, hörte ich Pete´s Stimme neben mir. »Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen. So langsam wirst du mir unheimlich.«
****»Hast du das eben auch gehört, was der Pilot gesagt hat?«
****»Natürlich, war ja kaum zu überhören. Er wünscht uns einen guten Flug und einen schönen Aufenthalt in Mexiko.«
****»Das meinte ich nicht. Ich hörte soeben etwas anderes.«
****Pete sah mich fragend an.
****Ich zögerte einen Moment und versuchte meine Stimme etwas zu drosseln.
****»Ich hörte klar und deutlich, wie er »Willkommen in der Hölle, Charlie« gesagt hat.«
****Pete sah mich schweigend an, schluckte einmal kräftig und starrte durchs Fenster hinaus.
****»Hast du mir nicht zugehört?«, hakte ich nach. Er sah wieder zu mir. Offensichtlich wollte er mir soeben etwas sagen, als uns die Stewardess unterbrach.
****»Bitte schnallen Sie sich jetzt an, wir starten in zwei Minuten!«
****»Entschuldigen Sie, aber kennen Sie den Kapitän dieses Flugzeugs?«
****»Wie meinen Sie das?«
****»Nun, sind Sie schon einmal mit ihm geflogen?«
****Die Stewardess stockte einen Moment.
****»Unsere Fluggesellschaft hat die besten Piloten. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Wir werden wie geplant in Mérida landen. Wenn Sie ein Mittel zur Beruhigung brauchen, kann ich Ihnen eins bringen lassen. Möchten Sie etwas?«
****Ich atmete kräftig aus. »Nein, schon gut. Ich beruhige mich mit dem Fernseher vor mir.«
****»Das freut mich. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Flug.«
****»Danke!«
****Sofort wandte ich mich zu meinem Kumpan. »Pete«, flüsterte ich. »Hast du das eben mitbekommen?«
****Doch ich bekam keine Antwort, denn er hatte die Augen geschlossen und nach seinem Atmen zu urteilen, schlief er. Ich war wie vor den Kopf gestoßen. »Pete!«, rief ich erneut flüsternd, aber ich erhielt keinerlei Reaktion.
****Wie kann man jetzt nur schlafen, vor allem so verdammt schnell. Enttäuscht wandte ich mich ab und sah ich mich noch einmal bei den Fluggästen um. Ich versuchte die letzten zwei Minuten des Wartens mit Zählen zu vertreiben. Sofort fiel mir der Film mit Wesley Snipes ein, der den Titel »Passagier 57« trug. Wer wohl der siebenundfünfzigste war?
****Wieder warf ich einen Blick zu meinem Freund, der immer noch fest schlief. Ich könnte kotzen! Nun ja, die Toilette war ja schließlich nicht weit.
****Die Motoren heulten auf und wir setzten uns in Bewegung. Ein weiterer Blick zu dem kleinen, schwarzhaarigen Mädchen, dass drei Reihen in den mittleren Sitzplätzen hinter uns saß, beruhigte mich etwas. Sie lächelte mich an und ich signalisierte ihr mit dem Daumen nach oben, dass alles in Ordnung wäre.
****Nach ihrem Aussehen zu urteilen, stammte sie sicherlich aus Mexiko und ihr freundlicher Gesichtsausdruck ließ mir die Flugangst weiter sinken. Nur ihr durchdringender Blick gab mir etwas zu denken: Ich hatte den Eindruck, als würde sie nicht mich ansehen, sondern Pete, der aber definitiv nicht in ihrem Blickfeld lag.
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Der fremde Fluggast

Ich fuhr hoch! Eine Hand hatte mich soeben an der Schulter gepackt und ich wäre beinahe zu Tode erschrocken! Es war Pete, der soeben erwacht war.
****»Bist du etwa eingenickt?«, fragte er mich.
****»Das sagt der Richtige«, erwiderte ich schläfrig, während ich mich aufrecht hinsetzte. Offensichtlich war ich tatsächlich eingeschlafen und war etwas desorientiert.
****»Wie meinst du das?«
****»Vergiss es«, gab ich ihm abfällig zur Antwort.
****»Du brauchst mich nicht gleich so anzufahren, nur weil du noch müde bist. Ich sagte doch, dass du im Flugzeug schlafen kannst! Wir landen in einer halben Stunde, du hast es also gleich überstanden.«
****Verdutzte Blicke trafen ihn. »Wirklich?«, fragte ich überrascht. »Dann war ich jetzt knapp drei Stunden im Reich der Träume?«
****»Was hast du denn geträumt?«
****Ein kurzer Schreckmoment suchte mich heim. Sogleich erinnerte ich mich an die Stimme des Kapitäns, der mich vor kurzem in Panik versetzt hatte. Also war es nur ein Traum?
****Sofort sah ich mich nach dem kleinen Mädchen um. Auch sie war verschwunden. Auf ihrem Platz saß eine ältere, korpulente Dame, die mich nicht besonders freundlich ansah.
****Ich strich mir mit der flachen Hand übers Gesicht.
****»Offensichtlich muss ich schnell eingeschlafen sein, denn ich habe vom Flug kaum etwas mitbekommen.«
****»Ich muss gestehen, mir ging es nicht anders«, räumte Pete ein. Ich bin auch eben erst zu mir gekommen. Sollen wir den Fernseher einschalten?«
****Wortlos folgte ich den Bildern auf dem Monitor. Es war ein Nachrichtensender, der uns einen flimmernden Dokumentarfilm zeigte. Doch meine Gedanken waren nicht frei. Ich fühlte mich immer noch wie erschlagen und sah mich erneut zu dem Platz um, an dem das Mädchen gesessen hatte. Es glich demselben Bild wie vor einigen Sekunden. Die ältere Frau kramte soeben in ihrer Handtasche herum und ich beschloss mich von ihr abzuwenden, bevor ich wieder ihren boshaften Blick ertragen musste.
****Schon seltsam, was einem der menschliche Geist für Flausen in den Kopf treiben kann. Ein beruhigendes Gefühl machte sich in mir breit, da ich nun die Aussage des Piloten, was mich betraf, aus meinem Gedächtnis streichen konnte. Es war schließlich nur ein Hirngespinst.
****»Wahnsinn, wie viele Container in solch einen Frachter passen, oder?«, gab plötzlich Pete von sich, der wie gebannt auf den Fernseher starrte.
****Ich richtete mein Augenmerkmal auf meinen Bildschirm, in dem dieselbe Sendung lief. Ich sah gigantische Kräne, die einen Container nach dem anderen in ein gewaltiges Transportschiff luden. Es war irgendwie beruhigend und mich überkam, wie schon vor dem Flug, der starre Blick, dem ich oft verfiel, wenn ich übermüdet war. Es ging sogar soweit, dass ich schon wieder kurz vor dem Einnicken war, als mich schlagartig ein Schock förmlich wachrüttelte! Ein kurzer Moment des Grauens überschattete den Film. Ich sah einen Augenblick lang rote Flammen über den Fernseher huschen, in denen man abgehackte Köpfe erkennen konnte. Zeitgleich hörte ich Schreie von Menschen und ein fürchterliches tiefes Lachen, das alles übertönte.
****Ich fuhr zusammen wie ein Aal, den man soeben mit Strom getötet hatte! Sofort reagierte Pete.
****»Hey Charlie!«, flüsterte er. »Ist etwas nicht in Ordnung?«
****Mein Blick auf den Monitor machte mir Angst. Dort lief wieder der Dokumentarfilm.
****Ich atmete kurz durch.
****»Meine Übermüdung macht mir zu schaffen, habe ich den Eindruck. Ich muss mich kurz frisch machen.«
****Ich stand auf und schlug die Richtung zur Toilette ein.
****»Charlie«, rief mir noch Pete hinterher, aber ich antwortete nicht. Ich brauchte einfach nur noch kühles Wasser auf meinem Gesicht.
****In der Nasszelle angekommen, schloss ich erst einmal erschöpft die Tür hinter mir und verriegelte sie.
****»Was ist nur los mit dir?«, fragte ich mein Spiegelbild leicht aggressiv.
****Mit den Fäusten geballt, stützte ich mich am Waschbecken ab und versuchte mich etwas zu beruhigen. Ein leises, aber dennoch hörbares Klopfen an der Tür verhinderte mein Vorhaben.
****»Charlie, ist alles in Ordnung bei dir? Soll ich Hilfe holen? Du hast es doch gleich geschafft. Noch exakt siebenundzwanzig Minuten und wir landen. Willst du nicht aus dem WC herauskommen?«
****»Es ist alles Ordnung. Darf ich nicht einmal in Ruhe mein Geschäft verrichten?«
****»Ich mache mir Sorgen, Charlie. Du hast so abwesend gewirkt.«
****Doch als ich keine Antwort darauf gab, lenkte er ein.
****»Ok, dann… warte ich vorne an der Bordbar. Dort soll es einen ausgezeichneten Cappuccino geben.«
****Er nervte. »Ist gut, Pete. Ich komme dann gleich nach.«
****»Prima, aber warte nicht zulange, wie landen ja schließlich demnächst.«
****Er schritt von dannen – Gott sei Dank. Er konnte einem wirklich manchmal gehörig auf die Nerven gehen, gerade dann, wenn man seine Ruhe haben wollte.
****Ich widmete mich wieder meinem Spiegelbild, doch ein erneutes Klopfen riss mich aus meinen Gedanken. Ich hielt den Atem an und tat so, als hätte ich es nicht gehört. Das Klopfen wiederholte sich, doch nun weitaus penetranter und langsamer.
****»Ich bin gleich fertig«, ließ ich verlauten und hoffte dadurch, dass sich der ungebetene Gast für einen kurzen Moment verziehen würde, aber es folgte keine Antwort.
****»Einen Augenblick noch!«
****Mit eiskaltem Wasser wusch ich mir mein Gesicht. Es tat so verdammt gut. Ich fühlte mich gleich wie neugeboren und wiederholte den Vorgang einige Male.
****Dann wieder das aufdringliche Klopfen.
****»Ist ja schon gut«, sagte ich etwas lautstark und öffnete ruckartig die Tür. Zu meiner Verwunderung war niemand zu sehen.
****Ich blickte in Richtung zu meinem Platz. Keiner war aufgestanden. Alle saßen brav auf ihren Sitzen, nur die Stewardess versorgte einige Passagiere mit Getränken.
****Doch als ich mich in der Gegenrichtung umsah, durchfuhr mich ein Stich durch meinen Brustkorb. Ich traute meinen Augen kaum. Durch die Reihen der FirstClass stapfte das kleine mexikanische Mädchen mit den langen schwarzen Haaren.
****Soeben wollte ich ihr nachgehen, als ein Steward aus dem Gang trat und mir den Weg versperrte.
****»Es tut mir leid, Sir, aber dieser Bereich ist nur für Gäste der ersten Klasse.« Dabei zog er den Vorhang zu, der unsere beiden Großraumabteile trennte.
****Wortlos blieb ich stehen und kam mir wie ein Schuljunge vor, der in der großen Pause das Schulgelände nicht verlassen durfte.
****Ich spähte durch den kleinen Spalt des Vorhangs. Ich erkannte zwar nicht allzu viel, doch es war ausreichend genug, um noch einmal das Mädchen zu sehen, dass unentwegt den Gang entlanglief.
****Gebannt beobachtete ich sie, bis sie urplötzlich stehen blieb. Merkwürdigerweise schlug nun mein Herz höher, denn sie machte den Eindruck, als würde sie sich jetzt gleich umdrehen, so dass ich ihr Gesicht erkennen konnte.
****Ich schluckte, denn offenbar trug das Mädchen eine seltsame Maske. Aber plötzlich verdeckte ein etwas älterer Mann mein freies Blickfeld, der anscheinend gerade sein Handgepäck verstaute.
****»Verdammt nochmal«, flüsterte ich, während ich wie gebannt durch den Vorhangschlitz starrte. Es kam mir wie Stunden vor.
****Endlich setzte sich der Mann und ich konnte wieder den gesamten Gang erkennen, doch zu meinem Übel war das Mädchen nicht mehr zu sehen.
****»Könnten Sie mich kurz vorbeilassen?«, vernahm ich eine angenehme, weiche Stimme hinter mir. Es war eine hübsche Stewardess, die mich freundlich ansah.
****»Ich müsste hier durch.«
****Es war schwer mich von dieser Situation loszureißen, da mein Gemütszustand immer noch den mysteriösen Beigeschmack verarbeiten musste, den ich bei meiner kurzen Observierung bekommen hatte.
****»Entschuldigung, ich mache Ihnen sofort Platz. Ich suche die Bordbar. Wo kann ich sie finden?«
****»Auf der anderen Seite, Sir, kurz vor der EconomyClass.«
****Ich stapfte von Dannen, wobei ich mir etwas Zeit ließ. Ich wollte noch einen kurzen Blick erhaschen, wenn die Stewardess den Vorhang öffnete. Vielleicht hatte sich das Mädchen auf irgendeinem Platz gesetzt, den ich von der vorherigen Position aus nicht sehen konnte. Doch dazu kam es nicht. Vor mir im Gang lag etwas, dass mir meine gesamte Aufmerksamkeit raubte. Mit schnellen Schritten lief ich darauf zu.
****Umso näher ich kam, desto mehr wurde mir gewahr, um was es sich dabei handelte. Es musste der Teddybär gewesen sein, den das kleine Mädchen bei sich getragen hatte.
****Doch schon wieder wurde mir die Sicht verdeckt. Mindestens ein Dutzend Menschen kamen mir entgegen, offensichtlich eine Fangruppe einer Fußballmannschaft. Ich sah nur noch Füße.
****Als wir uns trafen, quetschte ich mich mit großer Mühe hindurch, wobei ihre lauten Stimmen, die vermischt mit schlechtem Atem nach Bier, in mir einen gewissen Ekel aufkommen ließ.
****Endlich die Truppe hinter mir lassend, fokussierte ich wieder den Teddybären auf dem Boden. Doch zu meinem Entsetzen lag dort nun eine Tasche, die eine Frau soeben aufgehoben hatte, um diese im Gepäckraum über ihr zu verstauen.
****Ich blieb stehen.
****Und wieder stand ich jemandem im Weg. »Könnte ich kurz durch?«
****Ich setzte mich genervt auf meinen Platz und musste mir eingestehen, dass mich wohl dieser ganzer Umstand ziemlich fertig machte. Alles schien über mir zusammenzubrechen. Verdammter Mist.
****Ich atmete noch einmal tief durch, bevor ich mich zur Bordbar aufmachte. Dort angekommen, bestellte ich mir einen Apfelsaft.
****»Na? Wieder alles okay?«
****»Ich bin froh, wenn ich wieder festen Boden unter den Füßen verspüre, das kannst du mir glauben. Flugreisen sind einfach nichts für mich, auch wenn ich mich auf den Urlaub freue.«
****»Es tut uns echt mal gut für eine Woche einfach mal etwas anderes zu sehen.«
****»Dasselbe haben meine Eltern auch gesagt, als ich sie letzten Monat in Pittsburgh besucht habe. Ihnen fiel offensichtlich auf, dass ich ziemlich abgeschafft wirkte. Wieso hat eigentlich Marc abgesagt? Er ist doch auch so ein Abenteurer wie du, er wäre bestimmt begeistert gewesen.«
****»Er hat keinen Urlaub bekommen, sein Chef meinte, dass ohne ihn der Laden zusammenbrechen würde.«
****»Immer dieselben Geschichten. Hat das nicht auch Jeffrey zu uns gesagt?«
****Pete grinste. »Jeffrey hat eben Angst, dass er nicht alleine mit all dem Zeug in der Firma fertig wird, da ihm wohl Mister Hunter im Nacken sitzt. Begeistert war es nicht, als er mitbekommen hat, dass wir zwei zeitgleich nicht anwesend sind. Die Abteilung ist nun mal sein Revier und er ist bedacht darauf, dass alles seinen normalen Weg läuft.«
****Ich nahm einen kräftigen Schluck, während ich mich hier umsah. Außer uns, saß noch eine jüngere Frau an den Tresen, die mit einem kleinen Kind sprach. Sofort fiel mir das Mädchen mit den schwarzen Haaren ins Gedächtnis.
****»Was überlegst du?«, fragte Pete, der mit aller Wahrscheinlichkeit mein Stirnrunzeln bemerkt hatte.
****»Wozu trägt man eine Maske in einem Flugzeug?«
****Pete sah verdutzt drein. »Ich kann dir nicht ganz folgen…«
****Ich erwiderte seine fragenden Blicke. »Nun, weshalb würdest du eine Maske tragen?«
****»Wie kommst du auf diese Frage?«, fragte er etwas besonnen.
****Ich ließ etwas Luft aus meinen Lungen entweichen. »Hast du ein Problem damit?«
****Jetzt runzelte auch er die Stirn. Er öffnete kurz seinen Mund, schloss ihn aber auch wieder kurz darauf.
****»Schon gut«, gab ich von mir. »Es ist mir nur eben eingefallen. Im Fernseher war ein Film zu sehen, in dem gerade ein brasilianischer Karnevalszug lief.«
****Pete drehte sich wieder zu seinem Glas und leerte es in einem Zug. Dabei tropfte etwas roter Traubensaft auf die darunter liegende Serviette. Ich sah zu, wie sich der Tropfen darauf verteilte, während dieser papierähnliche Stoff die Flüssigkeit langsam vollständig in sich aufnahm.
****Erst war es nur ein roter Fleck, der sich aber rasch wandelte. Ein Streifen löste sich und floss kreisförmig nach unten, wobei er sogleich wieder eine Drehung vollzog und in die obere Richtung verlief.
****»Können wir?«, fragte mich Pete.
****Ich starrte ihn fragend an, während er einen kurzen Blick seiner Armbanduhr widmete.
****»Auf unsere Plätze gehen, wir landen schließlich in exakt 6 Minuten.«
****Schon hörte ich die Stimme der Stewardess aus den Lautsprechern, die alle Passagiere aufforderte sich anzuschnallen.
****Ich nickte, wobei ich nochmals auf die Serviette sah. Der Fleck hatte sich zu einem Symbol geformt, das ohne Zweifel eine Zahl aufzeigte. Doch schon knüllte Pete den getränkten Stoff mit der Hand zusammen und warf ihn gekonnt in den nahestehenden Papierkorb.
****»Los geht´s«, forderte er mich auf.
****Die Frau an der Bar war auch schon gegangen und ich folgte wortlos Pete´s Anweisungen. Mein letzter Blick galt dem Mülleimer, bevor ich die Bar schließlich verließ.
****An unseren Plätzen schnallten wir uns an und starrten zum Fenster hinaus. Schon konnten wir die Stadt erblicken, auch wenn meine Gedanken völlig woanders waren. Ich dachte andauernd über die mysteriösen Umstände nach, die mich hier die ganze Zeit über heimgesucht hatten. Waren das alles nur Träume und Einbildungen? Vielleicht aber handelte es sich auch nur um dumme Zufälle und reimte mir darauf etwas zusammen.
****Ein kurzer Blick auf den Platz hinter mir, auf dem das kleine Mädchen gesessen hatte, ergab keine Neuigkeiten. Dort saß immer noch die dicke Frau mit dem bösen Blick.
****Einige Minuten später setzte die Maschine zur Landung an und ich spürte ruckartig das Aufsetzen der Räder auf der Landebahn. Ich war erleichtert. Endlich geschafft. Mein Kopf wurde langsam wieder frei. Lediglich das Symbol auf dem Papiertuch brachte mich nochmals dazu, ein mulmiges Gefühl zu bekommen. Wenn mich meine Sinne nicht vollends getäuscht hatten, war es die Zahl 6, die sich darauf manifestiert hatte.
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