Die Autorin

Julia Rogasch – Foto © Privat

Julia Rogasch, geboren 1983, lebt mit ihrem Ehemann und ihren Töchtern in Hannover. Seit 2010 sorgt ihr Leben als Mama mit Job täglich für Inspirationen. Ihr großes Glück ist die Familie, welche sie nun mit der Arbeit und der Leidenschaft fürs Schreiben vereinbaren kann, da man ihr die Chance bot, im Marketing via Homeoffice für das Autohaus ihre Kreativität auszuleben, für das sie bis 2010 Autos verkaufte. Wann immer der Familientrubel es zulässt, widmet sie sich privat dem Schreiben.

Das Buch

Vor Jahren verließ Ebba völlig überstützt ihre Heimat Sylt. Was sie ihrem damaligen Freund Magnus nicht erzählte: Sie war schwanger und verlor in dieser Nacht bei einem Autounfall das Baby. Niemand weiß davon und bis heute ist Ebba weder über den Verlust noch über ihr schlechtes Gewissen gegenüber Magnus hinweg. Durch einen Zufall lernt die Hebamme die Schwestern Carla und Marie kennen, die beide selbst durch schwere Zeiten gingen und für ihren Neuanfang gekämpft haben. Schnell findet Ebba in den beiden Vertraute und als sich die Gelegenheit bietet, reist sie mit ihnen nach Jahren wieder zurück nach Sylt. Es dauert nicht lang und sie trifft Magnus wieder. Die Anziehungskraft zwischen den beiden ist ungebrochen. Doch Magnus scheint ein neues Leben und eine neue Frau an seiner Seite zu haben. Er führt einen kleinen Laden direkt am Strand, ein Traum, den Ebba und er vor ihrer Abreise nicht mehr gemeinsam verwirklichen konnten. Ebba hadert mit ihrer Entscheidung nach Sylt gekommen zu sein und Magnus die Wahrheit über damals zu sagen. Aber dann überschlagen sich die Ereignisse und Ebba muss sich endlich entscheiden...

Von Julia Rogasch sind bei Forever erschienen:
Honigmilchtage
Mit dir am Horizont
Das Geheimnis vom Strandhaus
Der kleine Laden am Strand

Julia Rogasch

Der kleine Laden am Strand

Roman

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Verlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Juni 2019 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
E-Book powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-95818-456-5

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Widmung

Meinen Herzensmenschen.
Meinen wundervollen Lesern.
All jenen, die an ihre Träume glauben.
Dir, denn mein Traum lebt durch dich.

Prolog


Träume hatte Ebba immer geliebt. Bereits vor dem Einschlafen hatte sie sich ausgemalt, darin an schöne Orte zu reisen oder besondere Momente ein weiteres Mal zu erleben. Einen Spaziergang am Meer, bei dem sie das Knirschen des Sandes unter ihren Füßen und den Wind in ihren Haaren spürte. Die Kraft, die sie in dem Moment durchströmte, in dem ihr Kopf und ihr Körper sich leicht und frei anfühlten, offen für jedes neue Abenteuer. Oder ein Sonnenuntergang im Arm ihres Herzensmenschen. Eingekuschelt in eine Decke und im Strandkorb geschützt vor der kühlen Luft, die der Abend mit sich brachte. Sogar im Traum breitete sich dann eine Wärme in ihr aus, die Geborgenheit verkörperte. Und Sehnsucht. Nach dem Sonnenuntergang am Meer und nach diesem Mann. Danach, wie sie zu zweit den magischen Moment genießen, in dem der leuchtend rote Ball mehr und mehr hinter dem Horizont verschwindet und es Nacht wird. Wachte sie aus einem dieser Träume auf, startete sie wie auf Wolken in den Tag.

Es kam viele Jahre selten vor, dass sie von etwas Schrecklichem träumte. Und wenn, dann war er beim Aufwachen da gewesen, immer. Groß und kräftig wie ein Beschützer. Er war ihre Schulter zum Anlehnen gewesen. Wenn sie aus einem dieser Albträume schweißgebadet hochschreckte, hatte er sie sanft an sich gezogen. Dann hatte er seine wohlig warme Decke mit um ihren zitternden Körper gewickelt, den Arm um sie gelegt und sie gestreichelt, bis ihr Atem sich beruhigte, ihr Puls langsamer wurde und sie wieder zur Ruhe kam. Denn wenn sie unschön träumte, verspürte sie die Angst aus diesen Träumen genauso intensiv wie die Leichtigkeit der Träume, die sie schon beim Aufstehen vor guter Laune schweben ließen.


Nächtelang erlebte sie den Tag im Herbst noch einmal, an dem sie und ihre große Liebe sich kennengelernt hatten. Sie, die 24-jährige Hamburger Deern, war ohne Begleitung zu einer Wattwanderung aufgebrochen. Zu dieser Jahreszeit konnte ein solcher Weg durch das Watt schon etwas unbehaglich sein. Das Wetter zeigte sich auch an diesem Tag tatsächlich von seiner rausten Seite und ein scharfer Wind zog um das Reetdachhaus in ihrem Lieblingsort Keitum auf Sylt, in dem ihre gemütliche Ferienwohnung sich befand. Von außen konnte man das Haus als Motiv für jede Postkarte verwenden. Die blau gestrichenen Fenster und der rote Backstein vor dem wilden Blumengarten waren typisch für den malerischen Ort. Die Sylter Rose zierte den Friesenwall, der das Haus umgab. Im Frühling und Sommer würde eine Sitzecke aus weißen Holzbänken und einem Tisch inmitten von Hortensien zum Essen im Garten einladen. Aber auch im Innern empfing den Gast eine wohlige Atmosphäre. Die Wohnung war in einem ursprünglichen, friesischen Stil eingerichtet, mit vielen maritimen Accessoires wie kleinen Ankern und von der See geformten Treibholz-Stücken. Kombiniert mit modernen Details wie dimmbarem Licht und neuem Holzboden, versprühte dieses kleine Refugium Behaglichkeit. Ebba hatte für ihre Auszeit, die sie sich gegönnt hatte, um nachzudenken, dieses ganz besondere Appartement ausgesucht, um dem Herbst in jeder noch so unwirtlichen Wetterlage mit einem angenehmen Rückzugsort begegnen zu können. Sie zog sich eine warme Jacke und eine Wollmütze an und freute sich auf den Weg durch das Watt, denn genau so, in dieser Atmosphäre, liebte sie es, hier an der See zu sein. Das war es doch, was die Insel ausmachte. Hier traf ein schroffer Wind auf die Sonne, vor der die Wolken schnell vorbeizogen. Nicht immer war das Klima gemütlich, aber jederzeit ehrlich und einzigartig. Das Licht, der Wind und die Einsamkeit am Watt verliehen ihr Kraft. Also lief sie los. Sie genoss in dieser frühen Stunde die Stille. Sie hörte nur den Schlick unter ihren Füßen, der jeden Schritt mit einem satten Schmatzgeräusch quittierte. Ihr waren noch keine anderen Menschen begegnet. Ein paar Möwen kreisten um sie herum, setzten hier und da zum schnellen Sturzflug an, um einen kleinen Krebs oder einen Wattwurm zu schnappen. An ihren Gummistiefeln zog der nasse Sand, der ihr den Gang erschwerte, sie aber nicht aufhielt weiterzulaufen. So war sie hinaus ins Watt marschiert, vollkommen in Gedanken vertieft, wie es für sie weitergehen sollte. Sie liebte Hamburg, aber noch viel mehr zog es sie nach Sylt. Aber wie sollte sie jemals Fuß fassen auf einer Insel mit einem Beruf, der hier auszusterben drohte? Hebammen wurden zwar gebraucht, gingen aber immer häufiger aufs Festland. Zu gering waren die Aussichten hier für sie, wo man die Schwangeren eher nach Husum oder Flensburg ausflog, weil es hier kein Krankenhaus mehr für sie gab. Vor lauter Nachdenken merkte sie nicht, dass das Wasser allmählich näherkam. Erst das leise Plätschern neben ihren Füßen machte sie darauf aufmerksam. Als sie sich umdrehte, stellte sie mit Entsetzen fest, dass das Meer sie im Rücken in Richtung Land bereits komplett umschlossen hatte. Sie konnte nicht abschätzen, wie tief das Wasser in den Prielen mittlerweile war. Die ruhige, sanft glitzernde Wasseroberfläche strahlte eine täuschende Friedlichkeit aus. Die Bilder waren selbst im Traum so real. Noch heute überkam sie beim Gedanken daran Panik. Sie fühlte dann ihren Herzschlag, der damals in ihrer Brust raste.


Mit einem Mal war er da, kopfschüttelnd und leise vor sich hin fluchend war er ihr barfuß entgegengestapft. Die Jeanshose locker bis zu den Knien hochgekrempelt, watete er auf sie zu. Sie zog einen Fuß hoch, woraufhin ihr Gummistiefel stecken blieb. Noch ehe es ihr gelang ihn herauszuziehen, kippte er um und füllte sich mit Wasser. Kurzerhand zog sie auch den anderen Stiefel aus, dazu ihre Socken. Nun war sie ebenso barfuß wie der gutaussehende Mann, der mittlerweile fast bei ihr angekommen war. Trotz ihrer misslichen Lage zog in dem Moment, in dem sie ihm gegenüberstand, ein wohliges Kribbeln über ihre Haut und ihr Blick haftete an ihm. Er sah gut aus, groß und sportlich. Ausdrucksstarke blaue Augen, markante Wangenknochen und volles, vom Wind ganz zerzaustes braunes Haar. Dunkle, zusammengezogene Augenbrauen gaben seinem Gesicht einen ernsten Zug. Um die aufeinandergepressten Lippen herum erkannte sie zwar Lachfalten, in diesem Moment aber schaute er eher grimmig drein. Bärbeißig wäre wohl ein passender Ausdruck gewesen, um seine Miene zu beschreiben. Doch der verständnislose Gesichtsausdruck tat seiner Attraktivität keinen Abbruch.

Seine Blicke und die Art, wie er Luft durch die Lippen stieß, hatten ihr ohne viele Worte zu verstehen gegeben, dass er, der das Wetter und die Gezeiten von Kindesbeinen an kannte und mit ihnen lebte, über ihre Naivität nur den Kopf schütteln konnte. Er murmelte etwas vor sich hin und deutete ihr mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken Richtung Strand an, ihr zu folgen. Ebba watete ihm hinterher, nachdem sie noch ihre halb versunkenen Gummistiefel geborgen hatte.

Dann hatte er sie mit gekonnten Schritten durch die niedrigsten Priele an Land geführt. Ebba sah im Traum seinen kräftigen Rücken, hinter dem sie sich locker hätte verstecken können. Er hatte sich nicht umgedreht und auch kein Gespräch gesucht. Die Kombination aus Fürsorge und Reserviertheit, die er verkörperte, faszinierten Ebba sofort.

Dennoch willigte er ein, als sie ihn als kleinen Dank in ein nahegelegenes Café einlud. In der friesischen Atmosphäre, in der sie dann einen Tee getrunken hatten, hatte sie sich in eine weiche Wolldecke vor einen gekachelten Ofen gekuschelt. Noch beim Gedanken daran spürte sie die Geborgenheit, die sie in dem Moment empfunden hatte. Am selben Abend waren sie in einem Restaurant gelandet und sie hatte mehr und mehr hinter die Fassade des vermeintlichen Grantlers schauen dürfen. In ihm steckte ein weicher Kern. Er war erstaunlich schnell aufgetaut, schien sie zu mögen. Sie war sich sicher, dass dabei die Selbstironie, mit der sie ihrer naiven Aktion im Nachhinein gegenüberstand, eine Rolle gespielt hatte.

Die Geschichte, die nach dieser Rettungsaktion zwischen ihnen ihren Anfang nahm, fühlte sich für Ebba unwirklich an wie ein Traum. In dieser Zeit hatte sie vielleicht deswegen so selten Albträume gehabt, weil es für sie keinen Grund mehr gab, welche zu haben. Sie hatte sich freigeschwommen aus der Geschichte des Mädchens, welches eine große Verantwortung auf den zarten Schultern trug, indem es jahrelang für seine Mutter die größte Stütze war. Das Kind, welches so oft so stark sein musste, weil der Vater ihre Mutter schwer enttäuscht und auf deren Seele dunkle Schatten hinterlassen hatte. Auch auf Ebbas. Das Bild einer heilen Familie in ihrer Kindheit sollte es nicht geben. Doch Ebba hatte es geschafft. Sie war glücklich geworden. Denn ihre Wunschvorstellung vom Leben auf der Insel schien an der Seite dieses Mannes in Erfüllung gegangen zu sein.

Wenn sie damals ihre Mutter in Hamburg besuchte, schwärmte sie von der Insel und versprach ihrer Mutter, sie zu sich zu holen, sobald der kleine Laden lief und sie ihr dort eine Wohnung mieten konnte. Ihre Mutter hatte immer gelacht und gesagt, dass man einen alten Baum nicht verpflanze. Dies hatte Ebba aber niemals gelten lassen, denn ihre Mutter und sie gehörten zusammen.


In den letzten fünf Jahren waren schöne Träume jedoch selten geworden. Seit dem Tag, an dem sie die Insel verlassen hatte, suchten sie beinahe täglich Albträume heim. Sie durchlebte nachts den Unfall, bei dem sie ihr Baby verloren hatte. Das Baby, auf das sie so lange gewartet und an das sie zeitweise schon gar nicht mehr geglaubt hatten. Sie war damals 27 Jahre alt, seit drei Jahren waren sie ein Paar. Ein Kind zu bekommen war ihr größter Wunsch, dessen Erfüllung sie sehnsüchtig herbeigehofft hatten. Sie quälte sich durch Träume, aus denen sie schweißgebadet und mit flatterndem Herzschlag hochschreckte und sich an jedes erschreckende Detail erinnern konnte. An die Glassplitter, die überall steckten wie kleine Nadeln. An die Musik, die verstummte und den ohrenbetäubenden Knall. An die Stimmen der Menschen, die ihr zur Hilfe eilten.

Bis auf das Kind. Das sah sie nur vage, nie direkt von Angesicht zu Angesicht und meistens nur schemenhaft und verschwommen. Manchmal kämpfte sie sich durch Träume, in denen sie das Kind beschützen musste, woran sie aber scheiterte. Dann verfolgten sie Bilder, in denen das Kind vor ihr weglief, direkt in sein Unglück. Sie sah noch die Gefahr, konnte das Kind aber nicht davor bewahren.

Die schlimmsten nächtlichen Bilder waren die, in denen sie einen Fehler beging, und das Kind sich verletzte.

Einmal saß es vor ihr auf der Reling eines Schiffes, sie hielt es nicht ausreichend fest und das Kind fiel vor ihren Augen ins tiefdunkle Meer. Ein andermal stürzte es aus einem Fenster, aus dem sie gerade gemeinsam Vögel beobachteten.

Besonders verstörend wirkten die Träume, die mit einem Krankenhausaufenthalt des Kindes endeten. Sie sah den Eingang eines Krankenhauses, den sie passierten, weil sie gerade entlassen wurden.

Wenn sie aufwachte war ihr dann, als sei die Welt wieder in Ordnung, als dürfte ihr Kind wieder zu ihr nach Hause. In Wirklichkeit hatte ihr Gehirn ihr, beim kläglichen Versuch, etwas zu verarbeiten, nur einen Streich gespielt. Ihr Kind würde nie wiederkommen. Niemals.

Nicht selten suchte sie der Traum heim, in dem sie einfach ins Watt ging, immer weiter, trotz der Rufe eines Kindes und eines Mannes. Sie drehte sich nicht mehr um, sondern lief unbeirrt auf das offene Meer zu. Dieses Ende nahm ihr heutiger Traum.


Beim Aufwachen war nun in der Realität ihres Alltages niemand mehr da, der sie in den Arm nahm und ihr wieder in den Schlaf half. So war Ebba auch heute allein.
In diesem Moment, in dem sie sich von der spartanischen Liege im Aufenthaltsraum der Klinik für die Hebammen in Nachtschicht aufrappelte, war sie dankbar, aufgewacht zu sein und den quälenden Bildern entfliehen zu können. Auch wenn gleich ein weiterer harter und langer Arbeitstag in der Klinik wartete, der nahtlos an den vorangegangenen anknüpfte, half ihr diese Ablenkung. Hätte sie an den Tagen, an denen Traurigkeit und Grübelei sie übermannten, Zeit für ihre Gedanken, wäre das nicht gut. Seit sie nach Hamburg zurückgekehrt war, hatte sie sich zurückgezogen. Sie hatte sich lange um ihre Mutter gekümmert, so dass es in ihrem Alltag für Freundschaften wenig Raum gab, was für sie aber in Ordnung war. Nun aber, seit ihre Mutter nicht mehr lebte, war sie oft einsam. Sie hatte immer von einem Hund geträumt. Als sie ihre Zukunft auf der Insel plante, war dieser ein fester Bestandteil davon. Ebba wünschte sich, einem Hund aus dem Tierheim ein liebevolles Zuhause zu schenken. Als sie den Laden aufbauten, hatte ein Hund perfekt zu ihren Ideen gepasst und dessen Anschaffung wäre der nächste Schritt gewesen. Aber obwohl die Planungen damals schon so weit vorangeschritten waren, war es dann nie dazu gekommen. Und sie war schuld daran.

Ihre Mutter wollte sie trösten, als Ebba nach Hamburg zurückkam. Sie wünschte sich, ihre Tochter wieder lachen zu sehen. Mit ihrer Mutter gemeinsam stellte sie sich vor, mit einem Hund, um den sie sich abwechselnd kümmern wollten, am Strand entlangzulaufen. Den weichen Sand unter den Füßen, die Sonne auf ihrer Haut und das Haar zerzaust vom Wind, der salzig schmeckende Luft auf ihre Lippen wehte. Leider kam es nie dazu, dass sie und ihre Mutter unter die Hundebesitzer gingen.

Gerne hätte Ebba diesen Traum vom Hund auch nach dem Tod ihrer Mutter realisiert. Für sie und für ihre Mutter. Aber als Single und in ihrem Job als Hebamme im Schichtdienst war dies undenkbar. Sie würde aufgrund der schwierigen Arbeitszeiten nicht für das Tier da sein können.

Ebba erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem sie einige Dinge ihrer Mutter aussortieren wollte. Sie hatte Kleidung und Schuhe in eine große Tüte gelegt und auch den Nachttisch ihrer Mutter ausgeräumt. Lange hatte sie ihn in den ersten Wochen nach ihrem Tod nicht angerührt, zu sehr hätte es sie aufgewühlt. An diesem Tag traute sie sich und öffnete die Schublade. Neben einem Brillenetui samt Lesebrille lag dort ein Roman. Ebbas Herz verkrampfte, als sie sah, wie das Lesezeichen kurz vor dem Ende des Buches eingelegt war. Sie hatte die Geschichte nicht mehr beenden können. Ebba griff nach dem Buch und war erstaunt. Ihre Mutter hatte trotz ihrer Demenz offenbar noch diesen Roman gelesen, in dem es um verlorene Träume ging. Unter dem Buch entdeckte Ebba einen Umschlag. In dem Kuvert fand Ebba einige Hundert-Euro-Scheine und einen Brief. »Liebe Ebba, für unsere Lotta. Damit ihr nach der Zeit im Tierheim an nichts fehlt«, stand darin. Ebba hatte geweint und es hatte sie tieftraurig gemacht, dass sie sich diesen Traum von ihrem Hund, den sie »Lotta« nennen wollten, nie erfüllt hatten. Also war sie oft mit sich und ihren Gedanken allein, wenn sie nach einer ermüdenden Schicht nach Hause kam. Oft hätte es ihr geholfen, zu reden. Zu sprechen über das, was in ihrem Arbeitsalltag geschah und darüber, was es mit ihr zu tun hatte. Sie half Kindern zur Welt, deren Eltern vor lauter Glück beinahe überschäumten. Dann wiederum nahm sie Mütter in den Arm, die Abschied nehmen mussten, so wie sie. Nur dass sie ihre Schätze einmal hatten sehen und berühren dürfen. Sie wiegen, streicheln und ihnen einen Kuss geben. Ebba wusste nicht, ob diesen Müttern der Abschied leichter fiel als ihr. Ihr Arbeitsalltag war belastend. Denn er tat oft weh, ging ihr körperlich und emotional an die Substanz. Diese Gefühle machte sie mit sich aus. Manchmal erdrückte sie dieser ständige Monolog mit sich selbst. Dennoch befand sie sich wie in einem Teufelskreis, denn um nicht zu viel Zeit zum Nachdenken zu haben, flüchtete sie sich in die kräftezehrende Arbeit als Hebamme im Hamburger Klinikum. Sie war die, die widerstandslos und ungefragt auch die Doppelschichten übernahm.


Das Rumpeln eines vorbeifahrenden Putzwagens über den Krankenhausflur holte sie in die Realität zurück. Sie stand von der unbequemen Liege im Aufenthaltsraum auf und griff nach dem Telefon, das sie neben ihrem Kopf hatte liegen lassen.

Zu ihrem Glück war es ruhig geblieben und sie hatte zwei Stunden schlafen können.

Kreisende Kopfbewegungen quittierte ihr Körper mit einem unschönen Knacken, Beine und Arme durchfuhr ein quälendes Ziehen. Die Schlafposition war unsagbar unbequem. Dass sie Albträume bekam, könnte auch mit der verqueren Haltung einhergehen, in der sie schlief. Ebba trat an die Kaffeemaschine, füllte sich einen dampfenden Kaffee ein und wärmte ihre Hände an der Tasse. Diesen Moment, in dem sie ihren Körper mit einer heißen Ladung Koffein stärkte, genoss sie noch in Ruhe, bevor ihre Runde über die Neugeborenen-Station begann.

Auf der Station war es leise. Sie hörte das surrende Rollen eines Neugeborenenbettchens, das eine junge Mutter über den Gang schob. An guten Tagen genoss Ebba den Anblick der Mütter, die ihr Glück gar nicht fassen konnten, wenn sie verzückt in den kleinen Wagen sahen. Ein im besten Fall selig schlummerndes und rosiges Baby lag verloren in dem viel zu groß wirkenden Bettchen und jede noch so leise und zaghafte Bewegung wurde mit Rührung und Begeisterung der neuen Eltern quittiert.

Heute wartete Ebba, bis der Wagen vorbeigeschoben worden war. Sie war noch immer ganz aufgewühlt von den Bildern aus ihrem Traum. Bevor sie den Raum verließ, warf sie noch einen Blick in den Spiegel. Ihr blondes, schulterlanges Haar war zerwühlt vom Schlafen. Sie fasste es zu einem ordentlichen Zopf zusammen. Ihre blauen Augen blickten müde aus tiefen Augenringen hervor. Die vielen Nachtschichten in Folge hatten sichtbar ihre Spuren hinterlassen. Ebba seufzte. Nach einer Handvoll kaltem Wasser, das sie sich ins Gesicht spritzte, fühlte sie sich startklar.

1. Kapitel



Marie Rosati hielt sich ihren ungeduldig knurrenden Bauch. »Wir haben so viel über Düfte aus Vanille, Aprikose oder Honigmilch gesprochen, dass mein Kopf nun mehr als sehnsüchtig um Dolci und Leckereien kreist. Mein Magen lässt sich keine Minute länger vertrösten!«

Carla Lewalder grinste ihre Schwester an. Eigentlich war sie als Schwangere eher diejenige, die eine plausible Entschuldigung für Heißhungerattacken gehabt hätte.

»Wollen wir eine Honigmilch trinken und ein Stück Kuchen essen? Gleich hier um die Ecke war ich mittags manchmal. Die haben auch ein tolles Kuchen-Buffet«, antwortete Carla und deutete mit der Hand auf eine Kreuzung in der Nähe.

Marie hakte sie unter und sie gingen los. »Mein Neffe und ich haben Hunger!«, behauptete sie und nickte bekräftigend. Carla lächelte. »Na dann, nix wie los!«

Die Schwestern Marie Rosati und Carla Lewalder verließen zufrieden das imposante Geschäftshaus des Pharmakonzerns in der Hamburger Innenstadt. Das Gespräch mit Carlas ehemaliger Chefin war positiv verlaufen.

Rückblickend war es für Carla die beste Entscheidung gewesen, ihren Job als Pharmareferentin in dem Unternehmen an den Nagel zu hängen und ihrem Leben mit der Gründung der Lebenshilfe-Agentur »Honigmilch« eine neue Richtung zu geben. All die wunderbaren Dinge, die seitdem passiert waren, sprachen für sich. Seit Carla vor einigen Monaten den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt hatte, war sie angekommen und endlich zufrieden. Nun wollte Carla diese großartige Erfahrung möglichst vielen Menschen an die Hand geben.
Menschen, die beruflich oder privat einen Neustart oder eine Veränderung wagen wollten, nahmen ihre Agentur in Anspruch.

Auch Unternehmen wie das von Carlas vorherigem Arbeitgeber, die neue Zweige eröffnen oder alte Strukturen aufbrechen wollten, traten an sie heran.

Wenn sich dann auch noch so glückliche Zufälle wie der ergaben, dass ihre ehemalige Chefin für die Mitarbeiter ein Vorteilsprogramm in Sachen Wellness initiieren wollte, von der dann sogar ihre Schwester Marie profitierte, fühlte ihr Job sich einfach perfekt an. Carla war mit diesem Neuanfang ihrer kleinen Schwester Marie gefolgt, die sich schon in jungen Jahren mit ihrem Laden selbstständig gemacht hatte.

Maries Geschäft »Vanilla domani«, ein Laden für schöne Dinge, Raumdüfte, Kerzen, Kosmetik und Dekoration, sollte darüber hinaus als Ausstatter für alle Geschäftsräume des Pharmakonzerns dienen. Außerdem wollte man den Mitarbeitern als Anreiz im Rahmen der Zielvereinbarungen Sonderkonditionen bei Marie einräumen.

Dieser Auftrag sicherte Marie für die kommenden Monate einen nicht unwesentlichen Ertrag. Gemeinsam mit einem Großauftrag für ein Hotel auf Sylt war diese Kooperation zunächst die Haupt-Ertragsquelle für Maries Unternehmen. Beim Gespräch dieses Tages hatten sie alle Eckdaten für das geplante Projekt festgezurrt.

Carla und Marie waren beinahe rundum glücklich, vor allem die Vorfreude auf Carlas Baby war riesig. In wenigen Wochen würde ihr erstes Kind zur Welt kommen. Marie konnte es kaum erwarten, Tante zu werden.

Einzig die Sorge um Carlas Mann Julius belastete die Schwestern.

Seine Krankheit, eine Art Burn-out, die immer wieder zu Kreislaufzusammenbrüchen führte, schwebte wie ein Damoklesschwert über ihnen. Es gab lange Phasen, da ging es ihm gut, aber plötzlich versagte sein Kreislauf erneut. An manchen Tagen erschwerte dieser Zustand es Carla, optimistisch in ihre Zukunft als junge Familie zu sehen.


Heute jedoch traten die Schwestern mit einem zufriedenen Lächeln vor das imposante Geschäftshaus in der Hamburger Innenstadt und machten sich auf den Weg in ein Café.

Schon als sie das Café betraten, umschmeichelte sie ein köstlicher Duft aus frisch gebackenen Waffeln und Kaffee.

Sie fanden Platz an einem Tisch am Fenster. In dem Café bestellte man am Tresen direkt.

»Ich hole eine Honigmilch für dich mit, okay? Wie sieht's mit Kuchen aus?«, fragte Marie ihre Schwester.

»Danke, nur eine Honigmilch«, antwortete Carla lächelnd, strich sich zufrieden über ihren Babybauch und zog ihr Handy hervor.

»Bin gleich wieder da«, verabschiedete sich Marie und orderte ihre Bestellung.

Als sie an den Tisch zurückkam, sah ihre Schwester lange nicht so zufrieden aus wie eben noch.

»Liebes, was ist passiert?« Schwungvoll stellte Marie ihr Tablett ab. Die Honigmilch geriet gefährlich ins Wanken. Sie beugte sich herunter und hielt Carla an den Schultern. Besorgt starrte sie sie an. Ihre weit aufgerissenen Augen gewannen nochmal an Größe, als Carla ihr nicht sofort antwortete.

»Hier«, sagte sie und streckte Marie ihr Handy entgegen. Marie konnte die Zeilen der SMS kaum lesen, so sehr wackelte das Display vor ihren Augen. Marie legte ihre Hand beruhigend um Carlas, um die Worte entziffern zu können. Carla zitterte schon am ganzen Körper und Marie schlug sich augenblicklich die Hand vor den Mund, ohne dass sie die Nachricht komplett gelesen hatte. Die SMS kam von Maries Freund Karl. Karl war Julius' bester Freund und sein Partner in der Kanzlei. Er schrieb, Julius habe erneut einen Zusammenbruch erlitten.

Ganz fest nahm Marie ihre Schwester in den Arm. Sie drückte sie noch näher an sich, als Carlas Beben heftiger wurde. Auch Marie lief ein kalter Schauer den Rücken herunter.

»Süße, ganz ruhig. Warte einen Moment«, sagte sie und strich ihr dabei sanft über den Rücken, während sie mit der anderen Hand nach dem Handy in der Handtasche nestelte. Hektisch wählte sie Karls Nummer.

»Schatz, was ist passiert?«, fragte Marie.

Die eben noch so glücklichen Augen von Carla schauten Marie nun ängstlich an.

Obwohl auch Marie sich Sorgen machte, gab sie sich Mühe, äußerlich Ruhe zu bewahren. Ihrer hochschwangeren Schwester zuliebe durfte sie nicht panisch werden. Marie schaltete den Lautsprecher ein, damit Carla mithören konnte.

»Zum Glück saßen wir gerade zusammen, als es passierte. Julius stand auf und wollte sich einen Kaffee holen und plötzlich lag er da. Schon als der Notarzt eintraf, war Julius wieder wach. Äußerlich geht es ihm auch erst mal wieder gut. Die Ärzte gehen davon aus, dass es wieder der Kreislauf war. Aber ich denke, er wird zur Beobachtung hierbleiben. Bist du noch mit Carla zusammen?«, fragte Karl.

»Ja, bin ich. Wir kommen sofort!«, sagte Marie hastig.

»Nein, bitte erst mal nicht«, bat Karl zum Entsetzen beider Frauen, schob aber direkt eine Erklärung hinterher.

»Hier herrscht aktuell Chaos. Einige Patienten liegen schon in ihren Betten auf dem Gang. Von Übelkeit bis hin zu Durchfällen ist alles hier vertreten. Julius selbst sagt, er möchte nicht, dass Carla hierherkommt. Noch nicht jedenfalls. Nicht auszudenken, wenn sie sich mit irgendwas ansteckt«, sagte Karl.

»Verstehe. Also wird Julius jetzt noch untersucht?«, fragte Marie.

»Genau. Er bekommt erst mal einige stärkende Infusionen, damit er wieder zu Kräften kommt. Ich melde mich am besten, wenn es was Neues gibt. Wie es aussieht, ist es aber eine reine Vorsichtsmaßnahme, dass er noch hierbleibt«, erklärte er. Mit Karl an seiner Seite war Julius bestens aufgehoben. Für Marie galt es, sich jetzt um Carla zu kümmern.

»Alles klar, mein Schatz! Gut, dass du so schnell reagiert hast«, lobte Marie Karl.

Sie verabschiedeten sich und Carla starrte ihre Schwester an. Marie griff nach ihrer Hand.

Carla stand vollkommen neben sich, noch nicht einmal, als sie registrierte, dass sie gerade nicht zu Julius fahren würden, regte sich ihr Gesichtsausdruck.

Marie legte den Arm um Carlas Schultern und strich ihrer Schwester beruhigend über den Rücken.

Mit einem Mal krampfte Carla in Maries Arm zusammen und stieß dabei einen spitzen Schrei aus. Dabei krümmte sie sich und hielt sich ihren Bauch.

»Carla!«, rief Marie aufgeregt, sprang auf und kniete sich zu ihrer Schwester. Ihr Puls raste.

»Ruf einen Arzt!«, presste Carla angestrengt hervor und wie elektrisiert griff Marie erneut nach ihrem Handy und wählte den Notruf.

Während der Ruf herausging, hielt Marie Carlas Hand ununterbrochen. Sachlich beantwortete sie einige Fragen und schilderte die Situation.

Im Café war eine Frau sofort zu ihnen geeilt. Sie half Carla, sich auf eine Bank zu legen, und die Beine hoch zu lagern. Dann legte sie ihr ein nasses Tuch, welches ihr eine Kellnerin reichte, auf die Stirn. Die andere Hand hielt Carlas Hand, die diese fest umklammerte. Die Frau schaute Marie lächelnd an.

»Hi, ich bin Ebba Jansen. Ich bin Hebamme. Ich hab' Ihrer Schwester schon einmal ein wenig geholfen. Es geht ihr schon besser. Ich denke, das Baby macht sich noch nicht auf den Weg«, erklärte sie mit einem Augenzwinkern. Ebba Jansen wirkte unaufgeregt, als bestünde kein ernsthafter Grund zur Sorge.

»Hebamme? Was für ein Glück. Und sie sind sich sicher?« Marie war dennoch nervös.

»Also, wenn ich mich irre, dann helfen Sie mir doch dabei, ihre Nichte oder ihren Neffen auf die Welt zu bringen, oder?«, sagte die Hebamme mit hochgezogenen Schultern und grinste amüsiert. Marie hob panisch die Augenbrauen und stieß hörbar Luft durch die Lippen aus.

In dieser Sekunde schrie Carla erneut auf und Ebba Jansen zuckte zusammen. Marie wurde kreidebleich.

»Carla, der Arzt ist gleich hier. Alles wird gut, ich bin bei dir und Frau Jansen auch«, sprach Marie leise mit ihrer Schwester und streichelte ihr über ihre vor Aufregung ganz heiße Wange.

»Ich will nicht hier mein Baby bekommen«, presste Carla mühsam hervor. Ebba schüttelte zur allgemeinen Beruhigung den Kopf.

»Keine Sorge, so schnell geht das meistens nicht«, stellte sie trocken fest. Sie gab mit einem beschwichtigenden Nicken zu verstehen, dass sie nicht mit einer baldigen Geburt zu rechnen hatten.

Der Krankenwagen fuhr vor und zwei Sanitäter eilten herbei und kümmerten sich um Carla. Im Café war es mucksmäuschenstill. Mit ihrer Sorge, das Baby käme direkt vor diesem Publikum zur Welt, war Marie augenscheinlich nicht allein. Auch die verunsicherten Blicke der anderen Cafébesucher wirkten, als fürchteten sie, kurzfristig als Geburtshelfer fungieren zu müssen.

»Was hat sie? Ist was mit dem Baby?«, fragte Marie den Mann, der sich als Arzt herausstellte, mit einem Zittern in der Stimme.

»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich denke, das waren erste Wehen. Das kann schon mal sein, ohne dass gleich die Geburt startet. Gleichzeitig hat der Kreislauf versagt. Wir bringen ihre Freundin sicherheitshalber zur Kontrolle ins Krankenhaus«, erklärte der Arzt.

»Darf ich mitfahren? Ich bin ihre Schwester«, bat Marie ihn flehend. Er nickte tonlos, während beide mit Carla auf der Trage aus der Tür fuhren.

»Fahren Sie ins Clementinenhaus?«, rief Ebba Janssen ihnen noch hinterher und der Sanitäter bejahte dies.


Als sie endlich im Krankenhaus ankamen, nahm sie die Hebamme bereits in Empfang.

»Zufall, dass ich grad auf einen Feierabend-Tee noch in der Nähe war«, erklärte sie und lächelte. »Ich arbeite hier«, erklärte Ebba Marie, während sie den ankommenden Rettungswagen in Empfang nahm.

»Frau Lewalder, geht es Ihnen besser?«, erkundigte Ebba sich nach dem Befinden von Carla. Diese nickte schwach. Als sie erneut mit ernster Miene fragte, ob jetzt das Baby käme, musste Ebba schmunzeln.

»Ich fürchte, Sie müssen sich noch ein wenig gedulden. Lassen Sie uns noch einen Ultraschall machen, dann wissen wir mehr. Aber noch sieht das nur nach ein paar Übungswehen und einem maladen Kreislauf aus«, stellte Ebba fest.

Im Ultraschall machten sie sich mit einer Ärztin gemeinsam ein Bild von dem Baby. Carla war erleichtert, als sie das pochende Herz sehen konnte und auf dem Bildschirm alles so wirkte wie bei den Kontrollterminen bei ihrer Frauenärztin. Ihre angespannten Gesichtszüge wichen einem sanften Lächeln und augenblicklich verspürte sie wieder eine große Zuversicht. Auch Marie atmete auf.
Beinahe hatten die Schwestern in all dem Trubel die Sorge um Julius vergessen, bis sie eine Nachricht von Karl erreichte.

»Julius bleibt zur Überwachung. Werte sind stabil, die Ärzte schließen etwas Ernsthaftes aus. Er schläft aber viel«, las Marie vor.

»Soll ich Karl irgendwas schreiben?«, überlegte sie laut.

Auch Carla war unsicher. »Ich habe Angst, dass Julius sich so sehr aufregt, dass ihm wieder etwas passiert«, fasste sie ihre Bedenken in Worte.

»Es ist ja wieder alles gut bei dir. Waren wohl wirklich der Kreislauf und ein allererster Eindruck der Wehen. Wollen wir erst mal abwarten?«, schlug Marie vor. Carla nickte zustimmend.

»Sie dürfen sogar wieder nach Hause. Allerdings wäre es mir ganz recht, wenn ich zur Kontrolle in den nächsten Tagen vorbeischauen könnte - oder haben Sie bereits eine Hebamme?«, bot sich Ebba an.

Carla schüttelte den Kopf. »Ich muss gestehen, so weit war ich noch nicht.«

»Na dann sollte das vielleicht so sein, dass wir uns begegnen. Es wäre eh schon längst allerhöchste Eisenbahn«, sagte die Hebamme und hob mahnend den Zeigefinger. »Ich stelle einen Brief für die Frauenärztin aus und dann können Sie erst mal wieder los. Meine Nummer lege ich dazu«, sagte sie.

»Danke!«, sagte Carla matt. Marie sah ihr an, dass sie nur noch schlafen wollte. »Ich glaube, ich bringe dich ganz schnell nach Hause«, schlug sie vor.

»Wäre ich nicht schwanger, wäre dies der Zeitpunkt für einen Abend mit Fastfood und Wein. Du kannst das gerne doppelt für mich übernehmen. Oder ich das Fastfood, du den Wein?«, scherzte Carla matt. Marie rief ein Taxi, das sie in Maries Wohnung brachte.

2. Kapitel


Als die beiden Schwestern in der Wohnung von Marie und Karl ankamen, baute Marie Carla ein kuscheliges Nest aus Kissen und Decken auf dem Sofa. Marie bereitete ihr eine zünftige Brotzeit zu und hoffte, ihre Schwester so von ihrer Sorge um das Baby und um ihren Mann abzulenken. Später würde eine heiße Honigmilch für zusätzliche Beruhigung sorgen.

Während Marie in der Küche werkelte, hatte Carla doch zum Telefon gegriffen und Julius angerufen, sich erkundigt, wie es ihm ging und ihm alles erzählt. Glücklicherweise hatte sie ja gleich Entwarnung geben können.

»Diese ständige Sorge um Julius macht mich noch ganz krank! Was ist, wenn er solch einen Zusammenbruch mal im Auto hat? Nicht auszudenken, was alles passieren kann!« Carla schüttelte verzweifelt den Kopf und vergrub ihr Gesicht in den Händen.

»Liebes, mal dir keine Horrorszenarien aus. Bestimmt kriegt dein kleiner Bauchzwerg das sonst mit. Lass uns warten, was die Ärzte morgen sagen, okay?«, schlug Marie vor. Carla nickte ergeben.

»Ruhe täte euch gut. Einfach mal ausspannen wäre das Beste für Julius und für dich«, fand Marie, als sie nachmittags zusammensaßen. »Hast du schon mal darüber nachgedacht, bevor das Baby kommt, nochmal nach Sylt zu reisen? Ihr habt ja noch rund zwei Monate Zeit als Paar. Diese Zeit kommt nie wieder. Das hat euch doch immer so gutgetan. Ich bin fest davon überzeugt, dass es das auch diesmal täte. Und Ärzte gibt's da im Notfall auch«, schlug Marie vor.

Carlas Blick verriet, dass auch sie schon daran gedacht hatte. Zaghaft lächelte sie und schaute versonnen auf die Tasse in ihren Händen.

»Da habe ich zweierlei Bedenken«, sagte sie dann.

»Die da wären?« Maries unbekümmerte Art übernahm sofort wieder. Einer Reise nach Sylt konnten kaum irgendwelche Bedenken entgegenstehen, fand sie.

»Erstens habe ich Sorge, dass auf der Fahrt was passiert. Klar, ich würde fahren. Aber was ist, wenn es Julius plötzlich wieder schlecht geht und wir mitten auf der Autobahn sind?«, überlegte Carla.

»Die Gefahr besteht natürlich, stimmt«, pflichtete Marie ihr bei.

»Und außerdem habe ich neulich einen Bericht darüber gelesen, dass man auf Sylt direkt keine Kinder mehr zur Welt bringen kann. Stell dir mal vor, es geht plötzlich auf der Insel los und der Zwerg macht sich auf den Weg. Was mache ich dann?« Jetzt war Carlas Blick mehr als besorgt.

»Da kann man keine Babys mehr bekommen?« Marie schaute ungläubig, beinahe empört.

»Na ja, jedenfalls nicht mehr im Krankenhaus. Das geht nur noch auf dem Festland«, klärte Carla sie auf.

»Hm«, stellte Marie fest. Hier fehlte auch Marie ein Plan B und damit ein überzeugendes Argument. Nachdenklich legte sie die Stirn in Falten und schwieg. Fürs Erste war das Gespräch über den Kurzurlaub auf Eis gelegt. Auch wenn es ja theoretisch noch ein paar Wochen dauern würde, bis das Baby zur Welt kommen sollte. Einen ersten Eindruck, wie schnell sich das womöglich ändern könnte, hatten sie ja heute bekommen.

»Jedenfalls drehe ich durch bei dem Gedanken, jetzt hier nur noch wie in Schockstarre zu hoffen, dass mein Körper entspannt weiter mein Baby ausbrütet«, stellte Carla zerknirscht fest. »Noch dazu habe ich dann viel zu viel Zeit, mir um Julius Sorgen zu machen.«

»Vieles kannst du für die Agentur doch weiterhin tun«, tröstete sie Marie. »Da wäre dir Jana sicher sogar sehr dankbar«, bemerkte sie. Jana hielt als Carlas Vertretung in der Agentur die Stellung.

»Weiß ich ja. Das werde ich auch! Und wenn ich vom Sofa aus zwischen Eis-Packungen und Rückenmassagen die Arbeit delegiere.« Carla grinste verschmitzt.

Nach einem Telefonat mit Julius, in dem er ihr mehrfach bestätigen musste, dass sie nicht mehr vorbeikommen sollte, zog Carla einen der Pullis von Karl an, den sie halbwegs über ihren schon kugelrunden Bauch ziehen konnte, und schlüpfte in eine Wohlfühlhose ihrer Schwester.

Der Abend war entspannt. Sie genossen noch Pizzen und schauten Fernsehen. Am Ende lehnte sich Carla wieder einmal erschöpft an Maries Schulter an.

Carla wollte erst einmal in der Wohnung von Marie und Karl bleiben.

»Wolltest du die Hebamme nicht anrufen?«, erinnerte Marie sie.

»Stimmt. Das mache ich am besten gleich mal«, überlegte Carla.

»Ebba Jansen, ja bitte?«, meldete sich die Hebamme bereits beim ersten Klingeln.

»Frau Jansen, hier ist Carla Lewalder, ich grüße sie«, entgegnete Carla.

»Frau Lewalder, wie schön, dass Sie anrufen!«, freute sich Ebba Jansen.

»Sie hatten freundlicherweise angeboten, mich besuchen zu kommen. Das Angebot würde ich wirklich gerne annehmen«, sagte Carla.

»Prima! Wie wäre es gleich morgen früh nach meiner Nachtschicht? Ab 9 Uhr bin ich frei«, schlug sie vor.

»Klasse! Wenn das für Sie trotz Nachtschicht in Ordnung ist? 9.30 Uhr?«, freute sich Carla.

»Ist eingetragen. Die Adresse vom Arztbericht stimmt?«, fragte die Hebamme.

»Oh, nein. Gut, dass Sie fragen. Ich bin ein paar Tage bei meiner Schwester, die auch im Café war. Luisenallee 10. Marie Rosati«, korrigierte Carla.

»Ist notiert. Ich freue mich, Sie wiederzusehen. Geht es Ihnen jetzt denn wieder gut?«, erkundigte sich Ebba nach Carlas Befinden.

»Dank meiner Schwester, die mir in ihrer Wohnung ein herrliches Lager aufgebaut hat, ist gerade alles wieder entspannt und ich bin beschwerdefrei«, sagte Carla und lächelte Marie dankbar zu.

»Das freut mich, zu hören. Dann sehen wir uns morgen! Bis dahin!«, verabschiedete sich die Hebamme. Carla lehnte sich zurück und schloss für ein paar Sekunden die Augen.

»Bist du müde?«, fragte Marie, als sie den erschöpften Gesichtsausdruck ihrer Schwester bemerkte. Diese nickte. »Ganz ehrlich, ja! Ich möchte eigentlich gerade einfach nur schlafen«, gestand sie und hievte ihren erschöpften Körper schwerfällig vom Sofa. Marie reichte ihr die Hand, um ihr hoch zu helfen. Seufzend tapste Carla in Richtung Flur und bog ab ins Badezimmer.